Kapitel 14;2 - Kind des Bogens
In diesem Teil der Stadt war sie noch nie.
Nordwestlich, direkt an der Stadtmauer befand sich das Anwesen. Der Vorgarten reichte bis an die Straße heran; wurde nur noch getrennt durch Mauern. Durch die mit Eisengittern versehenen Fenster konnte man bereits von außen auf den prunkvollen Hof der Familie blicken.
Dieser Platz war jedoch kein Viertel für die Reichen; stattdessen mutete es wie ein alltägliches Bürgerviertel an, in welchem man dieses teure Anwesen lediglich hineingebaut hatte. Dieser Ort erinnerte sie auf skurrile Weise an eines der Bücher, die sie als Kind besessen hatte. Die Ornamente, die die Seiten geziert hatten, glichen dem Aussehen dieses Ortes. Auch hier hingen silbrige Blätter über die Straße. Wasserspiele plätscherten hinter dem Zaun des Anwesens und in der Ferne hallten die üblichen Laute einer Schmiede.
Hier schien alles eine Einheit zu bilden: Das Beige der Fassade spiegelte sich selbst in den Pflanzen wider.
Dolunay bewegte sich einen Schotterpfad entlang, betrachtete die Spielzeuge, die an den Seiten auf den Grasflächen lagen. Direkt daneben einige tropische Bäume mit goldgelben Früchten, Sitzflächen, ein kleines Gartenhaus, das in keinem Fall wie ein normaler Schuppen anmutete.
Als würde selbst die Sonne diesen einschlagenden Eindruck unterstreichen wollen, fiel das Licht des späten Abends direkt auf den Hof und tauchte alles in einen warmen Schein. Die Hitze spiegelte sich in den Fenstern wider und vor ihr schien die Luft bereits sichtbar zu werden — die letzten Strahlen des Tages verloren sich vor ihren Augen.
Dolunay öffnete die Türen zum Anwesen, wurde begrüßt von einer feinen Halle. Es war ein leerer Raum; eine Treppe, die sich im Hintergrund aufwärts schlängelte und ein Tisch mitsamt einigen feinen, gepolsterten Sesseln.
Auf einem von ihnen hatte sich ein Mann eingefunden. Seine Frau stand einige Schritte entfernt, drehte ein Weinglas in der Hand und betrachtete ein Bouquet. Und doch bemerkte sie Dolunay zuerst, drehte den Kopf zu ihr und begrüßte sie förmlich: »Ach, guten Abend.«
Die beiden hatten bereits auf sie gewartet, wie es aussah.
Sie trat näher an den Tisch heran und senkte den Kopf ein wenig. »Guten Abend. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.«
Als der Mann zu stumpfen Begrüßungsworten fand, zurrte Dolunay an ihrer Kleidung — ein feines Kleid, wie sie es nie tragen würde. Im Gegensatz zu den lockeren, weiten Stoffen und Schleiern fühlte es sich fast schon falsch auf ihrer Haut an. In eine solche Kleidung gehörte sie nicht.
Nach einer einladenden Geste ließen sich auch die beiden Damen auf den Sesseln nieder. Die Aart saß beiden gegenüber. Sie musste die Augen zusammenkneifen — wurde geblendet von zwei leuchtenden Kugeln, deren Strahlen sie nicht entgehen konnte.
Die Hausherrin begann zu sprechen: »Ich hoffe doch, dass Sie gut bei uns angekommen sind.«
»Ich muss gestehen, ich war noch nie in diesem Teil der Stadt. Es war eine Umorientierung nötig. Nichtsdestotrotz konnte ich sicher zu Ihnen finden.«
Der Mann setzte ein Lächeln auf, das seine Augen kaltließ. »Das freut uns« Er legte seine Hände gefaltet auf den Tisch. »Aber lassen Sie uns zum Wesentlichen kommen. Möchten Sie sich einmal bitte vorstellen?«
Als hätte Harding ihnen nicht alle Informationen zukommen lassen, antwortete sie. »Ich heiße Dolunay; in Brus wurde mir der Nachname Tindol gegeben. Ich lebe seit meinem zwanzigsten Lebensjahr hier und habe mich durch mehrere diverse Arbeitsstellen beschäftigt gehalten.«
»Es ist, verzeihen Sie mir meine Ausdrucksweise, ungewöhnlich, dass eine Aart wie Sie einen nicht-künstlerischen Beruf anstrebt... wenn Sie verstehen.«
Sie grinste Verlegen — ein Ausdruck, der sich gänzlich falsch anfühlte — doch sie behielt die Miene bei. »Ja, das höre ich tatsächlich öfter. Kunst und Musik lagen mir aber tatsächlich nie. Das ist auch der Grund, weshalb ich ursprünglich hierhergekommen bin.«
»Und wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Über zwanzig Jahre. Ich habe daher viele Erfahrungen sammeln können.«
»Und was genau hat Ihnen den Impuls dazu gegeben, dass sie als Haushälterin für uns arbeiten wollen? Haben Sie damit schon Erfahrungen gesammelt?«
»Selbstverständlich«, log sie. »Ich habe zeitweise bei mehreren Haushalten ausgeholfen, mich größtenteils um die Kinder dort gekümmert. Zumindest solange, bis sie zu alt für diese Art der Pflege wurden.«
»Ach ja, nun, unsere Kleinen werden so schnell nicht selbstständig werden.« Er griff zu dem Glas seiner Frau, um ebenfalls einen kleinen Schluck zu trinken. »Sie sind sich der Regeln bewusst, die uns von anderen Haushalten unterscheiden? Sie wissen, woran Sie sich halten müssen?« Der Mann füllte das Glas nach — sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.
»Ich bin mir durchaus bewusst, dass alles, was hier passiert, der Geheimhaltung unterliegt.«
»Also können wir Ihnen vertrauen?«
»Ich bin eine Aart. Ich bin es gewohnt, gewisse Angelegenheiten für mich zu behalten.«
Die Frau nickte. Sie spielte mit der Kette um ihren Hals. »Stimmt. Die Aart sprechen nicht über ihre Religion und Heimat.«
Ihr Mann fuhr mit den Fragen fort: »Dann frage ich mal so geradeheraus, Frau Tindol. Sie haben schon Erfahrungen gemacht mit alldem... Gibt es gewisse Aktivitäten, die Sie nicht im Haushalt tun können? Wissen Sie im Allgemeinen, was wir von Ihnen verlangen?«
Dolunay erinnerte sich an die Liste, wo all ihre Aufgaben niedergeschrieben standen. Wo sich zusätzlich der Stichpunkt fand, dass sie auf Kinder aufpassen müsste. Wenn sie ehrlich war: sie hatte keinerlei Erfahrungen. Selbstverständlich konnte sie ein Haus sauberhalten, sich um Kinder kümmern, notdürftig auch einige Dokumente sortieren, wenn sie es müsste... Aber auf dem Niveau, wie man es von einer Dienstkraft erwartete?
Was hatte Harding sich dabei gedacht, sie zu fragen?
Die Aart beschäftigten nicht einmal Angestellte — selbst Könige waren zu stolz dafür.
»Nun, ich nehme an, dass«, sie stockte. »Kochen würde ein Problem werden. Ich beherrsche nur vegetarische Küche.«
»Dessen sind wir uns bewusst. Aber ums Kochen müssen Sie sich im Regelfall keine Sorgen machen. Wir haben einen Koch.«
Dolunay musste sich ein Seufzen verkneifen — nicht aus Erleichterung, sondern aus Anstrengung. »Alles andere sollte kein Problem für mich darstellen. Ich bin sehr ordentlich, vorsichtig und geschickt.« Sie wollte gerade aufzählen, dass sie wusste, welche Aufgaben auf sie zukamen, da fiel ihr Blick auf die leuchtenden Kugeln. In unruhigem Rhythmus fiel immer wieder das Licht aus. Für kurze Zeit wurde der Raum gar gänzlich in Dunkelheit getaucht. Lediglich das Sonnenlicht strahlte noch in den Raum hinein.
Der Mann drehte sich auf dem Sessel herum, um das Geschehen zu betrachten, das Dolunay längst bedrückte. Er brummte missmutig. »Wie ich sehe, gibt es wieder einige Probleme.«
»Wieder?«, hakte Dolunay nach. »Es kam bereits häufiger vor?«
Die Frau kicherte schüchtern. »Ich hoffe, das schreckt Sie nicht ab. Das hat nichts zu heißen.«
Sie verkrampfte sich, doch erwiderte dann: »Ach was, nein, mich kann nichts davon abbringen, bei Ihnen arbeiten zu wollen.«
Es war, als wäre Dolunay von einer selbstbewussten Kämpferin zu einem Tier geworden, das sich entgegen des harten Ausdrucks auf den Zügen des Mannes bei ihnen anbiederte, um ihre Füße schwänzelte und alles schönredete. Es war eine sinnlose Bemühung, die sich schlichtweg falsch anfühlte.
»Sie scheinen sehr engagiert und bemüht zu sein, bei uns-« Das Licht fiel ein weiteres Mal gänzlich aus — ging nicht wieder an.
Er seufzte. »Ich werde uns mal Kerzen besorgen.«
Dann ein greller Schrei. Aus der Ferne hallte die Stimme, riss in dem Laut. Es polterte, dann erste klare Worte: »Raus, raus, raus! Sie sind hier drin!«
»Was? Was, wer?«, hauchte die Frau, zog sich am Arm ihres Gatten hoch.
»Diese Monster! Oh, bei den Göttern, bitte hab Erbarmen!« Die Stimme kam näher. Schlussendlich schlitterte ein Dienstmädchen um die Ecke, starrte sie mit einem Ausdruck tiefsten Horrors an. »Die Welt geht unter! Raus ans Licht!«
Dolunay setzte sich in Bewegung. Ihr Herz polterte bei jedem Schritt und schnürte ihr die Luft ab. Es fühlte sich an, als würde sie laufen — ihre Lunge rebellierte und doch war jede Regung wie eingefroren. Sie griff nach dem Dolch, tastete sich unter die Schichten des Stoffes zu ihm heran.
»Die Mädchen«, raunte die Hausherrin, im selben Moment als sie sich umdrehte, um die Treppe zu nehmen.
Ihr Ehemann schob sie weg, zur Tür hin, bewegte sich an ihrer Stelle die Stufen aufwärts. »Ich hol sie.«
Ein lautes Schaben, ein Laut, der durch Mark und Bein ging. Dann drehte Dolunay sich um. In der Richtung, aus der auch das Mädchen gekommen war, stand eine pechschwarze Kreatur. Wie aus Nebel geschaffen, verlor sie sich in der Dunkelheit. Keine feste Form, kein Körper, keine Augen... Nur ein Mund mit scharfen Zähnen, der offenstand.
Das Monster kreischte, stürmte in ihre Richtung.
Die Frauen preschten zur Tür, hinaus ins Licht.
Ein letztes Mal, kurz bevor sie den Durchgang schloss, drehte Dolunay sich um, sah, wie das Wesen unmittelbar in das Sonnenlicht rannte und... sich auflöste.
Sie starrte auf das Holz der Tür, atmete durch, verarbeitete, was sie soeben gesehen hatte, wie es verschwunden war. Hatte sie sich all das nur eingebildet?
Ihr eigener Schreck verflog nur langsam, dann erst erkannte sie, dass Menschen überall auf der Straße schrien. Sie hatten sich in die letzten Strahlen der Sonne gestellt und drängten sich eng aneinander.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte die Frau. »Das-das hatten wir noch nie. Was ist das.« Sie sah Dolunay an, als wisse diese eine Antwort.
Stattdessen sprach das Dienstmädchen. »Ich hab Angst. Wir müssen ins Licht. Ich.« Sie würgte, hielt sich das Herz, lehnte sich zurück.
Doch die Aart packte sie am Arm, zog sie vom Gelände herunter auf die offene Straße, führte sie durch die Masse an Menschen.
»Wo gehen wir denn hin?«
»In das Licht, wie die anderen auch.« Dolunay blieb vor der Mauer stehen.
Hatte die Grenze wieder versagt? Fiel die dunkle Straße gerade in ewige Dunkelheit? Wurde alles bereits jetzt von Monstern heimgesucht? War dies der Grund, dass jetzt aus jedem Schatten in Brus diese Kreaturen stiegen?
»Es wird dunkel. Wenn bis dahin die Lichter nicht angehen-«
Sie hörte nicht zu, stattdessen fixierte sie sich auf die anderen. Doch auch die umstehenden Menschen führten ähnliche Gespräche — manche mehr, einige weniger optimistisch.
Während ihr Blick durch die Masse raste, fiel ihr besonders ein Gesicht auf: Chase Harding. Der Mann machte ihr mit einer Geste klar, was sie längst befürchtet hatte: Das lässt sich nicht so schnell reparieren.
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