Kapitel 12;2 - Wolken aus Antworten
Die Kälte des Regierungsgebäudes legte sich wie eine zweite Haut auf Rhun aus. Die Fenster waren geöffnet, von außerhalb traten gedämpft Gesprächen an ihn heran.
Im Inneren war fast niemand mehr. Die meisten wurden von der Mittagspause herausgelockt; die Gänge fielen dementsprechend in Leere. Jeder Schritt hallte auf dem Boden, als er zur Seite einschwenkte.
Ein Bogen nach dem anderen hatte sich durch die Wände geschlagen, führte in Räume zu den Seiten.
Das ansehnliche Gebäude verlor sich in gefährlicher Atmosphäre.
Die Leibwächter hatten den Wissenschaftler in den Keller gebracht. Unter dem Regierungsgebäude -- wie auch dem Gerichtsplatz — waren kleinere Zellen versteckt, in denen Gefangene sich aufhielten und ohne Umstände befragt werden konnten.
Der Kontrast zu den hellen, strahlend weißen Gängen war bedrückend. Hinter einer Schwelle endeten die Fliesen und wurden abgelöst von grobem Gestein. Es war keine Treppe, die hinunterführte — so würde kein Architekt sie bezeichnen. Es war vielmehr eine kantige Anordnung von Hindernissen; hineingehauen in den Boden und unbeschreiblich anstrengend zu besteigen.
Hier leuchteten keine künstlichen Lichtkugeln mehr, sondern das unstete Licht von Fackeln, das durch Rhuns Bewegung aufgeschreckt wurde. Als wissen die Flammen, dass er sich nun zu einem Gefangenen — einem Straftäter — bewegen wollte, schlugen sie nach hinten; nahmen Abstand von ihm.
Einige Wachmänner beachteten ihn für einen Augenblick, ließen ihn hingegen passieren. Solange, bis er einen letzten Wachmann, unmittelbar vor dem Beginn der Zellen, passierte. Dieser sprach ihn unvermittelt an: »Bitte vergeben Sie mir, Ihnen das mitteilen zu müssen, Veu. Sie dürfen dieses Gebiet nicht betreten.«
»Ich muss mit dem Gefangenen reden.«
»Ich befürchte, das darf-«
Rhun blieb ruhig, verharrte, wo er stand. »Ich benötige lediglich Ihren Schlüssel und Ihre Brosche, um unauffällig wieder hinauszugelangen, im Fall der Fälle.« Er fasste unter seinen Mantel, holte ein Bündel Münzen hervor. »Kann ich«, begann er und zog an dem Lederriemen, der das Säckchen zusammenhielt. »Mich darauf verlassen, dass Sie sich zu dem Gespräch nicht äußern werden?« Er wippte auf die Fersen zurück, der verlockende Klang seiner Stimme verschwand. »Sie werden gehängt, wenn man erfährt, dass Sie mich haben passieren lassen. Ich habe lediglich einige Maßnahmen zu ertragen.« Rhun hielt das Geld mit einer Hand hoch. »Hm?«
»Wie viel«, brummte der Leibwächter.
»Einhundertzwanzig.«
»Einhundertsiebzig«, begann der Wächter eine Verhandlung.
Rhun brummte. »Einhundertzwanzig.«
Der Herr zog die Augenbrauen zusammen.
Rhun fügte hinzu: »Ich kann auch zu Ihrem Offizier gehen und ihm erzählen, dass Sie bestechlich sind.«
»Einhundertvierzig.« Der Wachmann entfernte die Schlüssel von seinem Gürtel, gemeinsam mit der Brosche, die seinen Revers zu klobig ausgefüllt hatte.
»Einhundertzwanzig. Nicht mehr. Deine Frau wird mir danken.« Rhun warf ihm den Beutel zu, nahm die beiden silbrigen Objekte im Austausch entgegen und ließ sich dann vom dämmrigen Licht fressen, das an den Zellen auslag. Er wandte sich nicht nochmal um.
Die Gefängnisse zu seinen Seiten waren leer gelassen; in einigen wurden Fässer und Kisten gestapelt. Ein Eisentor stand gänzlich auf, da dahinter Tisch und Stühle für die Wachmänner aufgestellt waren. Es wurde wohl als eine andere Räumlichkeit von ihnen verwendet.
Direkt zentral vom Gang brannte Licht. Ausschließlich eine Zelle war in Benutzung. Zwei Pritschen, ein runder bodennaher Tisch, ein Eimer in der Ecke. Ansonsten nur noch ein Krug Wasser und zwei Gestalten. Eine hatte Rhun den Rücken zugekehrt, lag unter der eingeklappten Pritsche...
Und die andere Person war Kellen.
Der Wissenschaftler hob den Blick, um Rhun anzusehen. »Was? Wollt ihr jetzt das selbe auch mit mir anstellen?«
Sein Blick wurde zu dem anderen Mann gelenkt. Der schaute mit vor Schreck aufgerissenen Augen in seine Richtung. Schief lag ihm die Nase auf dem Gesicht, die Finger standen in schaurigen Winkeln von seiner Hand ab.
Die Haut überzogen mit Blut, Schnitten, Brandwunden... Er war gefoltert worden. Und der wahnsinnige Ausdruck zeugte von der Angst, dass man ihn wieder anfassen könnte.
»Grotesk«, murmelte Rhun.
Kellen hatte seine eigenen Finger missmutig unter seine Achsel geklemmt.
Doch der Cruor ließ sich nicht beirren, betrat die kleine Zelle, in der es unerträglich nach Urin und Erbrochenem stank.
Die Tür quietschte bei jeder Bewegung. Wie in einem Käfig, von Bestien umgeben, kam er sich vor.
Doch in ihren Augen war er die Bestie. Ein ausgewogenes Verhältnis gegenseitiger Zwietracht.
»Die Herren«, begann er, stellte sich vor sie. Niemand machte Anstalten sich hinzustellen. Stattdessen starrten sie ihn an — Hass im Blick.
»Was«, fauchte Kellen. »Ich habe keine Zeit für falsche Freundlichkeiten und selbstsüchtige Angebote.«
»Ich werde aufrichtig mit Ihnen sein — erwarte selbes im Gegensatz.« Er trat einen Schritt voran, beäugte den anderen Mann, der von seiner Folter noch immer zitterte. Kellen schien ihm bereits seine Jacke gegeben zu haben.
Rhun seufzte. »Ihr solltet lieber offen mit den Anderen sprechen, denn das müsst ihr so oder so irgendwann. Aber deswegen bin ich nicht hier.«
»Was verschafft uns dann die Ehre?«
»Ich wünsche etwas von Ihnen.«
Er trat näher an die Wand heran, an der der andere Junge saß. Er zog sich wimmernd zusammen. Rhun beachtete ihn dabei halbherzig, bemerkte, wie sein Hals sich verfärbt hatte und eine Wunde tief in seinen Nacken hineinschnitt. Handgelenke, Fußgelenke: alles wund und blutig.
Es war noch ein halbes Kind, das da vor ihm saß. Neunzehn, würde er ihn schätzen. Aknenarben verunstalteten sein Gesicht, die Züge darunter waren jung.
»Ich«, begann Rhun; musste wieder zu Kellen sehen, um seine Gedanken ordnen zu können.
Der hatte den Kopf an die Wand gelehnt, die Hände mittlerweile vor sich ausgestreckt.
»Es tut mir Leid«, hauchte Rhun schließlich. Es war ihm entwichen, wie ein Seufzen. Und er dachte erst darüber nach, als der Wissenschaftler die Augenbraue hob, die von seinem Gesicht noch zu sehen war.
Die andere Hälfte war noch immer von der Maske bedeckt — nein, keine Maske, die hätte man ihm abgenommen. Das Metallgerüst nahm sein Gesicht ein... Sie war sein Gesicht.
»Was? Das war's?«, fragte Kellen schließlich. Sein Oberkörper schnellte nach vorne. Er deutete auf den Jugendlichen in der Ecke. »Die haben den gefoltert. Gefoltert! Weil er zu ihnen gegangen ist und ehrlich gesagt hat, dass da eine Bombe ist. Weil er etwas Gutes tun wollte.« Er fletschte beim Sprechen die Zähne. »Ihr könntet tot sein. Du könntest tot sein. Und was tut ihr zum Dank?!«
»Ich habe damit nichts zu tun.«
»Ich auch nicht. Ich habe niemanden dazu animiert, diese Bombe zu legen. Was willst du hier, Cruor? Willst du mir die Augen rausreißen? Dieses eine Auge, das ich noch habe? Willst du mir die Kehle aufschlitzen?«
»Es wird kein Blut fließen. Weder meines-«
»In den Venen von Cruoren fließt kein Blut. Da fließt purer, blanker Hass.«
Der Mann in der Ecke fing wieder an zu weinen und Rhun wünschte sich, er könnte es auch... Schlichtweg irgendetwas tun, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Nun, wo er so in dieser Zelle stand, hatte sich sein eigenes Anliegen aufgelöst im schwachen Licht der Kerzen. »Ich werde euch nichts tun.«
»Was willst du dann hier? Sicherlich dich nicht nur entschuldigen. Ihr seid immer nur dann da, wenn ihr was wollt.«
»Ich habe-« Er inhalierte zittrig die Luft. »Fragen.«
»Die Antwort lautet nein.«
Rhun setzte dazu an, sich hinzusetzen, doch entschied sich, stehenzubleiben. »Es ist ein... argwöhnisches Anliegen.« Seine Schritte waren schleichend, als er sich zu Kellen bewegte. »Sag mir, was du weißt.«
»Worüber?«, fragte dieser — weniger wie eine Einwilligung, mehr wie eine unterdrückte Beschwerde.
»Darüber, was du über die Formwandler weißt. Über die Experimente, den Lichtausfall an der Grenze. Den Gedankenhandel. Alles, was in der Stadt passiert. Ich benötige diese Informationen. Ich muss es wissen.«
Kellen lachte trocken auf. »Ach, ich seh schon, du sollst herausfinden, wie viel ich weiß.« Kellen streckte sich nach oben, drückte den Rücken durch, um ihn direkt anzusehen. »Fahr zur tiefsten Hölle.«
»Nein«, war Rhuns Antwort. »Mich hat niemand geschickt. Ich weiß selbst nichts von alldem. Von nichts. Niemand weiht mich ein.« Rückwärts gehend, spähte er durch die Gitter, ging sicher, dass niemand sie vom Gang belauschte.
Kellen verzog den Mund in einem Schmollen, quengelte sarkastisch: »Ach, die erzählen dir nichts? Mit welcher Begründung denn?«
»Weil ich« Er wagte sich nicht, es auszusprechen. Er würde es nur den Informationen zu Liebe tun. Er würde nur dadurch vertrauensvoll wirken können. »Gefühle habe. Einige, zumindest.«
»Hm?« Dieses Mal klang die Reaktion nicht ironisch, nicht hart; sondern weich — ehrlich irritiert... Fast schon hohl. »Gefühle. Als-«
»Ja, ja wir reden nicht darüber.«
»Du willst mir sagen du hast Gefühle und-und« Er sah seinen Freund an, der unter der Pritsche lag. »Das ist dir egal?«
»Eben nicht. Daher gestatte ich euch für eure... Informationen folgendes Gegenangebot« Rhun griff in seine Manteltasche, holte ein kleines Messer heraus, warf es nach vorne, auf den Tisch, wo es zwischen den Holzdielen stecken blieb. »Entweder ihr verwendet es, um euch euren Weg herauszukämpfen... Oder ihr beendet euer Leid selbst. So oder so, ihr werdet es mir später danken.«
Kellen erfasste den Ernst der Lage. Seine Augen wurden weit, die Pupillen schmal. »Du Bastard«, flüsterte er. »Ihr verdammten Bastarde.« Er ließ sich nach hinten fallen, starrte auf das Messer. »Anstatt uns hier rauszuholen.«
»Ich kann es nicht. Ich darf es nicht. Ich darf nicht einmal hier sein.« Er hob die Brosche, die er von dem Wachmann erhalten hatte. »Ich bin hier, weil wir alle in einer misslichen Lage sitzen.«
»Wo, wo, bei den vier Höllen, ist deine Lage misslich?« Kellen erhob sich. »Wo ist deine Lage misslich?! Wir sitzen hier, mit der Aussicht auf Folter, auf Tod. Und du, du verdammt verwöhntes Ding, mit deinen ach- so-kleinen Gefühlen, willst einfach nur genau so viel wissen, wie deine Schulhof-Freunde!« Er sprang auf. »Du elendiges Schwein. Ich hoffe die Höllenfeuer fressen dich lebendig« Er stürmte vor, packte das Messer, stürzte sich auf Rhun.
Kaum konnte er ihn erreichen, packte dieser den kleinen Mann an den Handgelenken, hielt in an seiner Seite.
Kellen wehrte sich nicht. Die Klinge fiel zu Boden. Er fing an, verzweifelt zu werden.
Rhun schloss die Augen. »Es tut mir Leid. Ich sehe mal, was ich tun kann.«
»Ihr habt so viele Menschen getötet. Was seht ihr für eine Erfüllung in einfachen Aussagen. Ihr könntet mit jedem spielen. Du könntest-«
»Ich will euch aber nicht foltern. Ich will Informationen. Macht mich das nicht zu einer besseren Person? Möchtest du mir dafür denn nicht helfen?«
Kellen ließ sich auf den Boden fallen, sah ihn von unten an, ohne zum Messer zu greifen. Er blickte zu seinem Freund.
Der nickte unsicher. »Nimm das Messer. Bitte.«
Der Wissenschaftler versteckte sein Gesicht, lehnte sich auf den Knien nach vorne, machte sich zu einer Kugel. »Was willst du wissen?«
»Alles.«
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