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Zu viele Jahre ist der Streit zwischen mir und Valeria nun bereits her. Eine Zeit, in der ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich mich wirklich weiter von ihr fernhalten sollte oder ob es nicht doch besser wäre, wenn ich so viel Abstand zwischen uns bringe wie nur möglich.
Und für was ich letztendlich entschieden habe?
Anfangs habe ich meine Nächte bei Anna und Vincenco verbracht. Sie haben verstanden warum ich nicht nach Hause gehen wollte und konnte, daher war Vincenco so nett und hat für mich einiges meiner Sachen von dort zusammengepackt und hierher gebracht.
Man könnte jetzt meinen ich wäre feige oder schwach. Aber ich weiss nicht wie ich reagieren würde, würde ich sie sehen.
Würde ich zusammenbrechen, weil ihre Worte wieder auf mich einprasseln würden oder würde ich meine Beherrschung endgültig verlieren und auf meine eigene Schwester losgehen?
Da ich nichts riskieren wollte, weil sie immer noch meine Schwester ist, bin ich auf Abstand gegangen.
Wir vermeiden es außerdem über sie zu reden, wofür ich ihnen dankbar bin. Vincenco meinte zwar, dass er kurz mit ihr reden konnte, aber ich will nicht wissen, was sie gesagt hat. Sie hat mich so tief verletzt wie kein anderer und es wird lange brauchen bis es nur ansatzweise wieder verheilt ist.
In der Zeit, in welcher ich bei ihnen wohnte, habe ich natürlich ebenfalls meinen Beitrag geleistet. Da ich in der Lage bin in der Sonne zu laufen, worüber ich Marcel keine näheren Informationen gegeben habe, helfe ich tagsüber aus. Genügend Ware besorgen und alles, was nur tagsüber möglich ist. Marcel war in dieser Zeit sehr zuvorkommend und hat mir auch angeboten eine eigene Wohnung bereit zu stellen, was ich nach ein paar Wochen auch angenommen habe, da ich Anna und Vincenco nicht weiter zur Last fallen wollte.
Wenn ich nicht helfe kümmere ich mich oft um den kleinen Matteo oder helfe Anna weiter, was das Leben als Vampir betrifft. Ihren Blutdurst hat sie erstaunlicherweise schnell in den Griff bekommen, wodurch ich mit ihr ihre neuen Fähigkeiten verbessern konnte. Durch die Tatsache, dass sie ebenfalls kein Mensch mehr ist, habe ich das Gefühl, dass wir noch mehr zusammengeschweißt sind. Daher wunderte es mich nicht, als sie nach zehn Jahren mir vorgeschlagen hat wieder auf Reisen zu gehen.
Grade spiele ich mit dem kleinen Matteo, als Anna sich schweigend neben mich setzt. Als mein Blick zu ihr wandert sehe ich sie irritiert an. „Sophia, ich denke du solltest fort von Valencia gehen."
„Wie kommst du darauf?"
„Euer Streit ist jetzt nun schon so lange her und trotzdem merkt man dir noch an, dass es dich belastet. Reise, sehe Neues und lenke dich ab. Ich weiss nicht, was Valeria genau zu dir gesagt hat, aber du hast seitdem deine Unbeschwertheit verloren. Versuch wieder diesen Teil von dir zurück zu bekommen und komm dann zurück. Solange werden wir Matteo von seiner tollen Patentante erzählen, die irgendwann wiederkommen und sich unheimlich freuen wird ihn zu sehen."
Meine Sachen waren schnell gepackt und so stand ich am nächsten Tag am Hafen, wo ich auf das nächst beste Schiff gestiegen bin. Letztendlich bin ich in Amerika gelandet, ein riesiges Land, wo es allerhand an Städten zu erkunden gibt. Zu sagen, dass ich sie alle nicht vermissen würde, wäre gelogen, und dennoch habe ich gespürt, wie meiner Seele dieser Abstand etwas Frieden beschert hat.
Ein breites Lächeln hatte sich auf meinem Gesicht gebildet, denn der Wunsch Neues zu entdecken und zu lernen hatte mich gepackt. Seitdem bin ich hier und bereue es keinen Moment Anna's Rat zu befolgen. Dennoch freue ich mich auf den Tag, an dem ich die kleine Familie wiedersehe. Ein kleiner Teil von mir vielleicht sogar sie.
Denn obwohl ich dachte, ich wäre nach all der Zeit endlich geheilt, würde den Schmerz über seinen Verlust ertragen können, haben Valerias Worte haargenau bewiesen, dass ich nur über Jason hinweg gewesen bin. Und dass ausgerechnet sie diejenige sein würde, die das Messer in meinem Herzen noch tiefer versenken würde, hätte ich mir niemals ausgemalt.
In diesen Jahren war ich je ein Jahr in einer anderen Stadt. Ich wollte nie länger bleiben und hatte bisher auch keinerlei Gründe meinen Aufenthalt zu verlängern.
Natürlich gab es Männer, die um meine Gunst werben wollten, doch habe ich einfach das Interesse daran jemanden wirklich kennen zu lernen, verloren. Selbst viele Jahre später beeinflusst er mein Leben und wer weiß wie lange das anhalten wird. Wie ein Fluch, den er über mich gelegt und den ich nicht loswerden kann.
Momentan befinde ich mich in Chicago und plane bereits wohin es mich als nächstes ziehen wird. Hier herrscht tiefer Winter und der Schnee bleibt als schöne weiße Decke auf den Straßen liegen. Auch wenn ich eher ein Mensch der Sonne bin muss ich gestehen, dass dieser Anblick etwas an sich hat. Er wirkt beruhigend auf mich, ist eine Abwechslung und lässt mich nur selten an das denken, was mich in einem anderen Land erwartet.
Die englische Sprache beherrsche ich bereits fließend und ich muss sagen, dass ich mir vorstellen kann, dass sie mir auch außerhalb von Amerika gut nutzen wird. Ich habe gemerkt, dass es auf Reisen einen Vorteil mit sich bringt, wenn man der örtlichen Sprache mächtig ist, weshalb ich in den ersten Monaten in Amerika mich größtenteils damit beschäftigt habe ihre Sprache zu perfektionieren.
Ich wickle meinen dicken Mantel etwas enger um meinen Körper, schlängle mich durch die Massen der Menschen. Da die Sonne bereits untergegangen ist, befinden sich normalerweise weniger Menschen auf den Straßen, wenn momentan nicht ein Fest mitten auf dem Festplatz stattfinden würde. Plötzlich werde ich unerwartet am Arm gepackt und aus dieser gezogen werde. Protestierend versuche ich meinen Arm aus dem Griff des unbekannten Mannes zu ziehen, was mir nach kurzer Zeit auch gelingt, und spüre wie sich meine Augen verfärben wollen. Bis ich ein bekanntes Gesicht wahrnehme und sich die Wut in Verwirrung wandelt.
„Marcel? Was tust du hier?"
Ich sehe mich aus Reflex um, ob wir beobachtet werden, doch die Besucher scheinen völlig in den lauten Klängen der Musikanten versunken zu sein. Wortlos hält er mir seine Hand entgegen und ich nehme sie, lasse mich von ihm in eine der verlassenen dunklen Gassen führen. Den Schnee von meiner Kleidung geschüttelt widme ich mich wieder dem Mann, der eigentlich in Valencia sein sollte und nicht hier, mitten in Amerika. Und ausgerechnet in der selben Stadt wie ich. Da er mich weiter mit sich ziehen will, meine Geduld jedoch nicht groß gesponnen ist, löse ich mich von ihm und bleibe stehen. „Wo willst du hin? Ich will Antworten! Was tust du hier und wie hast du mich gefunden?"
„Ich werde dir alles erklären, aber komm erst einmal mit. Por favor."
Ich betrachte seine Augen, kann jedoch nichts anderes als Ehrlichkeit in ihnen erkennen, weshalb ich ihm durch die Gassen folge, bis wir an einer Kneipe stehen bleiben.
Höflich öffnet er mir die Tür, damit ich eintreten kann, und wir setzen uns an den nächsten freien Tisch. Es ist recht gut besucht, weshalb die Gespräche alle durcheinander verklingen, einem nicht die Möglichkeit geben genauer einer Konversation zu lauschen.
„Ich wiederhole mich nicht gerne, also ein letztes Mal: was tust du hier? Wie hast du mich gefunden!? Und müsstest du nicht in Spanien sein und dich um alles kümmern?"
Schmunzelnd antwortet er nicht bis eine Bedienstete kommt und er für uns Essen sowie Trinken bestellt. Dann verschränkt er seine Finger ineinander und betrachtet mich mit einem ernsten Ausdruck.
„Ich leite alles, denkst du, ich kann es mir nicht erlauben für eine gewisse Zeit zu verreisen?"
Einer seiner Mundwinkel hebt sich und wenn ich nicht dieses dumpfe Gefühl in mir spüren würde - Marcel wäre eindeutig ein Mann, dem ich nicht abgeneigt wäre. „Und was deine anderen Fragem betrifft: sagen wir es so, ich habe nach etwas gesucht und es gefunden."
Nun entsteht wieder sein Schmunzeln und mir ist sofort klar, dass er damit mich meint.
„Woher weißt du, dass ich hier hin?"
„Die Leute reden auf den Straßen und ich bin gelernt darin wichtige Informationen raus zu hören und sie zu bekommen, egal auf welchem Weg." Ein Schauer überkommt mich bei diesen Worten und wird durch den dunklen Hauch in seinen Augen verstärkt. Das Bestellte wird auf den Tisch gestellt und ich räuspere mich. „Nun, du hast mich gefunden. Und jetzt?"
„Ich bin hier um dich zurück zu holen, wo du hin gehörst. Nach Valencia."
Seine Stimme erlaubt keinerlei Widerspruch und das lässt die Wut in mir erneut aufflammen. Woher erlaubt dieser Mann es sich zu entscheiden wohin ich gehöre!?
„Wohin ich gehöre entscheide ganz allein ich. Und ich bin nicht ohne Grund gegangen."
„Dessen bin ich mir bewusst. Das ist auch einer der Gründe, wieso ich hier bin. Es geht um deine Schwester, weshalb ich hier bin." Meine Augen weiten sich, und ich weiß nicht wie ich darauf reagieren soll. „Warum?"
„Ich kann dir nicht sagen, an was es lag, oder warum wir es erst jetzt bemerkt haben. Wie es aussieht hat sie etwas zu sich genommen, was ihr Wesen beeinflusst hat. Es ist soweit ausgeartet, dass wir sie einsperren und sie ausbluten mussten. Es hat viel Geduld und Aushaltevermögen gebraucht, aber so langsam scheint sie wieder zu sich selbst zu kommen."
„Ihr habt was!?", knurre ich ihn an, versuche aber leise zu bleiben um unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Allein der Gedanke daran, was Valeria durchmachen musste...
„Nenne es wie du willst. Dabei hat sich aber herausgestellt, dass sie sich an die vergangenen Jahre nicht erinnern kann, zumindest nur teilweise. Sie ist gebrochen, Sophia."
Mit geweitetetn Augen sehe ich ihn sprachlos an. Wenn das wirklich der Wahrheit entsprechen sollte. Innerlich zieht sich etwas in mir zusammen, und ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen.
„Geht es ihr wieder gut? Wo ist sie jetzt?" frage ich mit leicht flehendem Unterton, da mir soeben bewusst wird, dass der Moment, in dem wir uns endgültig entzweit haben, ungefähr so lange her ist. Sie da bereits unter einer Manipulation stand, derer sie sich nicht einmal bewusst gewesen ist. Was hast du nur getan, Valeria?
„Sie lebt jetzt mit uns. Ich habe mich um sie gekümmert und es geht ihr wieder gut. Sie verbringt viel Zeit mit Anna und ihrem Sohn, aber seitdem sie wieder sie selbst zu sein scheint ist sie nur eine Hülle von sich selbst. Sobald man nur deine Namen erwähnt sieht man genau wie sie noch mehr zu versinken droht."
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich schiebe das Essen beiseite. Mir ist der Appetit vergangen und ich kann den Anblick des Essens nicht mehr ertragen.
„Wenn das alles stimmt, wieso bist du ausgerechnet nach Amerika gekommen und hast nicht jemanden in deinem Auftrag geschickt?"
„Die Gründe sollten dich nicht belangen, ich bin jetzt hier und werde dich mit zurücknehmen. Sie braucht dich, wenn du deine Schwester nicht verlieren wirst."
Seine Augen zeigen mir das, was er nicht weiter ausführt, dennoch spüre ich es in jeder Zelle in meinem Körper. Den Schmerz, die Trauer, die Vorwürfe, die sie sich gibt. Die war von uns beiden immer diejenige, die intensiver fühlt und versucht es allen recht zu machen. Deren Emotionen schnell außer Kontrolle geraten können.
Etwas überwältigt von den Informationen nicke ich einfach nur. Werde mir bewusst, was das bedeutet: ich kehre zurück.
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Am nächsten Abend machen wir uns auf den Weg zum Hafen von Chicago.
Dass es hier einen gibt war mir vorher gar nicht bewusst. Als hätte mich das Schicksal in diese Stadt geführt, damit ich auf dem schnellsten Weg nach Hause komme, zu meiner Schwester.
„Zerbreche dir nicht den Kopf um sie. Sie wird gut bei uns umsorgt und da sie von diesem Teufelszeug weggekommen ist geht es ihr an sich schon besser."
Wir stehen auf dem Steg, denn in Kürze wird ein Schiff Richtung Spanien absegeln. Natürlich mussten wir wieder darauf warten, dass die Sonne untergegangen ist, da er nunmal keinen Schutz besitzt, im Gegensatz zu mir.
Ich halte ihn an seinem Arm fest und lächle ihn an. Ein ehrliches, welches ich schon lange Zeit nicht mehr auf meinen Lippen trug.
„Ich möchte dir danken, Marcel. Bereits damals hatte ich das Gefühl, dass es nicht meine Schwester gewesen ist, die mir all diese Dinge an den Kopf geworfen hat. Und dank dir ist sie endlich wieder sie selbst, zumindest hoffe ich es. Ich schule dir dafür etwas."
Ein Grinsen bildet sich auf seinem Gesicht, doch nickt er mir nur zu.
„Nun komm, das Schiff legt bald ab. Wir haben eine lange Reise vor uns."
Mit den Worten zieht er mich weiter und meine Augen schweifen über das Meer, welches wir bald überqueren werden. Und so sehr ich dieses Gefühl verdrängen will, kann ich nicht verhindern, dass mein Lächeln sich ein Stück mehr hebt.
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