Kapitel 1
"Es ist uns unerklärlich, wie das Mädchen verschwinden konnte. Es wurde vor drei Tagen als 'vermisst' gemeldet. Seitdem wird überall nach ihr gesucht. Es wird vermutet, dass sie entführt worden sein könnte. Wenn Sie ein etwa siebzehnjähriges blondes Mädchen irgendwo sehen, achten Sie bitte auf ihre Kleidung. Am Tag der vermeintlichen Entführung trug sie eine Jeans, ein rosanes Top und eine schwarze Sweatjacke. Bitte wenden Sie sich umgehend an die Polizei, wenn dies der Fall sein sollte. Bla bla bla", las Mirka Wiegler ihrer besten Freundin Jenny Hansen vor.
Die beiden hatten Sommerferien. Und wir immer verbrachte Jenny die Ferien bei Mirka. Sie fühlte sich sehr wohl bei Mirka. Sie mochte Mirkas Familie. Ihren lieben, lustigen Opa, ihre fürsorgliche Oma, ihre witzige Schwester und ihre Eltern, obwohl sie oft und lange auf sehr wichtigen Geschäftsreisen waren. Und Mirka kannte sie schon seit Jahren. Sie waren schon lange befreundet. Deshalb war Jenny in den Ferien dort. Und gerade saßen sie auf Liegestühlen im Garten der Wieglers.
"Schon krass", kommentierte Jenny.
Mirka seufzte und faltete die Zeitung zusammen. "Ja. Super krass", bestätigte sie gedankenverloren.
Es entstand eine Pause, in der jede ihren Gedanken nachhing.
Dann sagte Jenny in die Stille hinein:"Und es ist wirklich hier bei uns in Hamburg passiert?"
"Klar. Steht doch unter dem Foto", sagte Mirka und deutete auf das Bild von dem entführten Mädchen.
Jenny sah sich im Garten um. "Schreckliche Vorstellung", meinte sie,"wenn jetzt hier so ein verrückter reingerannt käme und uns entführen würde."
"Hm...", machte Mirka.
"Dieses Mädchen tut mir richtig leid. Sie ist hübsch, oder?", sagte Jenny, die immer noch auf das Foto starrte.
"Hm...", machte Mirka erneut.
Plötzlich klingelte ein Handy.
"Ist das deins?", fragte Mirka.
"Nö", antwortete Jenny.
"Oh." Mirka holte schnell ihr Handy aus der Hosentasche. "Es ist Reka", stellte sie fest. "Was will die denn?"
Jenny guckte verwirrt und lauschte erwartungsvoll. Reka war Mirkas große Schwester. Sie war bereits dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Polizistin, weshalb Mirka sehr neidisch auf sie war.
"Reka?", meldete sich Mirka zu Wort. "Was gibt's?!"
Jenny versuchte zu hören, was Mirkas Schwester ihr erzählte. Doch so sehr sie sich auch darauf konzentrierte, sie verstand kein einziges Wort.
Und auf einmal veränderte sich Mirkas Miene. Auf dem zuvor fröhlichen Gesicht breitete sich Angst und Schrecken aus. Jenny fragte sich, was wohl passiert war und begann, sich Sorgen zu machen.
Dann sagte Mirka langsam und mit zittriger Stimme 'ciao' ins Handy und legte auf.
"Was ist los? Was wollte Reka?", fragte Jenny neugierig und aufgeregt.
Mit zitternder Hand steckte Mirka ihr Handy zurück in die Hosentasche und starrte wie gebannt geradeaus.
"Hallo? Mirka?", fragte Jenny verwirrt und wedelte mit der Hand vor Mirkas Nase herum.
"Es... es geht um... um...", begann Mirka und schaute Jenny nicht einmal an.
"Sag schon", forderte Jenny sie auf.
"Also, es... geht um Herrn Schmitter", antwortete Mirka schließlich.
Jenny lachte verächtlich auf. "Der alte Sack kann mich mal. Ich habe ein einziges Mal die Hausaufgabe vergessen und musste nachsitzen! Erst in der Woche vor den Ferien-"
"Hör auf! Sei still! Hör mir zu, verdammt!", rief Mirka entrüstet und sah sie finster an; sie war von ihrer Liege aufgesprungen und starrte Jenny mitten ins Gesicht, wobei sich ihre Nasen fast berührten. "Sag einfach nichts mehr! Herr Schmitter wurde gerade eben tot in seiner Wohnung aufgefunden! Na, immer noch 'der alte Sack kann mich mal'?!", brüllte Mirka weiter.
Jennys Miene nahm eine Mischung aus Schrecken, Schuldbewusstsein und Mitleid an.
"'tschuldige", murmelte Mirka wieder ruhiger und setzte sich zurück auf ihre Liege.
"Schon okay", sagte Jenny total geschockt. "Das hat dir Reka also gesagt."
"Ja, das hat sie", antwortete Mirka im selben Tonfall.
"Also ich hab Herrn Schmitter ja noch nie gemocht, aber irgendwie tut er mir doch leid", bemerkte Jenny und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie 'Herr' Schmitter gesagt.
"Hm", machte Mirka nur.
Eine Zeit lang schwiegen die beiden. Alles war still.
Aber nach einer Weile fragte Jenny:"Meinst du, das hat etwas mit dem entführten Mädchen zu tun?"
"Könnte sein", überlegte Mirka. "Daran habe ich noch gar nicht gedacht."
Auf einmal setzte sich Jenny kerzengerade in ihrer Liege auf. Verständnislos sah Mirka sie an.
"Was ist?", fragte sie ihre Freundin, doch Jenny blickte bloß starr zur Hecke hinüber. "Hallo? Ist etwas nicht okay?", fragte Mirka erneut.
"M-mirka...", stammelte Jenny,"...da."
Mirka folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Unter der Hecke lag ein Sack; er war geöffnet. Daneben lag etwas rot-weißes auf dem Boden. Mirka stand auf und ging hin. Jenny folgte ihr zitternd.
Und jetzt erkannte Mirka, was neben dem Sack lag und wovor Jenny solche Angst hatte: ein noch blutverschmierter Knochen steckte in der Erde! Mirka machte große Augen und zog den Sack an sich heran. Er war nicht verschlossen. Gespannt blickte Mirka hinein. Viele blutige Knochen und ein Kopf boten ihr einen brechreizerregenden Anblick. Schnell machte sie den Sack zu und nahm den Knochen, der in der Erde steckte ganz vorsichtig in die Hand; es hingen einige Hautfetzen an ihm.
"Meinst du, der ist von einem Menschen?", fragte sie Jenny, die stocksteif und mit geschockter Miene zugesehen hatte, was Mirka getan hatte.
"I-ich glaube j-j-ja...", antwortete sie.
"Oh super!", meinte Mirka und steckte den Knochen zu den anderen in den Sack.
"Was hast du vor, Mirka?", fragte Jenny, die sich endlich wieder etwas beruhigt hatte, und musterte ihre Freundin forschend.
Mirka antwortete nicht, nahm den Sack, murmelte Jenny bloß ein 'warte hier' zu und verschwand im Haus. Jenny sah ihr verdutzt nach, ließ sich dann jedoch wieder auf der Liege nieder.
Als Mirka wenige Minuten später wieder nach draußen kam, setzte sie sich ebenfalls wieder auf ihre Liege. "Das hat bestimmt etwas mit dem Mord zu tun!", sagte sie, schaute auf und grinste Jenny mit hellen Augen an.
"Na dann los! Sag es Reka", schlug Jenny vor. "Wozu hast du denn eine Schwester, die bei der Polizei arbeitet?"
"Spinnst du?!", fuhr Mirka sie an. "Du willst so einen klasse Fall an Reka abgeben? Das ist unsere Chance!", schwärmte Mirka und grinste breit; es war kein Geheimnis, dass Mirka neidisch auf ihre Schwester war und versuchte, so oft wie möglich Detektiv zu spielen - je gefährlicher die Sache, desto besser.
"Nur, weil du Polizistin werden willst, sorgst du durch deinen Egoismus dafür, dass die Suche nach dem Täter länger dauert und er in dieser Zeit noch viele andere Leute entführen und umbringen kann!", regte Jenny sich auf und blickte Mirka vorwurfsvoll an.
"Jenny, das ist unsere Chance!", redete Mirka ruhig auf sie ein, überzeugt davon, dass sie Recht hatte.
"Du meinst wohl DEINE Chance!", sagte Jenny aufgebracht. "Also ich rufe jetzt Reka an!"
Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte schon, als Mirka ihr das Handy aus der Hand schnappte. "Nein, das tust du NICHT!", rief sie.
"Spinnst du, Mirka?! Du verschweigst der Polizei wichtiges Forschungs- unr Beweismaterial! Das ist strafbar! Du hast sie doch echt nicht mehr alle!", meinte Jenny und stand auf. "Gib mir sofort mein Handy zurück!"
Mirka blieb stumm.
"Mirka, gib es mir SOFORT wieder. Ich hätte nie gedacht, dass dir tatsächlich so viel Vernunft fehlt!", sagte Jenny ruhig, aber ihre Stimme zitterte leicht.
Sie wusste, dass es schon immer Mirkas Traum gewesen war, Polizistin zu werden. Sie hatte schon immer im Schatten ihrer Schwester gestanden und als diese erreicht hatte, was Mirka immer wollte, war sie ziemlich geknickt gewesen. Ihre ganze Familie war stolz auf Reka. Und Mirka fühlte sich oft ein wenig... nutzlos, hatte sie Jenny erzählt. Und Jenny hatte wirklich ein wenig Angst, dass Mirka im Moment vielleicht nicht ganz zurechnungsfähig war, sondern nur ihre Chance, Erfolg zu haben, sah...
Mirka verzog aber nicht einmal das Gesicht und hielt dem Blick der Freundin stand.
"Du gibst mir JETZT SOFORT mein Handy her!", brüllte Jenny sie an und verlor die Geduld.
Dann sagte Mirka endlich etwas. "Nur, wenn du mir bei unserer Freundschaft versprichst, dass der Fall UNS gehört!", forderte Mirka und wedelte mit dem Handy vor Jennys Nase herum.
Jenny blickte sie finster an.
"Na mach schon, wo ist das Problem? Dann kriegst du auch dein Handy wieder."
"Das Problem bist du selbst, Mirka. Du und dein Egoismus. 'Ich will den Fall lösen, ich! Lasst mich nur machen, egal, wenn ein paar hundert Leute draufgehen, die sowie so irgendwann gestorben wären!' Mirka, dieses Verhalten ist weder gut, noch vorbildlich. Langsam bezweifle ich, dass du den Mumm dazu hast, Polizistin zu werden. Mirka, hör mir zu: wir MÜSSEN es Reka sagen. Glaub mir, es ist besser - für uns alle! Und jetzt, Mirka, mach keinen Scheiß und gib mir mein Handy wieder."
Mirka aber dacht gar nicht daran, rannte auf den kleinen Teich im Garten zu und hielt Jennys Handy am Anhänger darüber.
"Schwöre. Bei unserer Freundschaft!", drohte sie.
Jenny sah verängstigt aus. Sie überlegte kurz.
Dann sagte sie:"Na-na gut, Mirka, du hast gewonnen. Ich schwöre bei unserer Freundschaft."
Sie ging auf Mirka zu und streckte ihre Hand flach aus. Mirka legte ihr das Handy auf die Hand. Sie wusste, dass Jenny ihre Verprechen immer hielt.
Jenny seufzte schwer. "Mirka, Mirka, du weißt nicht, wie sehr du uns alle damit in Schwierigkeiten bringst..."
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