Kapitel 6 - Scheißtag
Scheißtag
Den Großteil des Tages hatte ich zusammen mit meiner Familie im Krankenhaus ausgeharrt, hatte Kaffee aus Pappbechern getrunken und ein verpacktes Sandwich aus der Cafeteria hinuntergewürgt. Und jetzt, fast zwölf Stunden später, saß ich immer noch, nun allerdings auf dem Polizeirevier, wo ich fassungslos auf das glänzende Namensschild auf dem Schreibtisch meines Gegenübers starrte. Detective Inspector Warren E. Johnson, stand da. Der Mann mir gegenüber war ein Schwarzer mittleren Alters, groß und seinem Gesichtsausdruck zu urteilen nicht überzeugt von meiner Zeugenaussage, die er bereits - ich weiß nicht wie oft - gelesen hatte. Ich rieb über meine Fingerkuppen und kratze an meinen Nägeln, die Farbe hatte sich darunter festgesetzt. Sie hatten meine Fingerabdrücke genommen! Ich konnte es immer noch nicht glauben. Auf die Frage, ob ich zum Kreis der Verdächtigen gehörte, hatte man mir geantwortet, dies sei alles nur Routine.
Nach Routine sah das aber schon lange nicht mehr aus. Sie hatten jedes Detail in meiner Aussage zerpflückt, überprüft und - wie man so schön sagte - gegen mich verwendet. Und während ich zu meinem fragwürdigen Auftritt im Supermarkt befragt wurde, von dem es zum Glück keine Überwachungsvideos gab, aber zumindest eine wenig schmeichelhafte Aussage der jungen Kassiererin, wurde mir bewusst, dass seine zermürbende Taktik allmählich griff. Warum sind Sie hinausgerannt? Wen haben Sie gesehen? Wer war dort draußen? Mit wem haben Sie gesprochen? Immer und immer wieder kauten wir die gesamte Situation durch, die mich auf die Straße gejagt hatte und obwohl ich immer dieselben Antworten gab, hörte es nicht auf. Irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich am liebsten mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt wäre. Dachten sie wirklich, ich würde meinem Bruder so etwas antun? Mit einem Seufzen fiel ich zurück in den Stuhl, ließ den Kopf in den Nacken fallen und da sah ich ihn. Abrupt richtete ich mich auf und drehte mich halb herum.
Suga lehnte an der gegenüberliegenden Wand des Großraumbüros, direkt neben dem Kaffeeautomaten und hielt einen Becher in der Hand, aus dem er gelegentlich nippte. Was um alles in der Welt machte er hier?! Wie von selbst glitt meine Hand in meine Hosentasche, meine Finger schlossen sich um das Armkettchen, das ich gefunden hatte und ein Schauer jagte meinen Rücken hinab. Ich kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und plötzlich schienen alle Geräusche gedämpft, das Klackern der Tastaturen, das Summen der Computer, all die Stimmen die durcheinanderredeten, nichts davon drang noch wirklich zu mir durch. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Suga lächelte schwach und ich konnte mich einfach nicht von seinen Augen losreißen. Wenn er auch hier war, das... war doch kein Zufall, oder? Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch auf der anderen Seite des Büros schüttelte Suga kaum merklich den Kopf und ich runzelte die Stirn. Was sollte das? Dann kamen die Wände näher, der ganze Raum verzerrte sich inklusive Einrichtung und aller Menschen darin zu einem grotesken Wirrwarr und plötzlich war Suga so nah, dass ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen. Das tat ich, meine Finger zitterten und sanken wieder hinab, als Suga erneut den Kopf schüttelte. Er legte einen Finger an die Lippen.
Shh.
Verwirrt kniff ich ein weiteres Mal die Augen fest zu, schüttelte den Kopf und als ich die Augen wieder öffnete, ploppte der Raum in seine ursprüngliche Form zurück, alle Geräusche waren wieder da und irgendwie jetzt auch unerträglich laut. Ich sah zu dem Polizeibeamten hin, der irgendwelche Notizen auf seinen Block kritzelte und dabei vor sich hin murmelte, überlegte, ob ich vielleicht fragen sollte, ob ich mir einen Kaffee holen konnte und als ich mich erneut umdrehte, war Suga verschwunden. Mit einem Ruck saß ich aufrecht, drehte mich von rechts nach links, mein Blick irrte durch den gesamten Raum, aber er war weg. Was zum Teufel...? Unruhig schob ich die Kettenglieder des Armbands durch meine Finger.
Der Beamte hob den Kopf und betrachtete mich stirnrunzelnd. „Alles in Ordnung?"
Erschrocken fuhr ich zusammen und kauerte mich wieder auf den Stuhl. „Ja...", raunte ich. „Sicher."
Den Rest der Befragung brachte ich mehr schlecht als recht hinter mich. Immer wieder glitt meine Aufmerksamkeit ab, wanderte durch das Büro des Polizeireviers, während ich mich fragte, ob das wohl auch schon zu meinen Wahnvorstellungen gehörte und ich womöglich Dinge sah, die ich sehen wollte.
Bis sie mich endlich gehen ließen, dämmerte es bereits und ich schlurfte müde und verdrossen Richtung Ausgang. Ich versuchte Danbi zu erreichen, damit sie mich abholen kam, sie ging jedoch nicht an ihr Handy, also hinterließ ich eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Die Aufmerksamkeit danach wieder auf mein Handy gerichtet, das immer mehr Streifen anzeigte, was sich auch durch sanftes Klopfen und Schütteln nicht verbessern ließ, stieß ich die Tür des Polizeireviers mit der Schulter auf, trat nach draußen in die kühle Nachtluft und lief mit dem nächsten Schritt prompt gegen ein Hindernis.
Ein höchst Lebendiges, denn es fing mein Taumeln auf und hielt mich an den Schultern fest. „Hey...!"
Überrascht hob ich den Kopf und obwohl ich ihn bereits an der Stimme erkannt hatte, starrte ich jetzt mit offenem Mund in sein Gesicht. „Du?", war alles was ich herausbrachte. Sofort war der Moment zurück, als er dort am Automaten gestanden hatte. Oder... als ich geglaubt hatte, dass er- Verwirrt schüttelte ich den Kopf, kniff für einen Moment die Augen zu, doch als ich sie öffnete, war er immer noch da und hielt mich an den Armen fest.
„Bist du...? Warst du...?"
Suga ignorierte mein unzusammenhängendes Gestammel und musterte mich kritisch. „Geht es dir gut, Tae? Du siehst furchtbar aus." Er klang ernsthaft besorgt, trotz der harten, ehrlichen Worte.
Ha! Guter Witz. Ich verzog das Gesicht. „Beschissen, danke", antwortete ich grummelnd auf seine Frage, wand mich aus seinem Griff und wehrte jedes weitere Wort ab. Meine fahrige Geste wies zurück auf das Gebäude. „Warst du nicht gerade da drin? Ich meine - wieso warst du da? Hat es mit meinem Bruder zu tun?"
„Ich wusste bis jetzt noch nicht einmal, dass du einen Bruder hast", entgegnete Suga sanft, schoss dann aber sofort zurück. „Und was machst du hier?"
„Ich..." Zerstreut brach ich ab. Kam es mir nur so vor oder wich er all meinen Fragen mit Gegenfragen aus? „Mein Bruder", versuchte ich es nochmal. „Der Typ auf der Treppe vor meiner Wohnung?" Seine Reaktion war beispiellos, denn er sagte kein Wort aber seine Augenbrauen hoben sich in sichtbarer Überraschung.
Das verwirrte mich noch mehr. „Was hast du denn gedacht, wer das war?"
Sein Mundwinkel zuckte leicht. „Spielt das denn eine Rolle?", gab er zurück und der amüsierte Unterton ärgerte mich. Schon wieder nichts als Gegenfragen. Unleidig schüttelte ich den Kopf. „Ich habe da jetzt echt keinen Nerv für", murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm, dennoch reagierte Suga darauf.
„Du siehst echt fertig aus", wiederholte er noch leiser und wieder hatte seine Stimme diesen sanften, lockenden Unterton, der mich sofort fesselte, auch wenn ich es gar nicht wollte. Seine Hand berührte meine Schulter. „Komm, ich fahr dich nach Hause."
Tatsächlich machte ich einen Schritt, war drauf und dran ihm zu folgen, obwohl ich doch gerade noch so gereizt reagiert hatte, dann fiel mir Danbi ein und ich blieb wieder stehen.
„Nein", sagte ich und schob ein weiteres Mal seine Hand von meiner Schulter. „Danke, aber ich werde abgeholt." Damit hob ich mein Handy und wackelte demonstrativ damit. Leider war immer noch keine Antwort von Danbi eingegangen und ich überlegte, ob ich sie nochmal anrufen sollte. Während ich nachdenklich auf mein halb zerstörtes Handy sah, wurde mir bewusst, dass Suga diesen dezenten Hinweis wohl nicht verstanden hatte, denn er stand immer noch da. Ich sah ihn irritiert an. Der Blick der mir jetzt begegnete war mehr als seltsam. Zuerst wirkte es, als würde er ein Für und Wider abwägen, dann veränderte sich nahezu unmerklich etwas in seiner Mimik und plötzlich lächelte er schwach, der Ausdruck in seinen Augen wurde weicher und tendierte nun zu mitfühlend. Und ja, das war unheimlich. Ich wich einen halben Schritt zurück, strich mir unruhig durch die Haare, sah weg und gleich darauf doch wieder hin. Ich war einfach nicht in der Verfassung für Spielchen dieser Art.
„Hör zu", versuchte ich es. „Ich hatte heute wirklich einen beschissenen Tag. Dass... wir uns ausgerechnet hier treffen ist... unglücklich, zugegeben, aber..." Vielleicht hätte ich mehr Erfolg gehabt, wenn meine Stimme nicht so gezittert hätte. Schon hatte ich einen Kloß im Hals und war drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Herrgott! Was war nur los mit mir?
Suga hingegen musterte mich immer noch schweigend. Mitgefühl changierte zu Zuneigung, Zuneigung zu unterschwelliger Sinnlichkeit. Meine Nervosität nahm eine neue Form an und obwohl es absolut deplatziert war, ich genau wusste, dass es falsch war, flaute mein Widerwillen mit jeder Sekunde die verstrich, weiter ab. Mein Ärger verrauchte, meine Unruhe wuchs und die Anspannung wurde unerträglich. Ich hatte keine Ahnung, wie er das machte und ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
„Meine Schwester holt mich." Ein letzter verzweifelter Versuch, ein Strohhalm, wenn man so wollte. Suga quittierte dies mit einem Schmunzeln.
„Okay", sagte er dann ruhig. „Ich habe schon verstanden, die Familie wird immer größer. Aber Taehyung...", plötzlich berührte er mich wieder. Seine Hand legte sich ganz sanft auf meine Wange und ich senkte den Kopf.
„Nicht", hauchte ich.
„Was ist denn?"
„Ich kann nicht."
Sugas Hand schob sich in meinen Nacken, er machte noch einen Schritt und zog mich behutsam näher. Womöglich hätte ich mich dagegen wehren sollen, aber ich schaffte es nicht. Am Ende gab ich nach, ließ mich gegen ihn sinken und atmete bebend aus. Ich verharrte einen Moment lang, spürte dem sanften Streicheln in meinem Nacken nach, dann schlang ich beide Arme um seine Mitte. Ich brauchte Halt und er war - verdammt nochmal - da.
Sein Mund streifte mein Ohr. „Willst du vielleicht was trinken? Ich glaube wir könnten beide einen Drink vertragen."
Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln, nickte schließlich, ließ ihn aber nicht los und hob auch meine Stirn nicht von seiner Schulter. Die Finger in meinem Nacken malten sanfte Muster auf meine Haut, dann strichen sie meinen Rücken hinab und Suga schob mich lächelnd ein Stück von sich.
„Na komm", raunte er, legte den Arm um meine Schultern und nahm mich einfach mit. Ich ließ es geschehen, tappte neben ihm dahin, ließ mich über die Straße bringen, betrat an seiner Seite die Bar und fand mich im nächsten Moment an einem der kleinen Ecktische wieder. Suga schlüpfte auf die freie Bank mir gegenüber.
„Willst du was essen?", fragte er und als ich stumm verneinte, zögerte er einen Moment. Schließlich stand er auf, seine Hand streifte meine und seine Fingerspitzen glitten über mein Handgelenk und noch ein Stück weiter über meinen Arm.
„Bourbon?"
Schweigend gab ich meine Zustimmung, sah ihm verstohlen hinterher, als er an den Tresen ging und versuchte dabei zu verstehen, was hier gerade geschah.
Zurück kam er mit zwei Gläsern und einer Flasche, setzte sich, schenkte ein und schob mir ein Glas zu. Ohne ihn anzusehen griff ich danach, kippte den Inhalt in mich hinein und kniff für einen Moment die Augen zu. Das Zeug brannte in der Kehle, es zeigte aber auch beinahe sofort Wirkung, denn eine wohlige Wärme begann sich in meinem Inneren auszubreiten.
Auffordernd schob ich das Glas wieder zurück in die Tischmitte, Suga schenkte wortlos nach und ich stürzte auch das zweite Glas ohne zu zögern hinunter. Wieder blinzelte ich kurz, die Wärme nahm nochmal deutlich zu und mit einem bebenden Ausatmen schob ich das Glas erneut in die Mitte. Dieses Mal trafen sich unsere Blicke, Suga griff nach der Flasche, schenkte aber nicht ein.
„Willst du mir von deinem beschissenen Tag erzählen?"
Noch mehr Fragen, na wer hätte das gedacht. Ich verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Nein."
„Du willst dich also einfach nur abschießen?"
„Ja." Genau das war der Plan.
Tatsächlich schenkte Suga jetzt wieder ein, doch als ich nach dem Glas griff, hielt er plötzlich mein Handgelenk fest.
„Weißt du, ich unterstütze gerne auch mal sinnlose Unterfangen, aber-"
„Es ist nicht sinnlos", fiel ich ihm giftig ins Wort, riss meine Hand los, schnappte mir das Glas und leerte es rasch bevor ich es demonstrativ auf den Tisch knallte. „Du hast mich hergeschleppt, willst du jetzt zimperlich sein und mir eine Moralpredigt halten?"
„Nein, ganz sicher nicht." Suga trank sein eigenes Glas leer, dann schenkte er beide wieder nach. „Aber vielleicht solltest du deine Schwester informieren, dass sie nicht kommen soll - oder ist es dir lieber, sie sieht das alles hier?"
Und warum zum Teufel wusste er so genau, dass das ein heikler Punkt bei mir war? Ich knirschte mit den Zähnen, wollte nicht schon wieder ein Zugeständnis machen und gab schlussendlich auf. Wortlos zückte ich mein Handy, raunte eine weitere Nachricht auf Danbis Mailbox und warf das Mobiltelefon dann auf den Tisch. Ich lehnte mich zurück und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Zufrieden?", ätzte ich.
Suga musterte mich. „Warum bist du so sauer?", fragte er. „Hat es mit mir zu tun?"
Ich antwortete nicht, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich benahm mich wie ein kleiner aufsässiger Junge, tobte, einfach nur um des Tobens Willen und wusste im Grunde doch gar nicht wieso. Oder - ich wusste es schon, wusste auch, dass es nicht richtig war, nur fand ich im Moment kein anderes Ventil für das Gefühlschaos, das in mir vorherrschte. Ich war wütend, beschämt, traurig und besorgt, irgendwie alles zugleich und das war einfach zu viel, um es noch irgendwie beherrschen zu können.
Mir gegenüber schmunzelte Suga, als wüsste er ganz genau, was ich dachte und schließlich hob er das Glas und klirrte es leise an meins.
„Auf all die beschissenen Tage", flüsterte er. Ich musste gegen meinen Willen grinsen und wir tranken.
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