Kapitel 4 - Störfaktor
Störfaktor
Sugas Hände glitten unter mein Shirt, dort von meinem Bauch über meine Seiten und auf meinen Rücken. Ich drängte mich noch näher an ihn, ließ mich gleichzeitig die Treppe hinaufschieben und mittendrin packte er mich so fest, dass es wehtat. Gleichzeitig saugte sich sein Mund an meinem Hals fest, ich wollte eben protestieren, da sagte hinter mir jemand: „Tae?"
Abrupt ließ Suga mich los. Ich schwankte, so plötzlich meines Halts beraubt, wirbelte schließlich überrascht herum und wäre dieses Mal beinahe die letzten paar Stufen hinaufgefallen.
Auf dem nächsten Absatz, direkt vor meiner Tür, die Füße auf der Treppe, saß mein Bruder und musterte mich stirnrunzelnd. Also... zuerst mich, dann meine Begleitung, dann erneut mich.
Ich konnte nichts anders tun, als ihn anzustarren. Es war über ein Jahr her. „Kyung...", brachte ich dann doch noch heraus. Krächzend und stammelnd beinahe, weil ich mit allem gerechnet hätte, nur nicht mit ihm.
„Was... machst du denn hier?" Zugegeben, nicht wirklich freundlich, allerdings war unser Hintergrund auch nicht dazu angetan, ein besonders enges brüderliches Verhältnis zu fördern. Meine Hand fuhr an meinen Hals und ich rieb über die Stelle, an welcher eben noch Sugas Mund gewesen war. Die Haut prickelte.
Kyung verzog das Gesicht zu einem abfälligen Lächeln. „Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen", raunte er. Dabei fiel sein Blick erneut auf Suga, der mich immer noch in einer leichten Umarmung hielt, welche er jetzt allerdings noch weiter lockerte ohne sie ganz zu lösen, als Kyung aufstand. Ich seufzte innerlich. Ja, das hatte er schon immer gut gekonnt, sich vor anderen aufbauen, Ärger machen und mich in Verlegenheit bringen. Nur, dass wir längst keine Kinder mehr waren und ich schon vor langer Zeit entschieden hatte, mein Leben so zu leben wie ich es wollte und nicht nach den verlogenen Wertvorstellungen meiner verkorksten Familie. Es gab Gründe warum ich hier in der Stadt wohnte und nicht mehr in ihrer Nähe. Das heuchlerische, bigotte Leben in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo, hätte mich erdrückt. Mit meinen älteren Brüdern verband mich bestenfalls eine psychische Odyssee, mein jüngerer Bruder lebte in derselben Straße wie meine Mutter, die wiederum mit meinem alternativen Lebensstil nicht klarkam. Sie akzeptierte mich, meine Neigung, aber nicht meine Entscheidung so zu leben. Ihr wäre es lieber gewesen, ich hätte mich zeitlebens hinter einer Fassade verkrochen und somit sahen wir uns kaum. Ich war nicht verbannt, besuchte sie hin und wieder, aber sie fragte nicht, was ich trieb und ich erzählte es ihr nicht. Ein Mann wie Suga hätte vermutlich ihr ganzes unrealistisches heile Welt Märchen zerstört, in dem sie sich für gewöhnlich verkroch. Meine kleine Schwester Danbi war die Einzige, die ich regelmäßig, wenn auch nicht so oft wie sie gern wollte, traf und sie war auch die Einzige, die mich tatsächlich so liebte wie ich war. Mit meinem Bruder - Kyung war der Älteste von uns allen - war das etwas anderes. Wir waren schon immer und in allen Bereichen Konkurrenten gewesen. Er der verhätschelte Erstgeborene, ich der unbedeutende Sohn mittendrin, der nur anstrengend war und Arbeit machte.
Sugas Hand grub sich fast besitzergreifend in meine Seite. „Womöglich ist es besser, wenn wir... das verschieben", raunte er mir zu, doch bevor ich antworten konnte, tat Kyung das für mich.
„Ja, vielleicht ist das wirklich besser, Sweetie." Er bedachte Suga mit einem abfälligen Lächeln und in Sekunden war die Spannung zwischen den beiden nahezu greifbar. Suga trat auf die Stufe neben mir, seine Finger bohrten sich unangenehm fest, ja schmerzhaft, in meine Seite und ich legte behutsam meine Hand auf seine. Eine Konfrontation mit Kyung konnte man nur verlieren, aber woher hätte Suga das wissen sollen. Es war irgendwie süß, dass er tatsächlich versuchen wollte, mich zu verteidigen, aber das hier war nicht sein Problem.
„Nicht", hauchte ich. „Wir... Nächstes Mal, okay?"
Der Raum zwischen meinem Bruder und ihm schien sich statisch aufzuladen und mit jeder Sekunde die verstrich, wurde es schlimmer. Einen Moment lang war ich mir sicher, es würde eskalieren, dann wandte Suga den Blick ab und sah stattdessen mich an. „Okay", stimmte er ruhig zu und schließlich küsste er mich.
Hölle, warum tat er das! Er küsste mich nicht flüchtig zum Abschied, sondern richtig. Es war ein provozierender Kuss, tief und drängend. Seine Zunge stieß in meinen Mund und ich erstarrte regelrecht. Mein Puls raste, die bekannte Schwäche sammelte sich schon wieder in meinen Beinen und ich musste mich zusammennehmen, um nicht seufzend gegen ihn zu sinken. Dann war es vorbei, sein glitzernder Blick traf mich und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, also senkte ich rasch den Blick, als er sich ohne ein weiteres Wort abwandte und die Treppen hinunterlief.
„Ist ja ekelhaft", raunte Kyung über mir und holte mich damit wieder zurück in die Realität. Fuck! Mit einem Augenrollen schob ich ihn aus dem Weg und sperrte meine Wohnung auf. Da ging sie dahin meine aufregende Nacht mit Sex und Leidenschaft, dafür hatte ich meinen nervtötenden Bruder am Hals, was wollte Mann mehr.
Seufzend stieß ich die Tür auf - ich bat Kyung nicht herein, er würde mir ohnehin folgen - und warf meinen Schlüssel genervt auf das Sideboard im Flur.
„War das dein neuer Fickfreund?", fragte Kyung hinter mir. Die Tür fiel zu.
Nein, war er leider nicht, hätte er aber werden können, verdammt. Ich schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass ich darüber garantiert nicht mit ihm reden würde, doch es wäre nicht mein Bruder gewesen, wenn er es mir tatsächlich so einfach gemacht hätte. „Sieht ja fast aus wie ein Mädchen, ich dachte du stehst auf Kerle..."
„Ich stehe auf Schwänze, die Verpackung ist unerheblich", gab ich provokativ zurück, nicht dass das etwas gebracht hätte. Mein Bruder lachte lediglich.
Idiot, ehrlich. Nichts an Suga erinnerte an ein Mädchen. Wie konnte er das sagen? Zu lebendig war die Erinnerung daran, wie sich sein Körper unter meinen Händen angefühlt hatte. Wahnsinnig schlank zwar, aber hart und fest, ich bekam Herzklopfen, wenn ich nur daran dachte und der ziehende Feuerball in meinen Eingeweiden erinnerte mich zusätzlich an meine verpasste Chance.
„Und, hat dein kleiner Ladyboy auch einen Namen?"
Empört schnappte ich nach Luft, wollte gerade zu einer deftigen Antwort ansetzen, überlegte es mir dann jedoch anders. Ich wirbelte zu ihm herum und beendete das Thema mit einer Handbewegung. „Was willst du eigentlich hier?", fragte ich stattdessen und mein Bruder zuckte grinsend die Schultern.
„Familie", gab er lakonisch zurück. „Darf ich mein Lieblingsbrüderchen nicht besuchen?"
Oh bitte, als ob. Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, schüttelte aber nur den Kopf. Auf dem Papier waren wir Brüder, ja und dort endeten schon alle Familienbande, die wir je besessen hatten. Ich hatte ihn in der Psychiatrie besucht, zugegeben, weil Sehun - mein jüngerer Bruder - zusammen mit meiner Mutter mich genötigt hatte, aber mehr Familie brauchte ich mit ihm ganz sicher nicht.
„Sie haben dich rausgelassen?" Eine zweifelhafte Entscheidung, meiner Meinung nach. Kyung war, genau wie Sungjin - der andere ältere Psychofreak in meiner Familie - zeitlebens verhaltensauffällig gewesen. Sie hatten beide Wahnvorstellungen, was ich ja leider auch kannte, waren aber beide zusätzlich völlig unberechenbar und aggressiv. Während ich in meiner Kinder- und Jugendzeit eher mit einer Angststörung gekämpft hatte, waren für die Psychiatrieaufenthalte meiner beiden älteren Brüder hauptsächlich ihr hitziges und gewalttätiges Verhalten verantwortlich. Wobei Kyung seinen Zorn auf alles richtete, was in seiner Nähe war, ganz gleich ob Sache, Tier oder Mensch, wohingegen Sungjin diese Wut ausschließlich gegen sich selbst richtete. Sein massiv selbstschädigendes Verhalten hatte dazu geführt, dass er vermutlich den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbringen würde. Und bei Kyung - nun ja, ich hätte mich wohler gefühlt, wenn sie ihn auch für immer weggeschlossen hätten.
„Beurlaubt, für drei Tage. Verhaltenserprobung", gab er bereitwillig Auskunft, folgte mir dabei ins Wohnzimmer und ließ sich ungefragt auf mein Sofa fallen. Schon allein die Selbstverständlichkeit mit der er sich in meiner Wohnung bewegte und alles in Besitz zu nehmen schien, widerte mich an, aber gerade fühlte ich mich seiner Präsenz gegenüber auch irgendwie machtlos. Ich wählte die andere Seite der L-förmigen Couch und wünschte mir sie wäre größer, damit ich mehr Abstand hätte.
„Und die wolltest du bei mir verbringen?" Das konnte er sofort vergessen. Ich hatte keine Zeit und vor allem keine Lust seinen Babysitter zu spielen.
„Nein", erklärte er fröhlich. „Ich mache einen Abstecher hier und da, wollte nach Hause..."
Nach Hause, zu Mom? Mir war nicht wohl bei der Sache. Natürlich, immer noch hing sie an ihrem Ältesten, wie an keinem ihrer anderen Kinder und die Tatsache, dass er auch sie oft genug drangsaliert hatte, schien daran auch wenig gerüttelt zu haben. Fakt war aber auch, dass Kyung im Laufe der Jahre immer unberechenbarer geworden war. Er konnte höflich sein und nett, gab sich aber auch gerne provokativ und übergriffig, so wie er es bei mir meistens tat, aber im Grunde war er ein Psychopath und ein Mensch wie unsere Mutter hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
„Weiß Mom, dass du kommen willst?"
Er grinste breit. „Wusstest du es?"
Also nicht. Sein „Überraschungsbesuch" würde Mom völlig aus der Fassung bringen, so viel war klar. Ich nahm mir vor, Sehun zu informieren, sobald Kyung meine Wohnung verlassen hatte, womöglich konnte er unseren Großen abfangen und so das schlimmste verhindern.
„Wenn sie dir Beurlaubungen bewilligen, bist du offenbar gut eingestellt. Wie kommst du damit zurecht?" Kyung hasste es, ständig Pillen zu schlucken, das war ja das Problem bei ihm und warum er eine wandelnde, tickende Zeitbombe war. Weil er für gewöhnlich seine Medikamente sofort - wann immer es ihm möglich war - absetzte.
Jetzt betrachtete er mich lauernd, seine Zunge fuhr über seine Lippen. „Ganz gut - und selbst?"
Ich nahm keine Medikamente mehr, schon eine ganze Weile nicht, aber es stand immer noch ein Röhrchen Psychopharmaka, Stimmungsaufheller, in meinem Badezimmerschrank. Abgelaufen, aber der Anblick beruhigte mich. Ich atmete tief durch.
„Ich habe keine Wahnvorstellungen mehr." Das war eine glatte Lüge, aber auch das konnte mein Bruder nicht wissen. Kyung fuhr mit dem Finger die Naht seiner Jeans nach.
„Na, das ist doch prima... Am Ende werden wir alle doch noch eine große, glückliche Familie..."
Wohl kaum. Aber es war die Art, wie er es sagte, die mir klarmachte, dass sich nichts geändert hatte. Wahrscheinlich hatte er seine Medikamente bereits abgesetzt, nachdem er einen Fuß in Freiheit hatte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er ausrasten würde und ich hatte ihn in meiner Wohnung. Womöglich sollte ich Sehun gleich kontaktieren.
„Und wie geht's weiter?", fragte ich vorsichtig.
Mein Bruder richtete sich etwas auf. „Na ja, ich dachte ich kann heute Nacht auf deiner Couch pennen und ziehe morgen weiter."
Auf meiner Couch! Auf keinen Fall! Wenn ich ihm sagte, dass das nicht ging, gab das vermutlich Ärger, allerdings war mir jeder Ärger, der noch halbwegs unter Medikamenteneinfluss stattfand, deutlich lieber als alles was danach kommen würde.
„Sorry, das... geht nicht", sagte ich und erklärte rasch weiter. „Ich... bin nicht eingestellt auf Besucher, sogar mein Kühlschrank ist völlig leer." Was ja der Wahrheit entsprach. „Du kannst nicht-"
„Du wirfst mich raus?", unterbrach er mich schroff. „Keine Besucher - ich bin dein Bruder. Willst du mich verarschen? Hättest du deinen kleinen Fickfreund auch rausgeworfen, nachdem er es dir besorgt hat?" Der Ton wurde lauter und harscher, sodass ich aufsprang und ein paar Schritte durch den Raum lief. Leider deutete er das genau richtig, denn nun spielte ein süffisantes Grinsen um seine Mundwinkel. „Oh, ich verstehe... die Pussy hat Angst..."
Ich ging nicht darauf ein, zückte stattdessen mein Handy und tippte auf die Kurzwahl. Wir alle hatten gelernt, mit seinen Ausbrüchen umzugehen und je weniger Angriffsfläche man bot, je schneller man zeigte, dass man nicht einfach nur einstecken würde, desto eher konnte man es abwenden. Es gab nur einen gespeicherten Notfallkontakt in meinem Handy und das war meine Schwester. Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln, just in dem Moment, als Kyung mich anbrüllte, wen verdammt ich anrufen würde.
„Hey...", sagte ich, dann schrie er bereits dazwischen.
„... rufst du die Polizei?! So behandelst du mich!?"
„...Danbi..."
Was ist denn bei dir los!?, hörte ich undeutlich, weil mein Bruder schon wieder brüllte.
„Ich zieh dir das Fell über die Ohren, du kleiner Pisser!"
Oh scheiße, ist das Kyung? Ist er bei dir? Verdammt! Wir sind heute Nachmittag informiert worden, dass er abgehauen ist, aber...
Spielte im Moment alles keine Rolle. Ich brachte mich hinter der Couch in Sicherheit. „Ja, Kyung", antwortete ich. „Er is-" Weiter kam ich nicht, denn da holte er zu einem Schlag aus und fetzte mir mit einer Bewegung das Handy aus den Fingern. Das Mobiltelefon flog in hohem Bogen durch den Raum und zerplatzte auf dem Fußboden in seine Einzelteile. Innerlich kochte ich, äußerlich ließ ich mir nichts anmerken, wich jedoch noch ein Stück weiter zurück, sagte dabei kein Wort, weil ich ihn auf keinen Fall weiter provozieren wollte und mittendrin fuhr Kyung mit einem Aufschrei herum, trat die Stehlampe um, die ihm im Weg war und stürmte in der nächsten Sekunde durch den Flur und aus meiner Wohnung. Ich rannte ihm atemlos hinterher, schlug die Tür zu und verriegelte. Erst jetzt wurde mir bewusst, was gerade geschehen war. Verdammt nochmal! Ich sank an der Tür zu Boden, raufte mir die Haare und wartete, ob er zurückkommen würde. Auch das kannte ich von früher, dann stand er plötzlich wieder vor der Tür, tobte und schrie, hämmerte gegen das Holz und machte alle rebellisch, bis irgendjemand die Polizei rief. Heute aber blieb es ruhig und nach einer Weile kehrte ich zurück ins Wohnzimmer und sah nach, ob mein Handy noch zu retten war. Immerhin ließ es sich zusammensetzen und man konnte noch damit telefonieren, auch wenn das Display hinüber war und mir jede Menge schwarze Streifen präsentierte. Ganz große Klasse, ich brauchte also auch ein neues Handy. Für den Moment rief ich nochmal bei meiner Schwester an, gab damit Entwarnung und informierte sie, dass Kyung auch von hier wieder abgehauen wäre. Ich erfuhr die ganze Geschichte, dass er eben tatsächlich aus der geschlossenen Abteilung abgehauen war - wie auch immer er das wieder geschafft hatte - und bereits gesucht wurde. Es war nicht das erste Mal.
„Gibst du mir Bescheid, wenn es was Neues gibt?"
Danbi versprach mir das und auch, dass sie Mom und Sehun informieren würde, womit mein Einsatz fürs erste erledigt war. Danach räumte ich das Chaos im Wohnzimmer auf, ließ mich anschließend missmutig auf die Couch fallen. Jetzt hatte ich kein Essen, kein Handy mehr und Suga war ein zweites Mal aus meinem Leben verschwunden. Was für ein beschissener Tag.
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