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"Ich bin kein Held", flüsterte ich erschöpft. Mein ganzer Körper zitterte und bebte, meine Kräfte waren am Ende.
"Ich bin nur eine Schachfigur in diesem Leben." Ich lachte gepresst.
"Und ich war noch nie gut im Schach."
Mein Bruder trat einen Schritt näher und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich war zu schwach, um zu stehen, deshalb saß ich auf einen Stuhl in unserer Küche. Um Marius in die Augen zu sehen, musste ich mein Kopf in den Nacken legen. Er war groß und dass nicht nur durch die Perspektive oder der Tatsache, dass ich winzig war.
„Sie brauchen dich. Sie sind sich dem nur noch nicht bewusst, sie sind zu stur", sagte er sanft und tätschelte mir weiter die Schulter.
Wut brodelte in mir auf und ich schlug seine Hand weg.
„Wenn die da draußen zu stur sind, dann ist das nicht mein Problem. Ich halte für sie meine Hand ins Feuer und racker mich ab, nur damit sie mit Absatzschuhen drauftreten!"
Marius linker Mundwinkel hob sich.
„Absatzschuhe? Ist das nicht etwas übertrieben, Jojo?"
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, damit wir mehr auf Augenhöhe waren.
Ich schnaubte. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zuckten.
„Das ist eine Metapher! Aber sowas verstehen nur schlaue Leute", antwortete ich besserwisserisch mit erhobenen Augenbrauen.
„Du meinst Leute, die ein abgeschlossenes Bachelor-Studium und diverse Doktor Titel haben?"
„Blablabla...Angeber." Wie ein trotziges Kind streckte ich meine Zunge raus und verschränkte die Arme. Er war schlau, der klügste Mensch, den ich kannte. Umso mehr bewunderte ich es, wie er mit mir rumalberte, als wäre er selber noch dreizehn.
Marius wuschelte mir durch die Haare, die genauso dunkel waren, wie seine, stand auf und ging zu den Küchenschränken. Suchend kramte er darin herum, bis er mit Nadel und Faden zurückkam.
Auffordernd hielt er mir die Hand hin. Seufzend gab ich ihm meinen Baumwollanzug. So oft wurde er schon genäht. Der Anzug, war grün, wie dunkle Tannen und mittig auf der Brust, war ein gelber Blitz aufgenäht. Also er war aufgenäht, bis ihn ein Junge abgerissen hatte, nachdem ich von seinen Freunden verprügelt wurde. Für sie war ich nur ein Junge im Pyjama, der aus seiner Kindheitsphase nicht raus kam. Für mich war der Anzug, der einzige Halt in diesem Leben.
Die blauen Flecken sind schon wieder verheilt. Es hatte schon Vorteile, ich zu sein.
Meine Verletzungen heilten schnell, leider nur die Äußeren.
Ich beobachtete Marius, während er sorgsam Stich für Stich immer wieder in den weichen Stoff tauchte. Dass er genauso aussah wie Papa, war eindeutig. Diese ordentliche Frisur, die gerade Nase, selbst das dicke braune Muttermal neben seinem rechten Nasenflügel hatte er. Seid meine Eltern mich verstießen, weil ich etwas konnte, was niemand konnte, war er für mich da.
„So fertig, fast wie neu", sagte er stolz und gab mir meinen Anzug zurück. Ich strich über den Blitz. Wirklich, fast wie neu.
„So und jetzt gehen wir raus und zeigen den Menschen, dass sie dich brauchen."
Wir gingen, wie jedes Mal, zu einem alten Schrottplatz, der mal meinem Opa gehörte. Dort trainierte Marius mit mir. Denn die wichtigste Regel war, dass ich erst wirklich helfen durfte, wenn ich zu 100% die Kontrolle hatte. Marius hatte einen orangenen Gummianzug an und sah ein wenig aus, wie ein Forscher in einem Chemielabor. Dies war zu seinem Schutz, dass ich ihn nicht aus Versehen in einen menschlichen Toast verwandele.
„So,Jojo", er zog eine Glühbirne aus seinem Rucksack und hielt sie mir vor die Nase.
„Ich lege diese Glühbirne dort auf dem alten Gummireifen ab und du versuchst sie zum Leuchten zu glühen."
Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen.
„Das kann ich doch schon längst."
Während er mir durch die Haare wuschelte, als wäre ich ein Hund, flüsterte er, als wäre es ein großes Geheimnis: „Um groß zu werden, darf man niemals die kleinen Schritte vergessen."
Nachdem Marius zu dem alten Gummireifen gegangen war und die Glühbirne dort platziert hatte, hob er die Hand. Das Startzeichen. Ich fokussierte meinen Blick auf die Glühbirne, auch wenn es stockfinster war. Mein Herz pochte wild und meine Fingerspitzen kribbelten. Mein Körper fühlte sich jetzt so stark an. Mein Körper knisterte und meine Haare standen elektrisiert zu Berge. Ich stand wortwörtlich unter Strom. Mit gewohnten Bewegungen streckte ich meine Hände nach vorne und spürte, wie ein Energiestoß aus meinem Körper sprang, direkt auf die Glühbirne.
Sie leuchtete, immer heller und heller... dann platze sie. Ein lautes Knallen hallte durch die Nacht. Erschrocken ging ich einen Schritt zurück und starrte auf die Scherben. Wie konnte das sein? Das war doch eine Baby-Aufgabe.
„Das ist schon okay, Jojo", sprach mein Bruder beruhigend auf mich ein.
„Du warst in letzter Zeit nur große Übungen gewohnt und hast deine Kraft unterschätzt."
Enttäuscht senkten sich meine Schultern.
„Wir arbeiten daran", gab er sich zuversichtlich, worauf ich nur ein zustimmendes Brummen gab.
Wir wollten uns gerade auf dem Heimweg machen, als wir ein lautes Krachen hörten. Erschrocken drehten wir uns um und suchten wachsam das Schrottplatzgelände nach der Quelle ab. Hinter einem großen Müllberg, auf dem sich irgendwelche Kartons stapelten, kamen drei männliche Gestalten, die seltsam torkelten und laut lachten. Sie kamen immer näher.
„Ey, Gummikondom, hast'e Geld?", schrie einer zu meinem Bruder rüber.
„Lass uns verschwinden", flüsterte Marius und deutete mir ihm zu folgen. Wir rannten weg, in die Richtung, von der wir gekommen waren.
Ich stolperte über einen Schraubenzieher, der am Boden lag und flog hin. Mein Kopf rauschte und mir wurde übel.
„Jojo...", sagte Marius besorgt.
„Geht schon", presste ich raus und bis die Zähne zusammen.
„Na, hat dasch Baby sisch verletzt", lallte eine Stimme neben uns. Wie sind die denn so schnell hier hingekommen?
Mein Bruder hielt mir die Hand und wollte mir beim Aufstehen helfen.
„Stopp!", rief einer der anderen und hielt mir den Lauf einer Pistole zwischen die Augen.
„Gebt mir Kohle!", schrie er und umklammerte fest meinen linken Arm. Wimmernd quoll mir eine Träne aus dem Augenwinkel heraus. Alles ging mir in diesem Moment zu schnell. Ich fühlte mich, als wäre ich auf der Drehscheibe auf dem Spielplatz und könnte mein Gleichgewicht nicht mehr halten.
„Wir haben kein Geld", sagte Marius verzweifelt.
„Nimm die Waffe runter!"
„Halt die Fresse, Gummikondom!"
Der Mann fuchtelte mit seiner Pistole rum und richtete sie auf meinen Bruder.
Auf einmal ertönte ein Knall und Marius fiel zu Boden.
Mein Herz platzte.
„Marius!"
Ich riss meinen Arm aus dem Griff des Mannes, deer auf einmal stocksteif dastand.
Marius hustete und sah mich hilflos an. Blut quoll aus seinem Anzug. So viel Blut. Sein Gesicht wurde immer weißer und ich immer verzweifelter.
Mein ganzer Körper zitterte und ich spürte kaum, wie sich all meine Haare aufstellten.
„Tu es nicht", flehte er.
Tränen liefen ohne Stoppen meine Tränen runter und ich fühlte eine immense Kraft durch meine Adern rauschen. Ich wandte mich ab, weil ich seinen Anblick nicht ertrug. Die drei Männer standen wie Statuen da.
„Isch wollte das doch nisch...isch wollte doch nur Geld für ein Bier. Isch..."
Meine Vehen fingen an zu glühen. Das ist noch nie passiert, aber das war im Moment egal.
„Wasch ischt das?", fragte einer verzweifelt.
Ich fühlte nur die Wut und etwas brennendes in mir. Wie im Flugmodus streckte ich meine Arme nach vorne und ließ alles raus. Mehr als Asche blieb nicht von Ihnen übrig.
Als ich mich zu Marius umdrehte, wusste ich sofort, dass er nicht mehr lebte. Auch wenn seine Augen noch geöffnet waren und mich anschauten.
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