57. Kapitel
Triggerwarnungen: Gewalt.
Einen Monat vor dem Umzug in die USA.
Otilia
„Es ist nicht zu fassen! Was willst du mir noch alles nehmen Tata?! Was noch?!"
„Schätzchen, ich habe deinen Hund nicht mit Absicht überfahren. Es tut mir wirklich sehr leid. Du hättest sie sowieso nicht mit nach Idaho nehmen können, und das weißt du."
Dieser verdammte Sadist!
Er kann mir nicht erzählen, dass das nicht von ihm geplant war.
„Wir kaufen dir einen neuen Hund", sagt er und setzt dabei ein abartiges Lächeln auf.
„War es bei Mama auch so einfach? Sie hat nicht mehr funktioniert und du hast dir einfach eine neue Frau", ich male Anführungszeichen in die Luft „gekauft".
Doch er lacht nur und sagt: „Ach Liebes, es gibt Dinge, die du einfach nicht verstehen kannst und auch nie verstehen wirst."
„Weil ich eine Frau bin?", antworte ich zynisch.
„Nein, Otilia - weil du noch zu jung bist."
Ich versuche mich zu beherrschen, um nicht lauthals loszulachen.
Zu jung?
Es war ihm auch egal, dass ich ins Kreuzfeuer, als Konsequenz seiner illegalen Machenschaften, geraten könnte. Jetzt, aus heiterem Himmel, scheint es ihn zu interessieren. Auf einmal bin ich zu jung und habe keine Ahnung vom Leben.
Heuchler.
Ich drehe mich um und verlasse wutentbrannt den Raum.
„Wo willst du jetzt hin?!", brüllt er mir nach. Seine Liebe zu mir, seiner Tochter, wirkt wie nie da gewesen.
„Weg von dir. Ich brauche Abstand und ich lasse mich mit Sicherheit nicht einsperren!"
„Léon!" Ich erstarre, als er seinen Namen plötzlich schreit. „Wo sind denn alle, wenn man sie braucht?!"
Ich biege um die Ecke und bleibe dort stehen, um zu lauschen.
„Da bist du ja endlich. Geh ihr nach. Und hier, meine Kreditkarte... Kauf ihr irgendetwas, damit sie sich beruhigt. Aber bloß keinen Hund."
Meine Atmung beschleunigt sich rapide und ich beiße mir so fest auf die Lippe, wie ich nur kann. Eine warme Flüssigkeit bahnt sich ihren Weg zur Spitze meines Kinnes, wo sie sich schließlich zu einem dicken Tropfen sammelt.
Als der besagte Tropfen auf mein Dekolleté tropft, bemerke ich, dass es sich dabei um Blut handelt.
Vollgepumpt mit Adrenalin, stürme ich zurück in den Gang, doch Léon hält mich auf halbem Weg davon ab, meinem Vater den Kopf abzureißen.
„Beruhig dich. Wir haben sein Einverständnis, uns vom Haus zu entfernen. Wir können dann später ungestört reden", wispert er in mein Ohr. Sein Blick wandert auf meine Lippen. Vorsichtige streicht er mit seinem Daumen darüber, um mir vermutlich das Blut aus meinem Gesicht zu wischen. Anschließend vermittelt er mir mit einem kurzen Nicken, dass es Zeit ist zu gehen.
***
Ich hasse ihn so sehr, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Mein mentaler Zustand verschlechtert sich von Tag zu Tag immer mehr, weil ich diesem Druck, welchem ich ausgesetzt werden, einfach nicht Stand halten kann. Letzte Nacht hat meine Hand ununterbrochen gezittert und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
„Otilia?"
„Hm...", entfährt es mir still.
„Otilia... ich möchte, dass du weißt... ich meine..." Auch er scheint keine Wort zu finden. „Fuck, ich weiß nicht was ich sagen soll. Dein Vater ist ein absoluter Psychopath und ich habe gesehen, dass er deinen Hund mit Absicht überfahren hat. Ich wollte eingreifen, aber ich war zu langsam und..."
„Schon gut...", schnaube ich. „Es ist nicht das erste Mal, dass er mir etwas nimmt, dass ich liebe."
„Vielleicht, weil du ihm nie das gegeben hast, was er wollte. Deine Liebe. Ich glaube, er ist in seinem tiefsten Inneren verzweifelt."
„Verzweifelt?", frage ich irritiert. „Wie meinst du das?"
„Tja, du scheinst alles und jeden mehr zu mögen, als ihn. Deshalb möchte er dir alles wegnehmen, damit du keine anderen Optionen mehr hast, als ihn, deinen Vater, als oberste Priorität anzusehen."
„Bullshit, ich bin ihm doch scheissegal."
Niemand - der auch nur halbwegs bei Verstand ist - verhält sich derartig widerwärtig gegenüber anderen Menschen.
„Nein... glaub mir. Du bist für ihn alles und..."
„Nichts", falle ich Léon ins Wort. Denn das ist die Wahrheit, er gönnt mir nichts.
Und warum?
Die Antwort ist leicht, weil ich auf Mamas Seite stehe, und nicht auf seiner. Er hätte gerne eine kleine anständige Tochter, die sich mit ein paar Scheinchen abspeisen lässt, das tut was er von ihr erwartet und ansonsten den Mund hält.
Aber die Art von Mensch bin ich nicht. Hätte er einen Roboter gewollt, hätte er sich einen kaufen sollen.
Ich frage mich oft, ob er schon immer so war. Wer genau dieser angeblich liebevolle Mann gewesen ist, von dem Mama immerzu gesprochen hatte. Der nachts aufgestanden ist, um mich zu wickeln und meiner Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gedrückt hat.
„Geld verdirbt den Charakter. Man sagt, wenn man viel Geld hat, ist das die Lösung aller Probleme, aber das ist es nicht - eher im Gegenteil - wer reich ist, hat dafür andere Sorgen", sage ich und blicke Léon tief in die Augen.
„Lass uns von hier verschwinden...", murmelt er leise in sich hinein. Vermutlich sind die gesagten Worte nicht für meine Ohren bestimmt gewesen, und doch hat er sie laut ausgesprochen. „Nein... das ist eine scheiss Idee. Entschuldige bitte. Es ist nur..."
„Nur was?", hake ich nach, obwohl ich die Antwort längst kenne, ohne sie von seinen Lippen ablesen zu müssen.
Er möchte mir sagen, dass er schon oft daran gedacht hat mit mir abzuhauen. Fernab von all dem, es aber nach wie vor nicht geht, denn Mindestens eine Person würde zu Schaden kommen und das würde niemand von uns wollen.
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