42.
POV Tim
Ich schaute von meinem Computer auf und blinzelte als ich sah, dass ich seit mehr als einer Stunde dagesessen und diesen Text gelesen hatte. Seit fünfzehn Jahren... Natürlich hatte ich Stegi nie vergessen, wie auch? Er war so lange ein Teil von mir gewesen und bis heute schmerzte mich der Verlust unserer Verbundenheit. Ich wusste selbst nicht mehr genau, warum ich damals so überstürzt aus Karlsruhe geflohen war. Wahrscheinlich hatte ich die ganzen Erinnerungen an uns beide nicht mehr ausgehalten.
Er sagte also, dass er noch immer da war und auf mich wartete. Nach all der Zeit. Ich stand auf, klappte den Laptop zu und verließ das Wohnzimmer. "Moni?", rief ich durch die Zimmer und hörte meine Freundin aus der Küche zurückrufen: "Ja, was gibt's denn mein Großer?"
Sie bereitete eben das Abendessen zu, das ich vermutlich nie anrühren würde, wenn ich meine Entscheidung durchzog. Aber sie verdiente eine Erklärung. Ich stellte mich hinter sie, legte meine Hände vorsichtig an ihre Hüften und flüsterte in ihre recht kurzen, blonden Haare: "Liebling, ich muss los. Es ist sehr wichtig für mich und ich werde vielleicht ein paar Tage weg sein. Mach dir keine Sorgen, mir wird es gut gehen, okay?"
Erschrocken drehte sie sich um, schaute mich aus ihren großen, blau-grünen Augen an und legte ihre Hände auf meinen Unterarmen ab. "Ein paar Tage, echt so lange? Wohin willst du denn?"
Die Ähnlichkeit, die mich immer ein wenig getröstet hatte, schnürte mir jetzt die Kehle zu. Monika hatte jemanden verdient, der sie besser behandelte als ich und der sie nicht in einen Spiegel in die Vergangenheit verwandelte. Wenn ich weg war, würde ich es ihr per Telefon sagen und Schluss mit ihr machen. Jetzt beließ ich es erst einmal bei einem simplen: "Einen alten Freund besuchen gehen."
POV Stegi
Wieder wachte ich auf, schlug meine Decke zurück und stand auf, um zu frühstücken und mich für die Arbeit fertig zu machen. Jeden Tag das selbe, es schien mir alles so trist und grau. Während ich meinen Toast hinunterwürgte, wanderte mein Blick immer mal wieder zu der kleinen Schachtel neben mir, in der meine "Medizin" lagerte und darauf wartete, von mir eingenommen zu werden. Kurz hielt ich zögernd inne. Es war durchaus verlockend. Sollte ich sie heute vielleicht mal nehmen? Immerhin hatte ich jede erdenkliche gesundheitliche Störung bei allen möglichen Doktoren für die Dinger vorspielen müssen, nur für eine einzige Packung. Zwei oder drei der Tabletten sollten bereits helfen.
Wie jeden Tag langte ich nach der Verpackung, öffnete sie, las mir die Gebrauchsanweisung für die richtige Dosierung durch und ließ den Zettel mutlos wieder sinken. Schließlich konnte heute der Tag sein. Der Tag, den ich mir so sehr herbeisehnte. So unwahrscheinlich das auch war. Es konnte ja trotzdem sein. Bei diesem Gedanken legte ich die "Medizin" dann immer beiseite, atmete mit in den Händen vergrabenem Gesicht mehrere Male durch, bis der Schluchzreflex wieder verschwunden war, und zog mich dann an, um mit meiner Schrottkarre zur Arbeit zu fahren. Auch die Kleidung, die ich trug, schien jeden Tag die gleiche zu sein. Trist und Grau, in jeder Hinsicht. Ich seufzte. Lange hielt ich diese bedrückende Leere nicht mehr aus. Ich war verzweifelt. Ich wollte nicht mehr. Aber jetzt hatte ich nunmal meine Lebensgeschichte im Netz veröffentlicht, als allerletzten Versuch, um meine einzige große Liebe zurückzugewinnen. Sicherlich eh vergebens. Doch so hatte ich meine Hoffnungslosigkeit wenigstens kurzzeitig begraben können. Immerhin bestand jetzt wieder die minimale Möglichkeit, dass er mich fand. Ich könnte mir nicht verzeihen, sollte er wirklich zurückkommen und einen erhängten Stegi vorfinden, einen verbluteten Stegi, einen, der sich unter der Dusche mit Strom selbst gebrutzelt hatte oder all die anderen kranken Methoden, über die ich ab und zu in den letzten Jahren durchaus nachgedacht hatte. Das machte vermutlich die Einsamkeit aus einem. Einen Menschen, der nicht einmal vor dem Tod noch Angst oder Respekt hatte.
Während ich im Bad versuchte, meine Frisur zu richten, klingelte es an der Haustür. Fast wäre ich sofort losgestürmt, hätte mich auf dem Flur oder den Treppen vielleicht noch vor Hektik aufs Maul gelegt, aber ich konnte meine Aufregung zügeln. So war ich bisher fast immer zur Tür gehechelt, nur um festzustellen, dass dort die Nachbarin stand um über den Lärm zu schimpfen oder der Postbote mit einem Paket oder, oder, oder... Es war schon so oft eine Enttäuschung für mich gewesen. Ich beeilte mich nicht, schlich leise in das Erdgeschoss runter und öffnete vorsichtig einen Spalt breit. "Ja?", fragte ich niedergeschlagen und ohne aufzublicken.
Die Tür wurde plötzlich wie aus den Angeln gehoben, jemand sprintete auf mich zu und ehe ich mich versah, drückte er mich mit ungeahnter Heftigkeit an sich. Erschrocken und überrascht ließ ich das alles mit mir geschehen. Konnte es vielleicht sein...?
"Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre und du begrüßt mich mit einem "Ja?", als würdest du dich nicht mal freuen, einen alten Freund wiederzusehen!", überschlug sich die vertraute tiefe Stimme beinahe und ich spürte das Vibrieren durch seinen ganzen Körper wandern, als er glücklich und ausgelassen lachte und mich hochhob, um sich wirbelte und seinen Kopf in meinen Haaren vergrub. Langsam und noch immer zu geschockt, um es wirklich zu begreifen, erwiderte ich seine Umarmung. Er war es tatsächlich. Er hatte zurückgefunden. Nach mehr als fünfzehn Jahren. Ich hatte ihn wieder, obwohl ich das nicht mehr für möglich gehalten hatte. Tim war hier. Wieder hier bei mir. Und das machte mich für diesen Moment zur glücklichsten Person der Welt. Jetzt war endlich alles wieder gut.
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Danke für die vielen Kommis innerhalb der Geschichte und das ihr alles bis hierher gelesen habt! Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt wegschalten und ne andere Story lesen, aber an die wenigen, die es interessiert, möchte ich jetzt noch was loswerden:
Und zwar werde ich ab und zu gefragt, warum ich einige Situationen so nachvollziehbar beschreiben kann. Die simple Antwort ist, dass man natürlich über die Dinge schreibt, mit denen man sich auskennt. Und bei mir sind das halt die Szenarien, die richtig häufig in den FFs vorkommen. Meine Hauptcharaktere sind meist schüchtern, introvertiert und naiv, sie fühlen sich zu schwach und manchmal auch nutzlos, um etwas tolles in ihrem Leben erreichen zu können. Und das hat seinen Grund: Ich kann es nachvollziehen.
Ich werde auch oft von Selbstzweifeln geplagt. Nicht so schlimm wie Stegi mit der Stimme in seinem Kopf, aber ähnlich. Früher war ich unglaublich selbstbewusst und konnte mit jedem Menschen total locker reden, ohne jedes meiner Worte zu hinterfragen. So lange, bis meine Eltern mir gesagt haben, dass ich einfach nur furchtbar gutgläubig bin und nicht sehen würde, wie mich mein Umfeld deswegen ausnutzt und dass ich etwas daran ändern soll. Und ab dann habe ich es auch gesehen und wie schlimm es bereits war.
Fast ein Jahr lang habe ich darüber nachgedacht, ob mein Leben einen Sinn hat, wem ich noch vertrauen kann und wer mich vermissen würde, wenn ich nicht mehr wäre. Schuld daran waren eine Menge verschiedener Faktoren und einige gehen so tief, dass ich sie heute erst bewusst entdecke. Aber so bin ich nach und nach so verklemmt und schüchtern geworden, wie ich bis vor kurzem noch war. Meine Mitschülerinnen haben mir früher mal gesagt: "Wenn du einen Tag durchhältst, ohne ein Wort zu sagen, dann wissen wir sofort, dass etwas mit dir nicht stimmt!" Dann ist diese Veränderung gekommen, ich bin stummer und stummer geworden und habe mir eines Tages sogar gewünscht, dass sie sich an ihre Worte erinnern und sehen, was gerade mit mir passiert. Aber niemand hat es gesehen oder bemerkt. Ich habe es auch nie jemandem offen erzählt. Sowas macht man in dieser Position einfach nicht. Da gibt es so viele Blockaden und Hintergedanken, die einen lähmen. Denken die anderen dann, dass ich schwach bin? Werden sie es weiter erzählen? Wird alles noch schlimmer dadurch? Was sollen die überhaupt für mich tun können? Ich will sie nicht mit meinen Problemen belasten. Und dann schweigt man lieber. An diejenigen, die sich an dieser Stelle aus dem Teufelskreis befreien können, meinen tiefsten Respekt! Ihr seid die vielleicht mutigsten Typen, die ich kenne.
Bis heute habe ich tief in mir verankert das Bedürfnis, meinen Freunden zu helfen und sie zu beschützen, und plötzlich war ich dann diejenige, die dringend Hilfe brauchte. Ich habe angefangen, Tabletten zu nehmen, die mir dabei helfen sollten, die negativen Gedanken auszublenden. Aber das hat nicht die Ursache bekämpft und ich habe die "Happy-Pillen" gehasst. Ich wurde auch eine Zeit lang gemobbt und während das niemals über die verbale Grenze hinausgegangen ist und - die berühmten Worte - andere es sicher schlimmer hatten als ich, hat es trotzdem Narben in mir hinterlassen. Einige Worte und Momente werde ich mein Leben lang nie vergessen können und sie werden auf Dauer die guten Erinnerungen an damals überwiegen.
Und doch geht es auch nach solchen Niederschlägen immer weiter. Es muss weitergehen. Man muss sich wieder aufrappeln. Für immer auf der Stelle treten und in Selbstmitleid ertrinken ist keine dauerhafte Lösung, genauso wenig wie sich selbst zu verletzen. In diesen Momenten ganz am Boden kann man es nicht sehen, aber es gibt ein Licht am Ende der Misere, versprochen! Irgendwann wird sich all das Leiden und die Zeit in der Dunkelheit auszahlen. Für mich hat es sich teilweise bereits ausgezahlt. Hier im Internet kann ich meine Geschichten schreiben und einen Teil meiner eigenen Erfahrungen mit in die Texte verweben und bekomme Aufmerksamkeit dafür, Lob, Ermutigungen, Support und lerne Leute kennen, denen es ähnlich geht.
Noch ein wichtiger Hinweis von mir: Geht bitte immer mit offenen Augen durch euer Leben! Helft denjenigen, die Hilfe benötigen, passt auf eure Freunde auf und wenn ihr jemanden finden solltet, der ein Problem hat, dann steckt ihn nicht gleich in die erstbeste Schublade an Menschentyp, sondern hört ihm oder ihr zu und versucht Lösungen zu finden. Jeder kann eine Veränderung bewirken und sei sie nur winzig klein. Für jemand anderen könnte ein Gespräch oder ein bisschen Aufmerksamkeit und Rücksicht die Welt bedeuten. Natürlich ist nicht jeder ein geborener Psychologe und niemand verlangt von euch, die Last von einem dutzend Mitmenschen allein zu tragen. Aber manchmal hilft es auch, nur zuzuhören und sich nicht abzuwenden. Seid füreinander da. Wenn meine kleine Leserschaft hier das Geschriebene nachvollziehen und mitnehmen kann, dann denke ich, ist die Welt schon ein kleines bisschen besser geworden :)
Danke dass ihr mir zugehört/gelesen habt. Das wollte ich seit einiger Zeit mal loswerden. Bis zur nächsten Geschichte, peace out! :)
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