52 | von alter Vertrautheit
Es gibt Situationen, die sich, egal wie lange man weg war, immer wieder sofort vertraut anfühlen werden. Als Viola mit Harry ein paar Wochen auf Reisen war, ist sie in eine völlig andere Welt eingetaucht, doch sobald sie wieder im Papageno stand, hat es sich angefühlt, als wäre sie nie weggewesen.
Dasselbe Phänomen macht Viola auch heute, als sie aufgeregt den Weg zu Harry einschlägt, aus.
Die Strecke ist vertraut, ebenso wie das Haus. Bloß das Lächeln von Harrys Haushälterin Leslie bleibt heute aus. Nicht sie, sondern Harry selbst öffnet ihr die Türe.
Kein steifes Hallo, kein höfliches „Komm doch rein". Wortlos, dafür aber breit lächelnd, schließt er Viola in eine warme Umarmung ein - und wieder fühlt es sich an, als wäre sie nie woanders gewesen.
„Schön, dich zu sehen", ist es Viola, die die Stille als Erstes bricht. Harry muss nichts sagen. Seine Körpersprache und die Hand, die sanft über ihren Rücken streichelt, spricht für sich.
Ehe sich Viola versieht, sitzt sie mit einem Glas kühlem Eistee, den unmöglich Harry selbst vorbereitet haben kann, auf einem seiner gemütlichen Gartenstühle in einer der Sitzecken auf der Terrasse.
„Hat deine Belegschaft Urlaub, oder hältst du noch jemanden in der Küche gefangen?", fragt Viola grinsend, mit prüfendem Blick auf ihr Glas.
Lachend versucht sich Harry an einem unschuldigen Blick. Er sitzt ihr gegenüber. Ein Tisch und zwei Gläser Eistee trennen sie voneinander.
„Zugegeben, Leslie war heute zwei Stunden da. Aber ansonsten übe ich mich in Selbstständigkeit."
„Naja, sei es dir gegönnt, wenn du schon mal ein paar freie Tage hast."
Erwartungsvoll sieht Viola Harry nun an. Sie ist nicht nervös, auch nicht mehr aufgeregt, sondern erleichtert und glücklich, dass Harry ihr endlich wieder gegenübersitzt.
„Also, erzähl mal", fordert sie und lehnt sich gelassen zurück. Sie will alles wissen. Und sie hofft, dass ihr Harry bestätigen wird, was sie vermutet - dass er sich verändert hat und ein kleines bisschen erwachsener geworden ist.
„Wo fang ich da denn an", überlegt Harry seufzend und nimmt seine Sonnenbrille ab, damit er Viola besser in die Augen sehen kann. „Hast du schon gegooglet, oder soll ich Louis' unerwartete Familiengründung auch noch behandeln?"
„Ich hab mich zurückgehalten. Das wollte ich von dir hören."
„Gut, das ist schnell erzählt. Louis und Eleanor waren schon seit Monaten eher so 'ne On-Off-Sache. In der Zwischenzeit hats Louis etwas zu bunt getrieben und eine seiner Bekannten, Briana, wurde schwanger. Jetzt ist das Ganze mit Eleanor wohl dauerhaft off und das Management dreht durch, weil Louis diesen kleinen Skandal am Hacken hat."
Harry erzählt all das so flapsig, dass Viola skeptisch die Stirn runzelt. Er muss sich in letzter Zeit enorm mit all den Problemen der Band auseinandergesetzt haben und hat sich inzwischen entweder damit arrangiert, hat Distanz dazu gewonnen oder resigniert.
„Klingt stressig", tastet sich Viola langsam voran und sieht ihn prüfend an.
„Ist es auch, aber ehrlich gesagt, hab' ich für mich eine Entscheidung getroffen und die Jungs sind ganz bei mir", nickt Harry, während er ernst und nachdenklich dreinguckt. „Niemand von uns ist mehr glücklich mit der Richtung, in die wir uns entwickeln. Wir entwickeln uns nämlich überhaupt nicht mehr. Und das, obwohl wir alle eindeutig aus dieser Boyband-Geschichte rausgewachsen sind."
Dass Harry Neuigkeiten wie diese einfach so ausspricht, überrascht und beeindruckt Viola gleichermaßen - obwohl er diese Entscheidung bestimmt nicht „einfach so" getroffen hat. Gemma hatte es angemerkt. Harry hatte in einer Krise gesteckt, oder womöglich ist er immer noch mitten drin.
„Und das heißt?"
„Wir sind uns alle einig, dass wir so nicht weitermachen können", sagt Harry und zuckt mit den Schultern. „Also werden wir vermutlich auch nicht weitermachen. Aber offiziell ist noch nichts verkündet. Da laufen noch einige Verträge. Ein Album müssen wir auf jeden Fall noch rausbringen."
Mit jedem Wort klingt Harry müder, aber auch entschlossener. Er scheint tatsächlich eine Entscheidung getroffen zu haben und alleine das befreit ihn sichtlich.
„Für unsere Fans und das Management wird es nie den richtigen Zeitpunkt geben. Wenn wir nicht die Reißleine ziehen, werden wir in 30 Jahren immer noch fast jedes Jahr zwei Touren spielen - oder zumindest, was bis dahin von uns übrig geblieben wäre."
„Das ist ein ziemlich großer Schritt", murmelt Viola, nachdem sie nicht recht weiß, was darauf die angemessene Reaktion ist.
„Schon, aber wir haben uns jetzt lange genug beschwert und gejammert. Es wird Zeit, auch endlich etwas zu verändern. Und seitdem uns bewusst geworden ist, dass unsere Zeit als Band, die wir jetzt sind, endlich ist, können wir das Jetzige auch mehr genießen."
„Da hat sich ja wirklich viel getan", murmelt Viola beeindruckt. Sie freut sich aufrichtig für Harry, selbst wenn dessen Freude im Moment noch verhalten ist.
Etwas verändert sich und diesen großen Schritt zu gehen, bedeutet Überwindung, aber es bedeutet auch Vorankommen.
„Das hat es wirklich", stimmt Harry zu und spielt gedankenverloren mit seinem Glas. „Liam und Sophia haben sich übrigens auch getrennt."
„Was?", entfährt es Viola überrascht. „Was war denn nur los bei euch? Mir haben sie vor ein paar Monaten noch vermittelt, sie wären wunschlos glücklich in ihren Beziehungen."
„Ehrlich gesagt glaube ich, Eleanor und Sophia waren längst am selben Punkt, den du mit mir in Japan erreicht hast", gesteht Harry seufzend. „Liam und Louis haben sich genauso rücksichtlos und unentschieden verhalten, wie ich mich zu dieser Zeit dir gegenüber. In der Hinsicht sind wir uns alle sehr ähnlich. Nur haben Eleanor und Sophia es nicht geschafft, sich abzugrenzen. Sie hatten nicht diese Distanz, die uns beide eben jetzt wieder hierhergebracht hat. Entsprechend ist es eben auch mit ihnen geendet."
Alles, was Harry sagt, leuchtet Viola ein. Rückblickend betrachtet, macht das Leben plötzlich Sinn und jede Situation, auch wenn sie noch so schmerzhaft war, wird auf einmal wegweisend. Immerhin sitzt sie nun wieder hier mit Harry, oder besser gesagt mit einer neuen Version des Menschen, den sie so sehr in ihr Herz gelassen hat, aber bisher noch nicht reif genug war, um dort auch bleiben zu wollen.
„So gesehen war Nadine also tatsächlich unsere Rettung", lächelt Viola, als ihr auffällt, wie dankbar und liebevoll Harry sie ansieht.
Als dann allerdings der Name Nadine in ihrem Ohr widerhallt, versetzt es ihr einen leichten Stich in die Magengrube. „Was ist eigentlich mit dir und Nadine?", fragt sie prompt nach. Alles andere hätte ihr keine Ruhe gelassen.
„Hab ich seit deiner Abreise nicht wiedergesehen", stellt Harry kurz und bündig klar, ehe er den Spieß prüfend umdreht. „Thommy?", fragt er bloß, doch Viola weiß, was Harry in diesem Moment meint.
„Ist Geschichte", antwortet sie so kurz wie ehrlich. „Auch direkt nach meiner Landung."
Sichtlich erleichtert grinsen die beiden in sich hinein. Die Distanz hat sie noch näher zusammen gebracht, da sind sie sich einig.
„Ich hab dich schrecklich vermisst", sagt Harry schließlich direkt heraus. „Es hat sich wirklich viel verändert, aber meine Gefühle für dich nicht. Vielleicht sind sie sogar stärker geworden, weil mir klargeworden ist, wie sehr ich mich in dich verliebt habe und wie sehr ich dich bei mir haben will. Das ist mir, wie so vieles, in den letzten Monaten klargeworden."
Viola schenkt ihm ein sanftes Lächeln.
„Weißt du, Harry", überlegt sie laut. „Die Tatsache, dass du gerade nicht ununterbrochen auf mich eingeredet hast, um mich aktiv davon zu überzeugen, wie erwachsen du geworden bist, sagt eine Menge aus."
„Ich bin auch immer noch nicht ganz erwachsen geworden", gesteht sich Harry ein, woraufhin Viola nur strahlend den Kopf schütteln kann.
„Das sollst du ja auch gar nicht. Deine Leichtigkeit gehört zu dir und darin hab' ich mich auch verliebt. Du hast nur eine Richtung gebraucht, in die du dich in Zukunft orientieren kannst und du bist dabei, sie zu finden. Das ist alles, was ich wollte."
Zustimmend nickt Harry.
„Steh' bitte mal kurz auf", fordert er plötzlich und setzt seine eigene Bitte ebenfalls in die Tat um. Während er sich aus seinem Gartenstuhl erhebt, sieht er Viola an und wartet, bis sie es ihm gleich tut.
Das Gespräch ist so jäh unterbrochen, dass Viola irritiert verweilt.
„Warum?", will sie wissen, ohne sich auch nur einen Millimeter zu rühren.
Augenrollend steht Harry neben ihr und lacht herzhaft.
„An deinem Dickschädel wird sich wohl auch nie was ändern. Mach's nicht so kompliziert und steh' auf."
Diesem Befehlston will Viola schon grundsätzlich nicht Folge leisten und bleibt sitzen, doch dann spürt sie Harrys Hand an ihrem Arm, wie er sie vorsichtig, aber bestimmt, aus dem Gartenstuhl hievt.
Noch ehe sie protestieren kann, steht Harry dicht vor ihr, seine Hand in ihrem Nacken, während er sie liebevoll anlächelt. Und schon erinnert sich Viola gar nicht mehr daran, weshalb sie überhaupt protestieren wollte.
„Ein Jahr haben wir jetzt rumgeeiert. Irgendwann reicht's auch mal, oder?", grinst er, als sein Gesicht dicht vor ihrem ist und streicht ihr sanft das dunkle Haar hinters Ohr.
Viola spürt das kühle Metall seiner Ringe auf ihrer Haut. Sie weiß nicht, ob es deren kalte Oberfläche oder Harrys Berührungen sind, die ihr eine Gänsehaut über den Körper jagen, doch im Moment ist ihr das auch völlig gleichgültig.
Harry lässt bewusst Viola die Entscheidung.
Immer noch ist sein Gesicht direkt vor ihrem, seine Stirn gegen ihre gelehnt, als er sie angrinst und abwartend auf seine Unterlippe beißt.
Dieses Mal hält Viola nichts zurück. Kein anderer Mann, keine blockierenden Gedanken an die Zukunft und auch keine Sorge, dass Harry und sie zu unterschiedliche Vorstellungen haben könnten. All das liegt inzwischen hinter ihnen.
Sie haben sich mehr aufeinander zubewegt, wie sie es vor einem Jahr für möglich gehalten haben. Nun muss sie nur noch den letzten kleinen Anstoß geben.
„Da hast du absolut recht", murmelt Viola also lächelnd, erhebt sich leicht auf die Zehenspitzen und küsst Harry endlich mit all dem Gefühl, das zu lange in ihr hatte warten müssen.
Erleichtert, als sich ihre Lippen endlich berühren, beugt sich Harry noch ein Stück weiter zu Viola und erwidert ihren Kuss so hingebungsvoll, dass keinem der beiden mehr Zweifel daran bleibt, dass sie gleichermaßen auf diesen Moment gewartet haben.
Dieser Augenblick ist so wunderschön und gleichzeitig so irreal. Viola hat das Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren und im selben Moment ist sie so fest mit Harry verankert – es ist unbeschreiblich.
Es gibt keine Worte, die diesem Augenblick gerecht werden, also sagt sie das Erste, das ihr durch den Kopf schießt, als sie sich wieder voneinander lösen.
„Wehe, morgen kommt wieder irgendeine Aktion, die uns nochmal auseinanderbringt."
Lachend legt Harry den Kopf in den Nacken, hält Viola aber dicht an seinem Körper und schließt sie weiterhin in seine Arme.
„Keine Sorge, ich werde in Holmes Chapel sein. Da kann ich nicht so viel Mist bauen", erwidert er grinsend. „Und das werde ich auch in Zukunft nicht."
„Gut", seufzt Viola und glaubt seinen aufrichtigen Worten, als sie ihre Augen schließt und den Kopf gegen Harrys Brust fallen lässt.
„Achja", fällt diesem plötzlich ein. „Leyla hat-"
Nun öffnet Viola doch nochmal ihre Augen, um Harry prüfend anzusehen.
„Du denkst jetzt also an Leyla?", fragt sie neckisch und kann sich das Grinsen wieder nicht verkneifen.
„Ich denke daran, wie wir möglichst viel Zeit miteinander verbringen können", korrigiert Harry sie. „Du kannst Leyla nämlich gerne ausrichten, dass sie sich als Dank für ihre Vermittlung eine der London-Shows aussuchen kann. Ihr seid natürlich herzlich eingelanden. Oder kommt am Besten zu jeder Einzelnen. Ganz, wie ihr wollt."
„Na, wenn das so ist", lächelt Viola und vergräbt das Gesicht wieder in Harrys T-Shirt. „Das geb' ich gerne weiter."
Für heute will Viola allerdings den Tag mit Harry nutzen. Sie will seine Nähe spüren, ihm von den letzten Monaten berichten und endlich genießen, dass er nach all den Turbulenzen vorbehaltlos an ihrer Seite ist.
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