48 | von neuen Wegen
Zum ersten Mal sind Harry und Viola ihren Vorsätzen treugeblieben.
Harry geht weiterhin seinem Tourleben nach und reist durch Asien, Afrika und schließlich durch Amerika und Kanada. Er denkt oft an Viola, doch kein einziges Mal hat er sich bei ihr gemeldet oder es gewagt, ihren Namen auszusprechen.
Dass Louis und Liam ebenfalls in handfesten Beziehungskrisen stecken, spielt ihm dabei in die Karten. Niemand hinterfragt Violas plötzliche Abreise aus Japan. Jeder von ihnen hat sich längst seine eigene Geschichte zusammengesponnen, nachdem auch Nadine aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden war.
Harry ist es ohnehin völlig gleichgültig, was man von ihm denkt. Nialls skeptischer Blick fällt ihm durchaus auf, doch auch der Ire hütet sich davor, Harry ins Gewissen zu reden.
Sie alle sind ohnehin zu müde - müde vom Reisen, müde von der Bühne und müde von den ständigen Anrufen des Managements, das bereits ihre Karriere nach dem Tourende plant.
Nie hat Harry deutlicher gespürt, dass dieser Weg endlich ist. Sie werden dieses Tempo und dieses Arbeitspensum nicht mehr lange tragen können. Was niemand auszusprechen wagt, ist von Tag zu Tag deutlicher in ihren Gesichtern zu lesen.
Während Harrys Kraft weiter und weiter schwindet, sehnt er die Rückkehr nach Hause immer mehr herbei. Seine Akkus sind leer und die Freude an all seinen Freiheiten lässt nach. Es sind keine Freiheiten, wenn man sich ständig gezwungen fühlt, sie ausleben und festhalten zu müssen.
Harry weiß nicht, was es ist, das Viola in ihm augelöst hat, aber seit ihrer Abreise hat er angefangen, Einiges zu hinterfragen und fängt langsam an, zu begreifen.
Er braucht eine Konstante. Etwas, das bleibt und worauf er sich verlassen kann, während sich um ihn herum alles im ständigen Wandel befindet. Er braucht einen Punkt, den er fixieren kann, um in Zeiten wie diesen nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu Fall zu kommen.
Im Moment ist sein Lichtblick die Touretappe in Europa. Im Juli wird die Band nach ihrer Show in Massachusetts zurück nach London reisen, um dort, nach einer kurzen Pause, die Tour fortsetzen können.
Es ist die Gelegenheit, nach Hause zu kommen und das auf so vielen verschiedenen Ebenen.
Harry vermisst eine vertraute Umgebung und die Geborgenheit darin. Vielleicht kann ihn Zeit mit seiner Familie aus diesem Tief befreien.
Ironischerweise ist dieses Heimweh und der Wunsch nach Hause zu kommen, den er immer für kindisch gehalten ist, das Erwachsenste, das er je zugelassen hat.
Von One Direction und all seinen Mitgliedern will Viola nicht das Geringste wissen.
Während Harry durch die Welt tourt, erlebt Viola ihr Leben in London neu.
Sie muss nicht in die Ferne reisen. Es hat bereits gereicht, ihre Einstellung zu ändern und sich in ihrer eigenen Stadt auf Neues einzulassen.
In all den Jahren war sie stets auf etwas Bestimmtes fixiert. Zuerst war es ihr Familienwunsch und die zugehörige Partnersuche, dann war es Harry, dann war es Thommy und am Ende irgendwie beide.
Zum ersten Mal liegt der Fokus nun ganz auf ihr selbst.
In den letzten Wochen hat sie ihren Liebeskummer zugelassen, die Arbeit im Papageno neu lieben gelernt und Leylas Angebot, sich eine entspannte Zeit zu gönnen, angenommen.
Sie hat sich endlich die Zeit genommen, Leylas Freund Sam und dessen Freundeskreis besser kennenzulernen. Sie waren in Westend-Shows, haben neue Restaurants und Bars ausprobiert, waren in Museen und schließlich hat sich Viola sogar zu einer Schnupperstunde in Leylas Yoga-Kurs hinreissen lassen.
Viola ist zufrieden. Dass sie das von sich behaupten konnte, ist eine ganze Weile her.
Endlich ist sie nicht mehr auf der Jagd nach etwas, sondern genießt.
Die Vorfreude auf die bevorstehende Yogastunde hält sich allerdings noch in Grenzen.
„Das wird bestimmt gleich unglaublich peinlich", ahnt Viola, während sie ausgestreckt auf der geliehenen Yogamatte des Studios liegt. Ihre fehlende Flexibilität hat sich in der Vergangenheit nicht nur in ihren Lebensumständen manifestiert, sondern auch in ihrem Körper. „Ich bin der wohl unbeweglichste Mensch der Welt."
„Ach komm, du warst immer sportlicher als ich", winkt Leyla lachend ab und sitzt bereits in der Grätsche neben ihrer besten Freundin, um sich zu dehnen.
„Aber nur, was Cardio angeht. Laufen, klar. Was die Ausdauer betrifft, hält mich ja alleine die Arbeit im Papageno schon fit. Aber alles andere -"
Während Viola spricht und zu Leyla aufsieht, bemerkt sie, dass ihre beste Freundin plötzlich erstarrt auf ihrer Matte sitzt.
„Ist was passiert?", fragt Viola mit gerunzelter Stirn und rappelt sich auf.
Leyla hat zweifelsohne etwas gesehen, das sie so nicht erwartet hat - oder viel mehr jemanden.
„Erinnerst du dich, warum du zuerst nicht mit mir in diesen Kurs kommen wolltest?", fragt sie zögerlich und sieht Viola schon jetzt bedauernd an.
Ausdruckslos nickt Viola.
„Und erinnerst du dich auch daran, dass ich dir geschworen habe, ich hätte Gemma schon seit Ewigkeiten nicht mehr in meinem Kurs gesehen und du trotzdem darauf bestanden hast, in einen anderen zu gehen?"
Wieder nickt Viola und ahnt, was gerade auf sie zukommt. Drei Monate hat sie es geschafft, nicht mit Harry konfrontiert zu werden. Aber heute soll wohl der Tag gekommen sein, an dem sich das ändert.
„Naja, anscheinend ist das hier jetzt Gemmas Kurs", bestätigt Leyla Violas Vermutung und nickt auf eine junge Frau mit schulterlangen, blondgefärbten Haaren, deren Blick sie ebenfalls gerade trifft. „Und sie kommt auch schon her", zischt Leyla ihr noch eben zu, bevor sie ein überfreundliches Lächeln aufsetzt.
„Mensch, das ist ja eine Überraschung!", sagt Gemma und kommt strahlend auf die beiden Freundinnen zu. „Hast du etwa auch gewechselt, oder holst du nur eine verpasste Stunde nach?"
Wie selbstverständlich breitet Gemma ihre Matte neben Leyla aus.
„Äh, weder noch", antwortet diese lächelnd, aber sichtlich überrumpelt. „Ich begleite nur Viola zu ihrer Schnupperstunde", erklärt sie dann und nickt auf ihre rechte Seite, auf der sich die junge Italienerin noch von ihrem Schock erholt.
Auf den ersten Blick sieht Gemma völlig anders aus als Harry, doch wenn man um ihre Verwandschaft weiß, erkennt man ohne Zweifel einige gleiche Gesichtszüge.
„Ach was, die Viola?", staunt Gemma nicht schlecht und guckt sie mit großen Augen an. „Ich hatte ja schon drauf gehofft, dich an Harrys Geburtstag kennenzulernen, aber da haben wir uns wohl verpasst. Wie schön, dass sich unsere Wege jetzt so unverhofft kreuzen!"
Viola kann beim besten Willen nicht einschätzen, wieviel von seinem Leben Harry mit seiner Familie teilt.
Er hat seiner Schwester monatelang verschwiegen, dass er nach ihrem Blind Date überhaupt noch Kontakt zu Viola hat. Allzu viel weiß sie also scheinbar nicht über seine Beziehungen. Auch jetzt macht Gemma nicht den Eindruck, als wäre sie auf dem neusten Stand der Dinge und wüsste von der Funkstille zwischen ihr und Harry.
„Achja, ich bin Gemma", stellt sie sich nachträglich vor.
Anscheinend deutet sie Violas überfordertes Schweigen als Unwissenheit, wer gerade im Schneidersitz vor ihr sitzt und sie so breit anlächelt. „Harrys Schwester und treibende Kraft, was euer Blind Date angeht. Wow, das ist inzwischen auch schon wieder fast ein Jahr her. Wie die Zeit vergeht!"
Gemma scheint eine sehr redselige Frohnatur zu sein, was der schweigenden Viola gerade sehr in die Karten spielt. Endlich findet diese aber doch ihre Sprache wieder.
„Ohja, die Zeit verfliegt", arbeitet sie sich zunächst mit Floskeln voran. „Aber schön, dich doch noch kennenzulernen."
Leyla hat es längst die Sprache verschlagen. Sie beobachtet nur gespannt, wie sich Viola durch dieses Gespräch kämpft.
„Ich hab schon viel von dir gehört!", redet Gemma direkt weiter. „Also primär von Leyla, nicht von Harry."
„Ich hab auch schon von dir erzählt bekommen. Allerdings von Harry", erwidert Viola lächelnd.
Sie will Gemma nicht auf die Nase binden, dass Harry und sie schon länger den Kontakt abgebrochen haben, doch anlügen will sie sie auch nicht. Sie hofft einfach, dass dieses Thema nicht weiter aufkommen wird.
„Tut mir leid, dass ich euch beide aufeinander losgelassen habe", sagt Gemma entschuldigend. „Aber ich dachte, ihr könntet einander ganz gut tun. Der Kerl ist in mancher Hinsicht einfach unfähig und wohin das führt, sehen wir ja gerade. Ich hoffe, er kriegt das wieder hin. Die Zeit Zuhause wird ihm erstmal gut tun."
In Gemmas vagen Aussagen sind so viele Informationen, die sie erst einmal verarbeiten muss, dass Viola schon wieder die Worte fehlen.
Auch wenn Gemma wohl davon ausgeht, weiß Viola nicht, wohin Harrys Unfähigkeit geführt hat oder was er wieder hinkriegen sollte. Und sie hatte bis eben auch nicht gewusst, dass er bald nach Hause kommen würde.
„Mhm", gibt Viola zunächst die Verständnisvolle und schiebt anschließend direkt eine Floskel, mit der sie nichts falsch machen kann, hinterher. „Das renkt sich bestimmt wieder ein."
„Ich hoffe es. Aber dieser Punkt war wohl mal nötig und auch unausweichlich. Er klingt, als würde er endlich mal einsehen, dass er sich doch für eine Richtung entscheiden muss und seine ewige Abenteuerreise nicht glücklich macht", seufzt Gemma. „Es hat schon was zu bedeuten, wenn Harry mal nach Hause kommt, anstatt die Zeit weiterhin in den USA zu verbringen."
Sie muss wirklich davon ausgehen, dass sich Viola und Harry immer noch sehr nahe stehen. Ansonsten hätte Gemma wohl kaum direkt solche Töne angeschlagen.
„Ja, das schadet ihm bestimmt nicht", nickt Viola bloß und lächelt schwach.
Auch all diese Informationen muss sie zunächst sortieren. Es klingt, als würde es Harry aktuell nicht gut gehen und als würde er immer noch damit hadern, erwachsen zu werden.
Viola hat nicht mitbekommen, was in Harrys Karriere vor sich geht, ob er sich weiter mit Nadine getroffen hat oder mit welchen Models und Kindereien er sich die Zeit sonst so vertrieben hat, während er die Welt bereist.
Was sie sehr wohl mitbekommt ist, dass der Gedanke, er könnte unglücklich sein, schmerzt.
„Wie gesagt, es tut mir leid, dass ich dir diesen Kindskopf zugemutet habe. Aber ganz vergeblich waren Leylas und meine Bemühungen ja nicht. Schön, dass ihr euch trotz all der Unterschiede so gut versteht", sagt Gemma breit lächelnd.
Zum ersten Mal in diesem Gespräch muss Viola nicht überlegen, was sie sagt.
„Dafür musst du dich absolut nicht entschuldigen, ich bin dir dankbar", versichert sie Harrys Schwester ehrlich. „Er hat mich in meinem Leben sehr viel weitergebracht und bereichert. Ich bin wirklich froh, dass wir uns begegnet sind."
Auch wenn sie das unmittelbar nach ihrer Abreise aus Japan noch anders gesehen hat, denk Viola inzwischen gern an die Zeit mit Harry. Er ist ein wertvoller Mensch mit dem Herz am rechten Fleck, doch sie waren an zu unterschiedlichen Punkten, um zueinander finden zu können.
Aber immerhin hat er sie nun an diesen Punkt geführt und hier ist Viola im Moment sehr glücklich. Sie hofft nur, dass Harry das auch behaupten kann.
„Und da geht es ihm ganz genauso, da bin ich mir sicher", freut sich Gemma über Violas Worte. „Vielleicht sehen wir uns ja, wenn er hier ist. Ich würde mich freuen!"
„Ja, mal sehen. Ich mich auch", lächelt Viola zurück, obwohl sie daran wohl eher nicht glaubt.
Endlich schaltet sich auch Leyla wieder ein.
„Ich glaube, wir fangen an", bemerkt sie und nickt zur Vorderseite des Raumes, wo sich soeben die Yogalehrerin in Position bringt.
Eine entspannende Yogastunde - das kann Viola nun mehr als alles andere brauchen.
Die Balance hat sie allerdings spätestens nach dieser Begegnung mit Gemma wieder verloren.
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