47 | von den Zwanzigern
Mit verquollenen Augen liegt Viola auf Leylas Bett. Nach ihrer verfrühten Rückkehr war ihre beste Freundin der einzige Mensch, den sie sehen wollte.
Alarmiert hat Leyla sie sofort vom Flughafen abgeholt und schließlich fürsorglich versucht, sie für sämtliche Getränke und Süßigkeiten zu begeistern. Viola jedoch verweigert alles davon und will stattdessen endlich ihren Frust loswerden, der sich während ihrer kurzen Zeit in Japan angestaut hat.
Mit großen Augen hört Leyla ihr zu, während Viola erzählt.
Sie hört von Lou, von Violas plötzlichen Gefühlsausbruch Harry gegenüber, von dem Morgen, den Viola so sehr in Harrys Armen genossen hat, von ihrem feuchtfröhlichen Abend mit Eleanor und Sophia, von dem ernüchternden Streit, als plötzlich Nadine in Harrys Hotelzimmer stand und schließlich von ihrem letzten Gespräch mit Harry.
„Sag mal", staunt Leyla baff. „Du warst doch nur ein paar Tage weg. Wie kann das so plötzlich aus dem Ruder laufen?"
„Ich versteh es auch nicht", seufzt Viola unter leichtem, leisen Schluchzen und zuckt resigniert mit den Schultern. „Wenn Harry da ist, setzt in meinem Kopf irgendetwas aus. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich kurz wirklich gedacht habe, wir hätten eine Chance."
Leyla leidet aufrichtig und ehrlich mit ihrer besten Freundin. Sie hat die junge Italienierin schon oft frustriert erlebt, weil sie keinen potenziellen Verehrer ausfindig machen konnte, doch diese Traurigkeit, die sie jetzt an den Tag legt, kennt Leyla noch nicht. Ihr fehlen die tröstenden Worte, doch die gibt es in diesem Falle wohl auch nicht.
„Ich kenne Harry nicht", sagt sie schließlich. „Und ich kann ihn definitiv nicht einschätzen. Aber wenn ihr euch letztendlich einig wart, dass es besser ist, getrennte Wege zu gehen, dann ist es wohl wirklich so."
Energisch nickt Viola und schnell plötzlich von der Matratze auf. Die Erinnerung, die ihr eben gekommen ist, bringt sie direkt wieder so in Rage, dass sie nicht auf Leyla Bett liegen bleiben kann.
„Das ist es ja!", regt sie sich offen auf. „Zuerst ist er der liebste Kerl der Welt und beteuert, wie sehr er mich an seiner Seite haben will. Und dann baut er Mist mit dieser ganzen Nadine-Nummer und plötzlich hat er seine Meinung geändert! Er hat nicht mal mit einem Wort versucht, mich umzustimmen. Ich erwarte ja keine großen Gesten oder dass er mich am Flughafen noch aufhält, aber da kam gar nichts! Es war ihm einfach zu viel Stress! Und dann kann es mit seinen Gefühlen ja nicht besonders weit her gewesen sein."
Violas Gefühle hingegen sind verletzt, das wurde Leyla in den letzten Stunden mehr als klar. Sie ist so gekränkt und traurig darüber, dass alles, was sie sich für kurze Zeit ausgemalt hat, niemals Wirklichkeit werden wird, dass sie kein Auge mehr für das hat, was stattdessen vor ihr liegen kann.
Jede geschlossene Tür ist eine neue Chance, aber im Moment würde Viola nur zu gerne noch etwas an der Verschlossenen rütteln.
„Und Thommy?"
„Ich muss mich von ihm trennen, sobald ich wieder halbwegs klar denken kann", sagt Viola entschieden. „Er wird ahnen, dass etwas nicht stimmt. Ich hab' mich kaum gemeldet. Er weiß nicht mal, dass ich schon wieder zurück bin."
Verständnisvoll nickt Leyla, während Viola direkt weiter jammert.
„Ich hätte mir diese ganze Reise sowas von sparen können. Alles hätte ich mir sparen können", brummt die Italienerin wütend in Leylas Kissen, als sie sich wieder zurück auf das Bett fallen lässt.
Ihre beste Freundin kann dem allerdings nicht ganz zustimmen.
„Das stimmt nicht", ist sich Leyla sicher. „Du hast dich enorm verändert, seitdem du Harry kennengelernt hast – aber im guten Sinne. Du warst drauf und dran deine Zwanziger zu überspringen, weil du dir immer so sicher warst, wohin deine Reise geht. Aber die Zwanziger sind dazu da, um genau das rauszufinden und zu erkennen, wer man überhaupt ist. Das bedeutet zwar auch ein paar schmerzhafte Erfahrungen, wie du gerade feststellst, aber im Grunde ist es unheimlich aufregend. Das wäre dir alles entgangen und irgendwann hättest du dich bestimmt geärgert."
Überrascht sieht Viola sie an. Leyla hat recht und sie klingt vernünftiger als alles, was sie in den letzten Monaten gehört hat.
„Und wann bist du so weise geworden, meine Liebe?", fragt sie argwöhnisch.
Lachend zuckt Leyla mit den Schultern.
„Tja, auch ich bin in meinen Zwanzigern. Und ich bin froh, dass ich dich habe. Wir machen uns jetzt erstmal 'ne schöne, aufregende Zeit, ja? Und dann ergibt sich bestimmt alles von ganz allein."
„Vorher muss ich aber noch zu Thommy", wendet Viola seufzend ein. „Und ich bringe es wohl schnellstmöglich hinter mich."
Das Gespräch mit Thommy ist der letzte, unangenehme Schritt, den sie nun noch gehen muss. Danach will sie all das Gefühlschaos hinter sich lassen und, wie Leyla eben so schön gesagt hat, ihre Zwanziger genießen.
Thommys Blick, als er die Türe öffnet und seine Freundin dort stehen sieht, spricht Bände.
Zuerst ist es Überraschung, die dann aber einer bösen Vorahnung weicht. Als Viola schließlich auch noch den berühmtberüchtigten Satz „Wir müssen reden" fallen lässt, weiß er ganz genau, wohin dieser Besuch führen wird.
„Und du bist extra von Japan hierhergeflogen, um mit mir zu reden?", fragt er schnippisch, als er ohnehin schon weiß, was auf ihn zukommt. Violas bedrückter Gesichtsausdruck sagt schon alles, was gesagt werden muss.
„Ich wollte dich schon in Japan anrufen, hab dich aber nicht erreicht. Aber jetzt bin ich sowieso wieder hier", erklärt sich Viola ehrlich. Die Details, weshalb sie schon wieder in London ist, will sie ihm ersparen.
„Na dann", sagt Thommy mit auffordernder Geste, als er Viola in die Küche führt, sich dort ein Glas Wasser einschenkt und sich noch nicht einmal die Mühe macht anzubieten, dass sie sich setzen sollten. „Sag's. Säg mich ab."
Viola war längst bewusst, dass Thommy weiß, weshalb sie hier ist. Seine abweisende Art macht ihr trotzdem zu schaffen.
„Es tut mir wirklich leid", murmelt sie und hört selbst, wie lächerlich und armselig sie klingt.
Humorlos lacht Thommy auf und kehrt ihr den Rücken, als er zu einem der Küchenstühle läuft und sich dort auf die Rückenlehne stützt, um einmal tief durchzuatmen.
Es ist das erste Mal, dass Viola eine Beziehung beendete, doch offenbar stellt sie sich auch nicht sonderlich geschickt an.
Thommy scheint zu erwarten, dass sie etwas sagt, aber grundsätzlich hat sie dem nichts mehr hinzuzufügen. Er hat es bereits auf den Punkt gebracht.
„Sag was, Viola!", fordert er verärgert und funkelt sie an.
Sie hätte so viel sagen können. Thommy hätte es verdient, Erklärungen und Entschuldigungen zu hören, doch sie verharrt bloß in Schweigen.
Thommy hat jedes Recht dazu, wütend zu sein. Sie kreuzt hier auf und stellt ihn vor vollendete Tatsachen, ohne mit ihm gesprochen zu haben und ohne ihm auch nur die Chance gegeben zu haben, etwas zu ändern. Aber egal, was er getan oder gesagt hätte - für die beiden als Paar gibt es keine Zukunft und vermutlich hat es sie auch nie gegeben.
„Es tut mir wirklich leid, Thommy", wiederholt sie sich, als Viola endlich ihre Sprache wiedergefunden hat. „Es passt einfach nicht, wir machen einander nicht zu hundert Prozent glücklich."
Wissend mustert Thommy sie und schnaubt einmal verächtlich.
„Und das fällt dir urplötzlich ein, während du ein paar Tage bei Harry bist?"
„Das tut doch nichts zur Sache, was genau mich das jetzt hat erkennen lassen", versucht Viola ihn zu überzeugen, doch Thommy ist längst in seinem Film gefangen.
„Für wie blöd hältst du mich denn, Viola?", erhebt er plötzlich erschreckend laut seine Stimme.
Viola hat nicht erwartet, dass Thommy so rasend vor Wut sein kann. Sie hat unterschätzt, was verletzte Gefühle aus einem Menschen machen können, obwohl sie es am eigenen Leib erfahren hat. Alleine der Gedanke an Harry reicht, um sie gereizt zurückkeifen zu lassen.
„Harry wird in Zukunft genauso wenig Teil meines Lebens sein wie du", schnaubt sie Thommy entgegen, ehe sie ihm den Rücken kehrt und das Gespräch, das kaum angefangen hat, schon wieder für beendet erklärt. „Aber glaub doch, was du willst."
Und plötzlich ist sie doch erleichtert, dass es so gekommen ist und sie bereits nach knapp drei Monaten mit ihm diesen Schlussstrich ziehen kann, ehe sie sich noch mehr in diese Vorstellung verrennen konnte.
Sie hat keinen Nerv, sich Thommy lange zu erklären. Er hätte ihr ohnehin nicht geglaubt und nicht mit sich reden lassen.
Immerhin hat Viola damit den Beweis dafür, dass Thommy doch nicht so erwachsen ist, wie er sich stets gibt.
Langsam bezweifelt sie, dass die Menschen überhaupt je erwachsen werden.
Als Thommys Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt, ist sie endlich frei. Zwar will sich diese Gefühl noch nicht recht einstellen, doch die Zeit wird den Schmerz vergehen lassen.
Ihr ist bewusst, dass immer wieder Gespräche und Fragen aufkommen werden, die die Wunden wieder aufreissen, aber selbst die werden vergehen. Selbst ihre Eltern werden bald verstehen, dass weder Thommy, noch Harry ein Thema ist, das in Violas Nähe angesprochen werden sollte.
Erstmal soll es nun nur sie selbst geben, aber nicht auf eine einsame, egoistische Art und Weise.
Sie will zunächst nur einen Fuß vor den Anderen setzen und irgendwann, wenn sie wieder aufsieht und erkennt, wohin sie überhaupt gelaufen ist, wird sie sicherlich froh darüber sein.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro