41 | von überfälligen Gesprächen
Harry und Viola jagen in dieser Nacht dieselben Geister. Es ist das schlechte Gewisssen ihrer derzeitigen Partner gegenüber, die Angst davor, falsche Entscheidungen zu treffen und die Gewissheit, Menschen zu verletzen - all das raubt ihnen den den Schlaf.
Ihre Gedanken kreisen um die Zukunft und bescheren den beiden eine schlaflose Nacht.
Dennoch verspürt Viola auch eine Erleichterung. Bei allem Unangenehmen, das nun auf sie zukommen mag, hat sie einen wichtigen Schritt bereits getan. Sie hat endlich eingesehen, was sie wirklich will und dass das, was sie sich in London mit Thommy vorgemacht hat, der falsche Weg ist.
Die Frage, ob Harry und sie tatsächlich eine Zukunft haben können, bleibt trotzdem offen - aus altbekannten Gründen, als auch wegen neu entstandener Hindernissen.
Viola weiß nicht, ob sie wirklich erwartet hat, Harry würde ihre Gefühle mit Kusshand erwidern, nach all dem Hin und Her. Mit einer trotzigen Reaktion, wie er sie nach dem Konzert an den Tag gelegt hat, hat sie aber jedenfalls nicht gerechnet. Entsprechend flau ist das Gefühl in ihrem Magen, als der nächste Tag anbricht.
Am Liebsten würde sie schon um 6 Uhr morgens seine Suite stürmen, um endlich zu sagen, was gesagt werden muss und um seine Sicht der Dinge zu hören. Doch Harry hat heute noch eine Show zu spielen, ehe er neun wohlverdiente Off-Tage genießen darf. Die Nerven, ihm nun seinen Schlaf zu rauben, besitzt Viola bei aller Ungeduld nicht.
Das ist allerdings auch überhaupt nicht nötig, denn bereits um 7 Uhr morgens klopft es energisch an Violas Hotelzimmertür. Wie elektrisiert springt sie aus ihrem Bett, ganz gleich wie zerzaust sie von all dem hin und her wälzen aussieht. Sie weiß, wer sie zu so früher Stunde aufsucht, noch ehe sie die Türe aufreisst.
In einem weißen, ausgeleierten Rolling Stones-Shirt und in kurzer, schwarzer Jogginghose steht Harry am Hotelflur und sieht nicht weniger müde aus wie Viola.
„Du hast doch auch nicht mehr geschlafen, oder?", fragt er leise, als sich die Hotelzimmetür öffnet, als hätte er Angst, andere Hotelgäste zu wecken.
Seufzend schüttelt Viola den Kopf und tritt einen Schritt zur Seite, damit der Sänger hereinkommen kann und schließt die Türe hinter ihm.
„Nein, mir geht viel zu viel durch den Kopf", gesteht die junge Frau ehrlich, während sich Harry bereits in den großen Sessel, der an der großen Fensterfront, die gerade noch von dunklen Vorhängen verdeckt wird, sinken lässt.
„Geht mir genauso", stimmt Harry mit ein und kommt direkt auf das Wesentliche zu sprechen. „Du hast mich vorhin echt kalt erwischt, ich hab' damit einfach nicht mehr gerechnet. Ich dachte, es würde überhaupt nicht mehr zur Debatte stehen, dass wir jetzt einfach dieses Freundschafts-Ding durchziehen."
„Das dachte ich auch, aber... wie gesagt, ich kann das nicht", erwidert Viola gequält und setzt sich mit reichlich Sicherheitsabstand zu Harry auf die Kante ihres Bettes. Im Blick hat sie ihn trotzdem. Sie will in seine Augen sehen, auch wenn es sie Überwindung kostet, als sie ihm endlich offen ihre Gefühle gesteht. „Du weißt, dass ich mehr als Freundschaft für dich empfinde. Du hast es in LA und wahrscheinlich sogar schon vorher in London gemerkt."
Ein leichtes, sanftes Lächeln huscht über Harrys Gesicht, obwohl er sich bemüht, ernst zu bleiben.
„Ja, hab ich", bestätigt er gefasst und streicht sich mit beiden Händen die langen Locken aus dem Gesicht. „Und ich hab' auch gemerkt, dass du nichts davon zulassen wolltest, weil es keinen Sinn gemacht hätte. Ehrlich gesagt hatte ich da sogar noch den Plan, dich im Laufe der Zeit von meinem Leben und meinen Zukunftsvorstellungen zu überzeugen, damit du endlich einsieht, dass wir doch eine Chance hätten, aber.. dann kam Thommy."
„Lassen wir Thommy kurz mal aus dem Spiel", bittet ihn Viola. „Denkst du wirklich, wir hätten eine Chance?"
Dieses Mal steht Harry ein Lächeln im Gesicht, das von längerer Dauer ist. Es ist dieses leicht amüsierte, unbesorgte Lächeln, das Viola bei ihrem ersten Treffen so verflucht und dann doch lieben gelernt hat.
„Wir sind nicht mehr die Menschen, die sich im vergangenen Juni im diesem Sushi-Restaurant gegenübergesessen haben", ist sich Harry sicher. „Die beiden hätten nämlich wirklich nicht die geringste Chance gehabt. Aber inzwischen hat sich doch einiges verändert. Du schätzt Unabhängig und Selbstständigkeit in einer Beziehung. Und du willst die Zeit, in der du noch verantwortungslos sein kannst, genießen. Das ist doch ein riesiger Schritt", sagt er nahezu stolz über Violas Entwicklung.
Einsichtig seufzt Viola und muss unwillkürlich ebenfalls lächeln.
„Und was ist mir dir?", fragt sie dann. „Hast du deinen Standpunkt auch geändert?"
„Natürlich!", nickt Harry energisch. „In so vielen Punkten sogar. Ich habe zum Beispiel eingesehen, dass nicht jedes Bild, das ich von mir habe, der Wahrheit entspricht. Ich muss nicht mein Leben lang dieser Künstler von Welt sein, für den ich mich gerne halte. Ich halte meine Familie oft auf Distanz, damit es am Ende nicht so weh tut, wenn ich wieder gehe. Aber eigentlich zwingt mich ja überhaupt niemand ständig wieder zu gehen. Mich treibt bloß mein riesen Ego."
Harrys reflektierte, einsichtige Worte berühren Viola. Sie will nicht sagen, dass Harrys Wandel einzig ihr Verdienst ist, aber scheinbar haben sie einander doch inspiriert.
„Und ganz ehrlich", seufzt Harry weiter. „Wie lange wir dieses Tourleben noch mitmachen, weiß ich nicht. Wir haben gerade mal angefangen, sind jetzt schon wieder ausgelaugt und parallel bekommen wir schon wieder Druck, das nächste Album auf den Weg zu bringen. Aber das ist wieder eine andere Baustelle, gerade geht es jetzt mal um uns."
Uns. Es exisitiert ein wir, es hat immer existiert. Alleine diese Tatsache lässt Viola in sich hineinlächeln, während Harry weiterspricht.
„Ich kann dir nicht versprechen, dass ich eines Tages all das will, was du dir in deiner Zukunft vorstellst. Für den Moment kann ich dir nur sagen, dass ich mich sehr wohl in dich verliebt hab' und mein gesamtes Umfeld das auch gemerkt hat. Deine Art tut mir gut. Ich kann offen mit dir reden, muss und kann dich wahrscheinlich auch gar nicht beeindrucken und das ist auch gut so. Aber ich will nicht, dass du dir eines Tages denkst, du hättest deine Zeit mit mir vergeudet, weil ich dir letztendlich nicht das geben kann, was du immer wolltest."
Harrys Stimme klingt so tief und ruhig, dass sie Viola beinahe eine Gänsehaut über den Körper jagt. Vielleicht liegt es aber auch an der Wichtigkeit dieses Moments.
„Vielleicht hattest du von Anfang an Recht und ich weiß doch noch nicht, was ich wirklich bin will", gesteht sich Viola zögernd ein, nachdem sie Harrys Worte hat sacken lassen. „Zumindest, was die Zukunft angeht. Für den Moment weiß ich es nämlich sehr wohl."
Sie wirft Harry einen Blick zu, der alles sagt und dem Sänger sofort ein sanftes Strahlen ins Gesicht zaubert.
Lächelnd streckt er seine Arme aus.
„Komm her."
Zögerlich steht Viola auf und kommt auf Harry in seinem Sessel zu. Es ist das alte Lied, das sich seit ihrem ersten Treffen immer wieder abspielt. Während Harry selbstsicher und unbekümmert vor sich hin grinst, denkt Viola viel zu viel nach, je näher sie ihm kommt. Als sie direkt vor ihm steht und nicht recht weiß, wohin mit sich und wie sie mit ihm umgehen soll, rollt Harry lachend mit den Augen und zieht sie sanft zu sich.
Ungelenk landet Viola halbwegs in dem großen Sessel, teils auch auf Harry selbst. Zeit sich unbehaglich zu fühlen, lässt ihr der Sänger nicht und schließt sie stattdessen fest in die Arme.
„Sag bloß, wir sind uns zum ersten Mal einig", scherzt er und blickt auf die Dunkelhaarige, während er sie immer noch gegen seinen Körper drückt. „Wir leben also nicht in der Zukunft und bleiben im Hier und Jetzt?"
Lächelnd nickt Viola und bemüht sich um eine halbwegs stabile Haltung auf Harry, als der sie wieder loslässt. „Ja, bitte", seufzt sie und spürt seine Hand sanft über ihren Rücken streicheln.
„Gut, denn gerade bin ich mir sicher, dass ich das hier tun sollte", murmelt Harry leise vor sich hin und bringt endlich das zu Ende, was sie vor drei Monaten in LA angefangen haben.
Entschlossen legt er seine Hand in Violas Nacken und zieht sie zu einem Kuss heran, der alles, was sie bisher erlebt hat, in den Schatten stellt. Seine Berührugen lösen ein regelrechtes Feuerwerk in ihr aus, das sofort alle Zweifel in ihr niederbrennt.
Sie spürt den Stoff seines Tshirts und Harrys warme Haut darunter unter ihrer linken Handfläche, während sich die andere in seinen braunen Locken vergräbt.
Ihre Küssen werden intensiver, als er sie auf seinen Schoß zieht und immer wieder spürt sie Harrys Lächeln gegen ihre Lippen, was Viola bloß noch mehr Sicherheit gibt.
Warum hat sie sich dieses unbeschreibliche Glücksgefühl nur so lange verwehrt und ist nicht längst diesen Schritt auf Harry zugegangen?
Auf einen Schlag erstarrt Viola wieder und schnellt zurück. Sie hatte es gestern noch selbst gesagt: Ich kann Thommy nicht betrügen.
Und daran hat sich auch nichts geändert. Ob es für diesen noblen Vorsatz nicht ohnehin schon zu spät ist, will Viola nicht lange hinterfragen. Immerhin kann sie die Notbremse ziehen, solange sie ihre Werte noch nicht vollkommen über Bord geworfen hat.
„Stopp", hält sie Harry abrupt auf, als dessen Hand weiterhin über Violas Körper wandert. „Ich kann das nicht, ich muss zuerst mit Thommy sprechen."
Dass ihr diese Worte ausgerechnet über die Lippen kommen, während sie rittlings auf Harry sitzt, erschreckt die Italienerin selbst.
Als hätte er das bereits kommen sehen, lässt Harry leidend den Kopf zurückfallen und schließt seufzend die Augen.
„Es wäre auch zu schön gewesen", raunt er, muss aber immer noch etwas grinsen. „Aber ich bin ja schon für alles dankbar, was wir heute endlich geschafft haben."
Verständnisvoll zieht er Viola wieder zu sich,
sodass sie zusammengekauert neben ihm auf dem Sessel liegt und schließt sie wieder in die Arme.
„Wir können nicht schon so falsch starten", versucht sich Viola zu erklären. „Wir müssen erstmal alles andere abwerfen, um uns eine Chance zu geben und uns dann auf uns zu konzentrieren."
„Klar, das ist nur fair", nickt Harry einsichtig. „Wir müssen nichts überstürzen. Sprich erstmal mit Thommy."
„Ich will persönlich mit ihm sprechen", kündigt Viola entschlossen an, um Harry klarzumachen, dass diese Sache nicht innerhalb weniger Stunden geklärt sein wird.
Kurz zögert er, nickt dann aber wieder verständnisvoll. „Na schön. Ich wollte dich allerdings ein wenig hierbehalten, immerhin hab ich bald ein paar Tage frei. Denkst du, du kannst die Zeit genießen, wenn dir dieses Gespräch mit Thommy noch bevorsteht?"
Im Moment ist Viola so erfüllt von Glückgefühlen, dass sie sich alles zutrauen würde. „Ja. Ja, ich glaube schon. Ich hab' die Zeit mit dir immer genossen."
„Und ich hab' ehrlich gesagt immer gewusst, dass du mit Thommy nicht glücklich werden wirst. Ich hab' es dir immer gewünscht, aber ich hab' immer geahnt, dass er nicht zu dir passt, obwohl alles darauf hingedeutet hat", gesteht Harry. „Insgeheim dachte ich mir immer, dass wenn ich dich schon nicht halten kann, ich dich zumindest auffangen kann, solltest du je zu Fall kommen. Womöglich wollte ich dich deshalb immerhin als Freundin in meiner Nähe behalten."
Lächelnd sieht Viola zu Harry auf.
„Hm, da ist dein Plan ja gut aufgegangen", grinst sie glücklich und will im Moment nicht daran denken, dass sie Thommy das Herz brechen muss.
„Gemmas Plan ist gut aufgegangen", korrigiert Harry sie lachend und ist sichtlich glücklich.
So lange haben sie darauf gewartet, einander auf diese Art im Arm zu halten. Sie haben längst nicht alle Hindernisse gemeistert, doch das Größte scheint überwunden.
Am Liebsten würden die beiden auf ewig genau so, hier in Violas leisem Hotelzimmer bleiben und den Moment genießen - doch so läuft ihre Beziehung nicht.
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