40 | von neuen Interpretationen
Der Lärm im Stadion ist für Viola nahezu unerträglich. Selten hat sie jemanden so beneidet, wie Lux in diesem Moment um ihre schützenden Kopfhörer. Dass Harry erwähnt hat, die asiatischen Fans wären um Einiges ruhiger als im Rest der Welt, verstört Viola noch mehr. Als die Jungs auf der Bühne sprechen und ein neues Lied einleiten wollen, werden sie fast von lauten, kreischenden Mädchenstimmen übertönt. Viola will gar nicht wissen, wie dann das Publikum im Rest der Welt klingen muss.
„Man gewöhnt sich dran", lächelt sie Lou verständnisvoll an, als sie Violas skeptischen Gesichtsausdruck bemerkt - und sie sollte recht behalten.
Die Frauen stehen am Rande der Bühne, getrennt durch Absperrungen und Securities von Fans, die Stehplätze direkt vor der Bühne ergattert hatten. Dass alle Augen auf die vier Jungs dort oben gerichtet sind, kommt ihnen in diesem Moment zu Gute. Niemand interessiert sich für Sophia, Eleanor und Lou, die in Fan-Kreisen ebenfalls bekannte Gesichter sind und stellen sich nicht unnötig die Frage, wer die unbekannte, dunkelhaarige kleine Frau bei ihnen ist.
Deren Blick ist inzwischen nämlich auch zur Bühne gewandert und der Ausdruck, der ihr im Gesicht steht, spricht Bände. Als Viola Harry beobachtet, wie er von einer Seite der Bühne zur anderen läuft, ehe er den langen, schmalen Gang in der Mitte entlang tanzt und dabei auch noch unsagbar gut singt, steht ihr ein verträumtes Lächeln im Gesicht. Harry hat sichtlich Spaß, spielt mit dem Publikum und als er auf der Seite der Bühne herumtänzelt, an der Viola steht, könnte sie schwören, ihre Blicke hätten sich kurz getroffen.
Für einen Moment fühlt sie sich so elektrisiert, wie sich Harry und seine Fans wohl den ganzen Abend lang fühlen müssen.
Und jetzt kann Viola auch verstehen, wovon Harry gesprochen hat. Man erlebt Lieder tatsächlich anders und passt sie den eigenen Emotionen an.
Sie kennt One Directions Songs und hat sie oft genug beiläufig mitgesungen oder stumpf im Hintergrund laufen lassen. Heute hingegen glaubt sie sich selbst oder Harry in jeder verfluchten Zeile wiederzuerkennen. Plötzlich hat Viola ihre ganz eigene Interpretation der Lieder der Boyband - als hätte Harry schon vor Jahren, in alten Songs, über ihre verfahrene Beziehung zueinander geschrieben.
There's a future in my life I can't foresee
Unless of course I stay on course
And keep you next to me
There will always be the kind that criticize
But I know, yes I know we'll be alright
This time I'm ready to run
Escape from the city and follow the sun
'Cause I wanna be yours
'Cause you wanna be mine
I don't wanna get lost in the dark of the night
This time I'm ready to run
Wherever you are is the place I belong
'Cause I wanna be free
And I wanna be young
I'll never look back now I'm ready to run
Harry, Liam, Louis, Niall - sie alle müssen von ihrer und Harrys Situation singen, glaubt Viola. Sie hört vertonte Liebeserklärungen wie diese und muss unwillkürlich an Harry, anstatt an Thommy denken.
Es gab so viele Momente, in denen sie gerne nicht an die Zukunft gedacht hätte und einfach losgelaufen wäre - mit Harry. Immerhin haben sie wirklich etwas gemeinsam, was nicht ganz unwichtig zu sein scheint: Sie wollen zusammen sein.
Sie wollten zusammen sein, ruft sich Viola schnell in Erinnerung. Immerhin hat sie nun Thommy und Harry hat Nadine.
Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Sie hat das Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen, so viele Gefühle, die sie fein säuberlich vergraben hat, kommen urplötzlich wieder ans Licht. Plötzlich all diese emotionalen Texte um die Ohren gehauen zu bekommen - und das auch noch unter anderem mit Harrys Stimme - ist zu viel für die junge Frau.
Gerade als sie sich vornimmt, sich wieder zusammenreißen zu müssen und sie ihren Fokus wieder auf das Hier und Jetzt richten will, fängt Harry an, ein weiteres Lied anzustimmen.
You don't understand, you don't understand
What you do to me when you hold his hand
We were meant to be but a twist of fate
Made it so you had to walk away
Und schon beginnt Violas emotionale Berg- und Talfahrt wieder von vorne. Und bei dieser Zeile ist es noch nicht einmal Thommy, der ihr dabei durch den Kopf schießt. Sie denkt an Harry und Nadine und an das Bild, das sich auf der Geburtstagsparty des Sängers in ihren Kopf gebrannt hat.
Es hat tiefere Wunden hinterlassen, als sie sich eingestehen will, Harry mit einer anderen Frau zu sehen. Sie will diese Frau sein.
Sie selbst gehört an Harrys Seite, das hat sie schon vor langer Zeit erkannt. Und heute hat es ihr das Schicksal noch einmal gebündelt vor Augen geführt.
„Alles gut?", fragt Lou nach einer Weile prüfend, als Viola merklich blass um die Nasenspitze neben ihr steht und mit leerem Blick auf die Bühne starrt.
„Ich... ich glaube schon", weiß sich Viola gerade selbst nicht einzuschätzen. „Ich... Mir ist das hier gerade einfach etwas zu viel. Ich warte in Harrys Garderobe."
Verständnisvoll nickt Lou.
„Es ist eh bald vorbei. Soll ich mitkommen?"
„Nein, nein", schüttelt Viola den Kopf und ringt sich zu einem schwachen Lächeln durch. „Aber danke."
In Harrys Garderobe dreht sich Violas Gedankenkarussell unaufhörlich weiter.
Gesteht man sich erst einmal etwas ein, von dem man längst wusste, dass es existiert, drängen sich plötzlich all die Fragen auf, die man so sehr gescheut hat. So geht es Viola mit ihren Gefühlen für Harry.
Harry bedeutet alles, was sie nie vom Leben wollte. Er bedeutet Unruhe, Spontanität, keine Sicherheit und nichts Planbares.
Sie würde ein Leben wie Sophia und Eleanor führen und in den beiden jungen Frauen kann sie sich kein Stück wiedererkennen.
Allerdings bedeutet Harry auch Harry. Und das ist etwas, das ihr Thommy niemals geben kann, egal wieviele Kinder er will oder wie schnell er mit Viola in ein Einfamilienhaus ziehen wird.
Während Viola noch grübelt, ob sie ihre starren Zukunftsvorstellungen, die durch Harry ohnehin schon sehr viel flexibler geworden sind, völlig loslassen kann, steht der Ursprung dieses Gefühlschaos plötzlich wieder vor ihr.
Verschwitzt, aber sichtlich glücklich steht Harry lachend vor dem Sofa, auf dem sich Viola zusammengerollt hat und verbeugt sich theatralisch.
„Ich hoffe, du hast die Show genossen", grinst er, läuft einmal um das Sofa herum und schlägt Viola einmal lässig auf den Oberarm.
„Komm schon, nicht so schlapp! Ich bin noch voll auf Adrenalin."
Gerade weiß Viola tatsächlich nicht, wer von ihnen die anstrengenderen Stunden hinter sich hat. Sie jedenfalls weiß, dass sie keinen weiteren Tag mit all den unausgesprochenen Gefühlen, die sie während dieses Tages so unvorhergesehen überrollt haben, ertragen kann.
Mit einer Wasserflasche und dem Handtuch, mit dem er sich immer wieder den Schweiß aus dem Gesicht wischt, lässt sich Harry nun neben Viola fallen und sieht sie zunehmend besorgt an, als diese sich ebenfalls wieder aufrecht hinsetzt.
„Alles gut? War die Show denn so schlecht", fragt er belustigt, trotzdem aber mit hörbarem Ernst in der Stimme.
Viola muss wissen, wo sie stehen.
Sie müssen endlich offen reden. Sie muss wissen, ob Harry überhaupt noch genauso empfindet wie sie, oder ob er sich längst wirklich mit der Freundschaft zwischen ihnen abgefunden hat.
Vielleicht ist er in dieser Hinsicht abgeklärter. Vielleicht hat er in Nadine wirklich seine Traumfrau gefunden. Immerhin herrscht mit ihr sicherlich weniger Uneinigkeit als zwischen ihnen beiden.
Unsicher sieht Viola ihn an und greift unbeholfen ebenfalls nach der leeren Plastikflasche, die vor ihr auf dem Holztisch steht.
„Ich kann das nicht, Harry", murmelt sie seufzend und weiß dabei selbst nicht, was genau sie damit meint. Nervös fängt sie an, das Etikett der Flasche abzupulen.
Alarmiert mustert Harry sie.
„Du kannst was nicht?"
„Ich kann Thommy nicht betrügen", sagt Viola auf einmal das Erste, das ihr durch den Kopf schießt.
Stille.
Das Adrenalin, das Harrys Körper ohnehin noch unter Kontrolle hatte, bäumt sich einmal mehr auf.
„Bitte?", fragt er ungläubig und rückt beinahe reflexartig ein Stück weit von der Braunhaarigen weg. „Hab ich dir hier irgendwie das Gefühl gegeben, dass ich das von dir erwarten würde?"
Verständnislosigkeit, Schrecken, Wut und Sorge - Viola kann alles davon in Harrys Stimme erkennen.
„Nein!", rudert Viola schnell zurück. Sie hatte den denkbar ungünstigsten Start für dieses Gespräch hingelegt. „Aber..Wir sind doch auch nicht wirklich nur Freunde Harry, oder?"
Vorsichtig guckt sie den Sänger an, anstatt auf die Flasche zu starren.
Nachdem Harry seine Schockstarre wieder im Griff hat, springt er mit einem überforderten Seufzen auf die Beine und baut sich vor Viola auf.
„Damit kommst du jetzt?", platzt es aus ihm heraus. „Wäre für dieses Gespräch nicht eher der richtige Moment gewesen, als wir in LA mit 180 und schweigend den Berg nach unten gerannt sind? Oder an Silvester, anstatt Thommy den Startschuss zu geben? Ich wollte an diesem Abend noch mit dir reden, aber du warst ja anderweitig beschäftigt!"
Mit dieser Reaktion hatte Viola nicht gerechnet. Überrascht sitzt sie vor Harry, doch nur Kurz darauf steht sie ebenfalls wutgeladen auf den Beinen.
„Du hast aber nicht mit mir geredet! Und jetzt mach mir bloß nicht Thommy zum Vorwurf! Du hast dich ja offensichtlich auch anderweitig umgesehen!"
„Klar", zuckt Harry selbstverständlich mit den Schultern. „Immerhin dachte ich, wir hätten sowieso keine Chance! Auch wenn das vielleicht jetzt nicht deinen ach so romantischen Träumen entspricht."
„Ich dachte ja wirklich, dass es besser wäre, wenn wir das Ganze einfach lassen, aber irgendwie sind wir ja jetzt doch schon wieder zusammen hier", setzt ihm Viola überraschend laut entgegen.
Seufzend legt Harry den Kopf in den Nacken. Dass sich Viola und er leidenschaftlich anschreien können, wissen sie bereits. Nun sollten sie allerdings doch ruhiger miteinander sprechen.
Beherrscht setzt er sich also wieder auf das Sofa.
„Woher dann plötzlich dieser Sinneswandel?", will er ruhig wissen und sieht aufmerksam zu Viola auf, die immer noch wütend vor ihm steht.
Auch die impulsive Italienerin scheint jedoch wieder etwas herunterzufahren und lässt sich müde neben Harry sinken.
„Dieser ganze Tag war zu viel für mich, Harry", gesteht sie. „Erst unser Wiedersehen, dann alles, was Lou gesagt hat und dann diese ganzen Lieder. Und dann bin ich auch noch so platt von der Reise, ich... Ich weiß es nicht."
„Oh Gott, was hat Lou denn schon wieder gesagt?", raunt Harry ebenso ermüdet. „Wobei, ich will es gar nicht wissen. Bestimmt sowieso dasselbe wie Niall."
Kurz überlegt der Sänger, doch im Moment kann er keinen klaren Gedanken fassen. Nicht nur für Viola war dieser Tag zu viel.
„Viola, lass uns morgen nochmal in aller Ruhe reden, ja?", schlägt er schließlich vor. „Ich glaube, wir müssen beide mal nochmal zur Ruhe kommen. Du kannst auch mit einem der Fahrer schon mal zurück ins Hotel fahren. Lou wird bestimmt auch schon zurückwollen."
Sie werden heute Nacht beide kaum zur Ruhe kommen, das ist ihnen bewusst. Aber gerade weiß keiner von ihnen, was sie wirklich wollen. Und in Harrys Nähe ist sie im Moment so angespannt, dass Viola gerne die Flucht antritt.
„Klingt gut", seufzt sie also einverstanden.
Immerhin hat sie den Stein heute ins Rollen gebracht. Und das war längst überfällig.
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