32 | von besorgten Vätern
Nach einer stressigen Schicht im Papageno sitzt Viola gedankenverloren an einem der leeren Tische in der Ecke. Das Restaurant ist bereits geschlossen, doch Antonio hat noch etwas Arbeit vor sich. Geduldig wartet sie auf ihren Vater, damit sie gemeinsam nach Hause fahren können.
Bei den aktuellen winterlichen Temperaturen ist ihr sogar der kurze Heimweg zu lang.
In Violas Kopf schwirrt eine Menge herum. Harry, Thommy, die Möglichkeit Harry auf Tour zu besuchen und auch Bianca und die Frage, ob ihre künftig alleinerziehende Cousine auch mit ihrer jetzigen Situation ein Blick in ihre mögliche Zukunft ist.
Erst als sich ihr Vater neben dem Tisch, an den sie sich zurückgezogen hat, aufbaut, kommt ihr Gedankenkarussell kurz zum Stillstand.
Vorsichtig mustert Antonio seine Tochter und sieht sie fragend an, um ein Zeichen zu bekommen, ob er im Moment überhaupt erwünscht ist.
Mehr schlecht als recht ringt sich Viola zu einem Lächeln durch und schenkt ihrem Vater ihre Aufmerksamkeit.
„Fahren wir schon nach Hause oder ist noch was?"
Seufzend lässt sich der ältere Italiener auf der anderen Seite der Eckbank nieder und reibt sich unsicher die Hände, ehe er sie in seinen Schoß legt.
Antonio ist kein großer Redner. Wenn er also aktiv auf Viola zukommt und hier so hin und hergerissen sitzt, dann sicher nicht ohne Grund.
Auffordernd sieht Viola ihn an.
Auf einen Schlag fühlt sie sich wieder wie damals, als sie dreizehn war und Antonio auf Drängen seiner Frau plötzlich dachte, Vater-Tochter-Gespräche mit ihr führen zu müssen. Ähnlich unangenehm ist es auch nun in dieser Situation wieder – für Antonio, als auch für Viola.
„Okay, Viola", seufzt er und scheint damit das Gespräch eröffnen zu wollen.
Viola tappt immer noch vollkommen im Dunkeln, was der Anlass für diese Unterhaltung sein soll. Sie hatten einander in letzter Zeit selten gesehen und soweit sie weiß, ist nichts vorgefallen. Sie hatten sich wunderbar verstanden, wie immer.
„Ich denke, ich sollte es einfach frei von der Leber weg sagen. Viola, ich bin nicht blöd. Ich sehe doch, was hier vor sich geht – und es gefällt mir ganz und gar nicht."
Fragend und irritiert sieht Viola ihn an. Er sieht also, was hier angeblich vor sich geht und damit ist er seiner Tochter definitiv einen Schritt voraus.
„Okay", runzelt sie verwirrt die Stirn. „Und was wäre das?"
Deutlich hörbar atmet Antonio durch, als würde er bedauern, es nun selbst aussprechen zu müssen. Allerdings hat Viola nicht die leiseste Ahnung, wovon er reden könnte.
Etwa von Thommy? Aber er kennt ihn doch überhaupt nicht. Alles, was sie ihren Eltern heute Vormittag, als sie zu ihrem Date aufgebrochen war, gesagt hat, war, dass sie einen Freund treffen würde.
Ernst mustert ihr Vater sie.
„Ich kenne dich jetzt dein Leben lang, Viola. Und ich sehe es, wenn dich etwas bedrückt. Und ich wäre sehr überrascht, hätte deine Reise mit Harry und Biancas Trennung nichts damit zu tun."
Perplex guckt Viola ihn an. Das hatte sie nicht kommen sehen - weder, dass ihre Zerrissenheit so offensichtlich ist, noch dass ihr Vater plötzlich so offen mit ihr reden und sie darauf ansprechen würde.
„Wie bitte?", ist alles, wozu sie im Stande ist, zu hinterfragen.
„Wie gesagt, Liebes, ich bin kein Idiot. Ich weiß, dass Bianca immer dein Spiegel in die Zukunft war. Deine Mutter hat dich immer mit ihr verglichen und hat sich gewüscht, dass du bereits dasselbe Leben wie sie mit Leo haben würdest. Und ich habe es mir auch für dich gewünscht, weil ich immer dachte, dass es genau das ist, was du willst. Aber inzwischen machst du weniger den Eindruck."
Viola traut ihren Ohren kaum. Sie war schon als Kind immer Papas kleine Prinzessin gewesen und hat auch noch heute eine intensive Bindung zu ihm, doch dass er so feinfühlig und aufmerksam ist, was ihre Gefühls- und Gedankenlage angeht, hat sie nicht erwartet.
In letzter Zeit weiß sie selbst kaum, was sie will oder was sie glaubt zu wollen. Ihr Vater hingegen scheint eine ganz genaue Vorstellung davon zu haben.
Zudem klingt er nicht, als würde er seine bisherigen Beobachtungen überhaupt zur Diskussion stellen wollen. Es ist viel mehr eine Feststellung.
„Und weiter?", raunt Viola etwas missmutig. Immerhin hat Antonio soeben unwissentlich in ohnehin offenen Wunden gebohrt.
Als hätte er zuvor bereits das Offensichtliche verkündet, sieht er sie tadelnd an.
„Schatz, ich will dich nur nochmal daran erinnern, dass es nicht nur den einen Weg gibt. Man kann unterwegs auch mal seine Meinung und seine Ziele ändern."
Antonio verleiht seiner Stimme mit jedem Wort mehr Nachdruck und sieht seine Tochter ernst, nahezu flehend an. Gleichzeitig jedoch klingt er so aufrichtig, besorgt und liebevoll, dass es Viola beinahe das Herz zerreisst.
Dass ihr Vater sie doch so gut kennt und einschätzen kann, ist das eine. Dass er noch dazu so ehrlich besorgt um ihr Glück ist, lässt der sonst so temperamentvollen, schlagfertigen jungen Frau die Tränen in die Augen steigen.
„Aber dann war der ganze Weg, den ich bisher gegangen bin, doch völlig umsonst und total falsch", murmelt Viola leise und wischt sich mit ihrem Pulli leicht über die Augen, um die aufkeimenden Tränen der Überforderung zu verbergen. „Ich will das doch alles, ich will Familie. Und ich wollte auch wirklich immer genau das, was Bianca hat.. oder hatte."
Verständnisvoll seufzt Antonio und sucht Violas Blick. Diese reisst ihre glasigen Augen bloß widerwillig von ihren Händen los.
Er sieht ihr direkt in die Augen, in der Hoffnung sie würde erkennen, wie ernst es ihm ist.
„Es gibt nicht immer nur richtig oder falsch, nicht alles ist immer nur schwarz oder weiß. Du bist so jung, Viola. Probier' dich aus. Es ist immer noch nicht zu spät, um zu studieren oder irgendeinen beruflichen Weg einzuschlagen, der dir gefällt. Nutze die Zeit und finde dich erstmal wieder ein bisschen. Am Ende läuft alles ohnehin genau so, wie es muss."
In all seinen Ratschlägen steckt so viel Liebe, dass Viola unwillkürlich warm ums Herz wird.
Vielleicht hat ihr Vater recht mit allem, was er sagt. Das, was ihr am meisten Kummer bereitet, wird damit allerdings nicht aus dem Weg geschaffen.
Vielleicht war sie wirklich zu verbissen und voreilig. Womöglich würde sie wie Bianca enden, hätte sie sich an den nächstbesten Mann gekettet und eine Familie mit ihm gründen wollen.
All das braucht Zeit, das wird ihr langsam bewusst. Und trotzdem ist es das, was sie will, wenn auch vielleicht erst in 5, anstatt in nur einem Jahr. Harry hingegen wird auch in 5 Jahren dasselbe Leben führen und Peter Pan hinterher eifern.
„Es war die Reise, die dich verändert hat, nicht?", fragt Antonio schließlich ruhig. „All die neuen Eindrücke."
Müde lächelt sie ihn an und nickt. Dass auch noch andere Komponenten zusammengespielt haben, verschweigt sie lieber - zumindest den Teil, den Harry dabei gespielt hat.
„Und ich habe unterwegs einen Mann kennengelernt", gesteht Viola schließlich doch und berichtet von Thommy. „Er lebt hier in London, ist erfolgreich und familienorientiert. Er ist perfekt. Mit ihm könnte ich all das haben, dem ich seit Jahren verzweifelt hinterherjage. Und auf einmal macht mir das so viel Angst."
Seufzend legte Antonio seine Hand auf den Rücken seiner Tochter und streichelt sie liebevoll.
„Lern' ihn erstmal kennen und wenn er der Richtige ist, dann lässt er dir alle Zeit der Welt."
Ehrlich lächelnd sieht Viola ihren Vater an. Es sind wenige Worte, die er von sich gibt und doch ist alles gesagt.
„Kein Wunder, dass ich so verzweifle mit den Männern, wenn du die Latte so hoch legst, Papa."
Lachend winkt er ab.
„Ach was, das ergibt sich alles", ist er sich sicher. „Aber jetzt lass uns erstmal heimfahren. Wir haben uns unseren Feierabend verdient."
Dankbar nickt Viola und steht gemeinsam mit ihrem Vater auf.
Antonio bohrt nicht länger nach und will auch nicht Näheres über Thommy erfahren. Er weiß, dass er seiner Tochter soeben gut getan hat und das reicht ihm.
Während ihre Mutter sie längst ins Kreuzverhör genommen hätte, fährt Antonio sie in angenehmen Schweigen nach Hause. Damit bleibt Viola Zeit, endlich ihre finalen Schlüsse aus all dieser ereignisreichen Zeit zu ziehen.
Für Harry und sie gibt es auf lange Sicht keine Zukunft, daran hat sich nichts geändert.
Damit liegt alle Hoffnung auf Thommy, der es immerhin auch geschafft hat, sie zu begeistern.
Allerdings will sie dieses Mal nicht mit der Einstellung herangehen, so schnell wie möglich sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen, auch wenn diese Gedanke am Ziel ihres Weges steht.
Bis dahin will sie sich aber auch für andere Dinge Zeit nehmen - zum Beispiel für das einmalige Angebot, eine erfolgreiche Boyband auf Welttournee zu besuchen.
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