24 | von Wanderungen und Beinahe-Ausrutschern
In den letzten Tagen hat Harry Viola seine zweite Wahlheimat von der schönsten Seite präsentiert. Tagsüber haben sie gemeinsam Berg erklommen, Aussichten genossen und Nationalparks bestaunt, ehe Donna die beiden stets am Abend in die Innenstadt gebracht hat. Dort durfte Viola Harrys Freunde, die zwar nicht aktiv in der Öffentlichkeit stehen, aber dafür hinter Kameras und Mischpulten arbeiten, kennenlernen, das teuerste Essen versuchen und war gar betrunken im Separée einer Karaokebar gelandet.
Bei Letzterem hatten Viola, als auch Harry Erkenntnisse gewonnen.
Viola hatte erfahren, dass Harry selbst betrunken eine Show abliefern kann, die sich gewaschen hat, während Harry einmal mehr deutlich bewusst wurde, wie entschieden und stur die Italienerin ist. Jegliche Überredungskünste und Betteleien waren gescheitert. Viola weigerte sich strikt zu singen.
Der Auftritt in der Karaokebar ist allerdings nicht das Einzige, wogegen sie sich seit einigen Tagen weigert. Mal unterbewusst, mal bewusst, trägt Viola in Harrys Nähe einige Kämpfe in sich aus.
Heute sind die beiden bereits früh aufgebrochen. Ursprünglich wollte Harry seinen Gast davon überzeugen, dass es ein guter Start in den Tag wäre, im Runyon Canyon Laufen zu gehen. Nach den ersten Metern hat sich Violas Befürchtung jedoch sofort bestätigt und noch bevor Harry überhaupt anfangen konnte zu schwitzen, hat Viola bereits entschieden, dass der Lauf in eine Wanderung umfunktioniert werden sollte.
„Um Gottes Willen, ich bin ja jetzt schon am Ende", sagt Viola atemlos, auf den letzten Metern vor ihrem Ziel. „Wie zur Hölle können Menschen hier hoch laufen?"
Lachend kommt ihr Harry hinterher. Er behält für sich, dass er sogar einen flacheren, unbekannteren Pfad gewählt hat, weil hier weniger Menschen unterwegs sind. Und, weil er die Aussicht so gerne genießt.
„Reine Gewohnheitssache", behauptet er stattdessen ermutigend. „Mach das ein paar Mal und du kommst hier hoch, als wäre es überhaupt nichts."
Während Harry spricht, ist Viola inzwischen an die Klippe herangetreten und wirft von dort aus einen Blick über die Stadt.
„Wow", murmelt sie, wie so oft in den letzten Tagen. Eine atemberaubende Aussicht jagt die nächste und auch dieses Mal löst dieser Blick in Viola ein Gefühl aus, das sie schlecht beschreiben kann. Ganz alleine mit Harry hier in dieser Fremde zu stehen, lässt sie völlig emotional werden.
Es ist weniger der Blick über die Stadt, als der Kontrast zwischen den vielen Häusern dort unten und der ruhigen Leere hier oben - oder die Erlebnisse all der letzten Tage, die ihr nun noch einmal bewusst werden. Sie ist an all diesen Orten, von denen sie bisher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie besuchen will und anstatt unter Zukunftsangst und Zeitdruck zu zerbrechen, genießt sie jeden Tag.
Schwungvoll dreht sie sich wieder um, kehrt der Aussicht den Rücken zu und lenkt ihren Blick stattdessen wieder auf Harry.
„Ich muss mich wirklich nochmal bei dir bedanken, Harry", sagt Viola direkt heraus, voll aufrichtiger Dankbarkeit.
Seine Trinkflasche in der Hand, kommt Harry auf sie zu und lächelt sie breit an.
Viola steht so niedlich und erfüllt vor ihm, dass er gar nicht anders kann, als seinem ersten Impuls zu folgen. Mit ausgebreiteten Armen geht er den letzten Schritt zu ihr und schließt sie fest darin ein.
„Musst du nicht", sagt er ehrlich. „Ich danke dir."
Für einen kurzen Moment fürchtet Harry, eine Grenze überschritten zu haben - sei es seine eigene oder die von Viola. Doch als er ihre Haut auf seiner fühlt und spürt, dass sich ihre Arme ebenfalls um seinen Oberkörper schlingen und sie ihren Kopf fest gegen seine Brust drückt, ist er sich sicher, dass es für diesen Augenblick genau so sein soll.
Harry glaubt, es sei unmöglich, dass Viola gerade nicht spürt oder gar hört, wie außergewöhnlich schnell sein Herz gerade pocht. Immerhin weiß er nicht, dass der jungen Frau soeben derselbe Gedanke durch den Kopf jagt und sie ihren elektrisierten Körper unter Kontrolle zu bekommen versucht - vergeblich.
Tief atmet Harry durch, als er Viola fest im Arm hält und ist fest entschlossen, seiner Intuition zu folgen, anstatt jetzt seinen Kopf einzuschalten.
Vielleicht wird er durch sein Handeln alles zerstören, vielleicht geht er auch endlich den entscheidenden Schritt in eine Zukunft, die besser ist, als er es sich je erträumt hat.
Sanft streicht er über Violas dunkles Haar und ihre Wange, ehe er seine Hand zärtlich an ihren Hals legt. Mit großen Augen sieht sie zu ihm auf.
Es ist dieser eine Moment, in dem sich ein Hundertstel wie eine Minute anfühlt und man sich entgegen jeder Vernunft dieser magischen Anziehungskraft hingeben will.
Harry und Viola wissen beide, was im nächsten Moment passiert wäre, hätten nicht plötzlich die Stimmen einiger Wanderer die Stille und die Situation so harsch gestört, dass sie einander eilig wieder loslassen. Beinahe fluchtartig lassen sie voneinander ab, während drei Frauen mittleren Alters aus den trockenen Sträuchern hervortreten und ebenfalls die Aussicht genießen wollen.
Hektisch streicht sich Viola das Haar hinters Ohr und gibt vor, sich wieder der Klippe und der Aussicht zuzuwenden, auch wenn sie sich gerade am Liebsten dort hinunterstürzen würde, um der unangenehmen Situation zu entgehen. Auf einen Schlag ist ihr bewusst, welchen Fehler sie gerade beinahe gemacht hätten und dass sie den Frauen am Besten einen Orden überreichen sollte, dass sie sie davon abgehalten haben. Auch wenn sie gerade noch am Liebsten im Boden versinken würde.
Auch Harry ist urplötzlich wieder hochinteressiert am Ausblick über LA, den er schon zu genüge gesehen hat und kratzt sich verlegen am Hals, ehe er sich leise seufzend durch die braunen Locken fährt.
Was hatte er sich nur gerade gedacht? Ja, überhaupt nichts.
Aber er hat in Violas Augen gesehen, dass sie wohl vor denselben Herausforderungen steht, wie er selbst. Sie hätte sich nicht weggedreht, hätte er sie geküsst. Sie wollte sich darauf einlassen, auch wenn sie jetzt wieder von der Vernunft eingeholt wurden.
Schnell wirft Harry einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wir haben eh gar nicht so viel Zeit, wir sollten wieder runtergehen", sagt er, in der Hoffnung nicht länger in der peinlichen Stille ausharren zu müssen.
Heute ist Silvester. Auf die beiden wartet eine Yacht und dort eine Partygesellschaft, mit der es ins neue Jahr zu feiern gilt.
„Stimmt, wir haben ja noch was vor", nickt Viola möglichst selbstbewusst und gelassen, als wäre ihr nicht eben noch gefühlt hundert Grad heißer geworden als ohnehin schon. Gerade ist sie unglaublich erleichtert, dass ihr der Aufstieg schon die Röte ins Gesicht getrieben hat, denn spätestens jetzt wäre sie ohnehin rot angelaufen.
„Na dann", klatscht Harry auffordernd in die Hände und schlägt fix den Rückweg ein.
Sie laufen denselben Weg nach unten, den sie auch nach oben genommen haben, und doch fühlt er sich völlig anders an. Es herrscht Stille, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach und überlegt gleichzeitig, worüber man ungezwungen sprechen kann.
Es ist verrückt, wie ein einziger, kurzer Moment die gesamte Situation verändern kann. Es ist noch nicht einmal etwas passiert und gleichzeitig doch alles.
„Was genau erwartet mich da heute eigentlich?", fällt Viola nach einer Weile endlich ein Thema ein, das sie für halbwegs angemessen hält.
Dankbar atmet Harry innerlich ebenfalls auf.
„Eine private Yachtparty", erklärt er zunächst das, was Viola ohnehin schon weiß. „Im Grunde nichts besonderes. Wir sind nicht allzu viele Leute. Ein paar kennst du sogar schon. Niall zum Beispiel wird auch da sein. Wir haben dort alle unsere Ruhe, machen uns nachmittags einen schönen Tag und entspannen, essen und trinken ordentlich und um Mitternacht sieht man dann allerhand Feuerwerke."
„Ich war noch nie auf einer Yacht", murmelt Viola skeptisch. Sie hatte auch noch nie das Verlangen gehabt, eine solche zu betreten.
„Na dann kannst du das dieses Jahr wenigstens noch abhaken", erwidert Harry lächelnd. „Es ist auch nicht wirklich etwas besonderes. Man ist einfach unbeobachteter als in diesen ganzen Partyschuppen oder Feiern in den Villen der Stadt."
„Es gibt also nichts Besonderes zu beachten?"
Kurz überlegt Harry.
„Naja, die oberste Regel ist, immer barfuß zu sein. Ansonsten gibts da nicht viel. Alles andere ergibt sich dann von selbst."
Verstehend nickt Viola. Damit ist auch dieses Thema abgehakt.
Zwangsläufig schneiden sie hin und wieder oberflächliche, belanglose Themen an, als sie sich den Weg zurück nach unten zum Auto bahnen. Den Elefanten im Raum will jedoch niemand ansprechen.
Noch hofft Viola, dass sie diesen einmaligen Beinahe-Ausrutscher genauso in diesem Jahr zurücklassen kann, wie auch die aufkeimenden Gefühle für Harry.
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