18 | von verlorenen Söhnen und Familienfesten
»Das klingt ja nahezu, als hättest du wirklich Pläne. Also... Pläne, die wirklich schon feststehen«, staunt Anne Twist nicht schlecht, als sie sich nach dem Familienessen am 25. Dezember noch mit einem Glas Wein zusammengesetzt haben.
Anne liebt die Familie und genießt es, wenn sie zusammenkommt, doch die Zeit mit ihrem Sohn ist ihr besonders heilig. Sie bekommt ihn selten zu Gesicht, selbst wenn er sich stets darum bemüht. Entsprechend wichtig sind Anne demnach auch Momente, die nur ihm und ihr gehören.
»Naja, ich werde vor der Tour auf jeden Fall nochmal nach LA fliegen. Und nach New York. Und nach Italien«, erzählt Harry und nippt an seinem Weinglas, während er sich weiter in die Sofakissen sinken lässt.
Er hat ein unheimlich emotionales und vertrautes Verhältnis zu seiner Mutter, doch von Viola hat er bislang noch nicht berichtet. Immerhin hat ihn Anne, ebenso wie Gemma, schon mehrmals darauf hingewiesen, dass er bei seinem abenteuerlichen Lebensstil nicht das Wesentliche aus den Augen verlieren soll.
Er fürchtet, dass Anne seine Freundschaft zu Viola falsch verstehen und ihm schon bald in den Ohren liegen würde, weshalb er sich nicht auf einer Beziehung einlassen und doch das bodenständige Leben anstreben würde.
Unwillkürlich muss Harry lächeln.
Er ist Viola ähnlicher als er anfangs dachte - zumindest, was die Eltern angeht.
»Du scheinst dich ja wirklich schon drauf zu freuen«, stellt Anne fest, als sie Harrys Lächeln bemerkt.
Sie sieht ihn so aufmerksam, abwartend und gleichzeitig auffordernd an, dass Harry nur tief seufzen kann.
»Gemma hat dir irgendwas erzählt, oder?«, spricht er raunend seine Vorahnung aus.
Grinsend zuckt seine Mutter mit den Schultern.
»Gibt's denn etwas zu erzählen?«
»Nicht wirklich«, versucht Harry ihr auszuweichen, will seine Mutter jedoch gleichzeitig nicht anlügen. »Ich verbringe bloß etwas Zeit mit einer Freundin, werde ihr ein bisschen die Welt zeigen und wenn sie dann noch Lust und Laune hat, kann sie mich etwas auf der Tour begleiten.«
Anne bemüht sich sichtlich, einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten.
»Das klingt schön. Ihr habt bestimmt eine gute Zeit.«
Überrascht von der Ruhe und Gelassenheit seiner Mutter mustert er sie zunächst skeptisch über sein Weinglas hinweg.
»Ja, es tut ihr bestimmt gut, etwas rauszukommen. Und sie ist Italienerin, bestimmt will sie unterwegs auch mal zu ihren Wurzeln.«
»Lieb, dass du dir Gedanken um sie machst«, lächelt ihn Anne sanft an. »Und falls ihr zwischendurch doch auch mal wieder in England seid, kommt gerne auch nochmal hier vorbei. Ich würde mich freuen sie kennenzulernen und dich sehe ich sowieso viel zu selten.«
In Annes Stimme liegt kein Vorwurf, nur aufrichtiges Bedauern, als sie ihn anlächelt und liebevoll durch seine Locken streichelt.
Harry ist ihr Nesthäkchen und das wird er auch immer bleiben.
»Schön, dass du hier bist, mein verlorener Sohn«, lächelt sie seufzend und sieht ihn stolz an. So Stolz, dass Harry aus schlechtem Gewissen beinahe ihrem Blick ausweichen muss.
Er sollte und möchte viel öfter zuhause sein, hat aber doch immer wieder den Drang Neues und Anderes zu erleben.
Er könnte etwas verpassen, obwohl Harry selbst nicht weiß, was es ist, das er nicht verpassen will.
Auch in diesem Punkt sind sich die Belardos und Harrys Familie nicht unähnlich. Wie viele andere Mütter wünscht sich auch Anne, ihr Sohn würde sich in ihrer Nähe ein Haus kaufen und dort eine Familie gründen. Nur in Harrys Zukunftsplan ist das nicht vorgesehen.
»Es ist schön, hier zu sein«, erwidert Harry ehrlich. »Du kannst mich auch gerne, wo immer du willst, besuchen. Jederzeit.«
»Ich weiß«, lächelt Anne. »Aber ehe ich überhaupt einen Flug buchen kann, bist du meist schon einen Kontinent weiter.«
Erst in diesem Moment bemerkt Anne, dass sich ihre Worte schwer nach sanft verpackten Vorwürfen anhören. Schnell rudert sie zurück.
»Aber Recht hast du. Genieß das Leben. Du hast einen harten Job, davon kann es gar nicht genug Ausgleich geben.«
Dankbar lächelt Harry sie an, obwohl ihre Worte einem bitteren Beigeschmack behalten. Er weiß, dass er jedes Mal viel zurücklässt, aber es zieht ihn doch jedes Mal wieder in die großen Städte dieser Welt.
Auch die Belardos verbringen ein lautes, aber harmonisches Weihnachtsfest.
Dass die Familie an oberster Stelle steht, zeigt sich spätestens darin, dass sie sogar auf das Weihnachtsgeschäft im Papageno verzichten.
Das Lokal befindet sich für drei Tage im Betriebsurlaub.
Dieses Jahr hat sich die Familie im Haus von Violas Tante, außerhalb Londons, eingefunden und im großen Familienkreis die Feiertage verlebt. Beinahe die ganze Sippe ist inzwischen von Italien nach England übergesiedelt.
Manche der Liebe wegen, manche aus geschäftlichen Gründen und mancher Englandaufenthalt ist auch nur saisonal bedingt. Das Haus ihrer Tante jedenfalls ist rappelvoll und so sehr Viola die Familie auch genießt, freut sie sich wieder auf die Privatsphäre nach den Feiertagen.
Ganze zwanzig Mal hat man sie bisher auf ihr Single-Dasein und ihre triste Zukunft angesprochen.
»Beeil dich lieber mal, Viola. Dein Opa würde deine Hochzeit gerne noch erleben«, ist der Kommentar, der am häufigsten fällt und sie doch jedes Mal wieder trifft.
Noch schlimmer ist nur der Moment, als sie sich ins Wohnzimmer zu ihren Cousinen zurückgezogen hat und dort die nächste schauderhafte Frage gestellt bekommt. Sie hat sich bewusst zu den Jüngeren gesellt, nachdem die Gleichaltrigen nur noch die Themen Schwangerschaft und Hochzeit kennen. Und damit hat sie die falsche Entscheidung getroffen.
»Wie man hört, hast du wen kennengelernt, Viola«, kichert ihre 14-jährige Großcousine Chiara. »Mama hat da was erzählt. Aber sie hat den Namen vergessen und hat dann irgendetwas von wegen Harry Styles erzählt.«
Dieser Name ist der letzte, den sie in der aktuellen Gesellschaft hören und schon gar nicht diskutieren will. Ohne darüber nachzudenken, winkt Viola lachend ab.
»Da muss sie sich aber gehörig verhört haben.«
»Meine Eltern haben da aber auch irgendetwas erwähnt. Du sollst wohl darüber nachdenken, auszuwandern«, wirft eine weitere Großcousine namens Alessia ein.
Viola kann nur staunen, wie schnell Gerüchte entstehen und sich verbreiten können. Wenn das alleine schon in ihrer Familie passiert, will sie gar nicht wissen, wie schnell Harry Sämtliches angedichtet wird.
Schnell entscheidet sich Viola für einen Kompromiss - die halbe Wahrheit. Die Ganze würden sich spätestens nach den Feiertagen ohnehin verbreiten. Sie ist sich sicher, dass ihre Eltern unter den Erwachsenen bereits in den höchsten Tönen vom Essen mit Harry schwärmen.
»Ach, auch das nicht. Ich werde die nächsten Wochen nur ein bisschen unterwegs sein, mit einem Freund«, erzählt Viola bedeutungslos.
»Ach, cool! Mit dem Rucksack?«, hakt Alessia weiter nach.
»Mhm, soweit wie möglich schon«, lügt Viola gekonnt, ehe sie schnellstmöglich das Thema wechselt. »Und ihr? Was macht die Schule? Immer noch dieselben Lehrer?«
Dass Chiara im selben Bezirk wie auch Viola wohnt und damit dieselbe Schule besucht, ist ihre unverhoffte Rettung. Sofort geht ihre Großcousine darauf ein und schnell wird aus dem Thema »Reisen mit Harry« der neuste Schulklatsch. Der interessiert Viola zwar bei Weitem weniger, kostet sie dafür aber nicht im Ansatz so viele Nerven.
»Will er nicht noch eben reinkommen?«, drängt Francesca und ist Viola dicht auf den Fersen, als diese am 27. Dezember ihren Koffer zur Haustüre schleppt.
»Er ist noch nicht mal da, Mama.«
»Aber er wird doch kurz Hallo sagen«, bleibt Francesca bei ihrer Meinung, während just in diesem Moment ein Wagen vor dem Haus zum Stehen kommt, der nur Harry gehören kann.
Noch ehe Viola die Haustüre aufreißen kann, hat Harry bereits Selbiges mit der Fahrertüre gemacht und kommt auf die kleine, vereiste Treppe zum Hauseingang zu.
»Hi Viola, Hi Fran«, grüßt er die beiden strahlend, nimmt die rutschigen Stufen beinahe mit einem Schritt und greift entschieden nach Violas Koffer.
Noch über Harrys Elan staunend behält Viola die Hand an ihrem Gepäck.
»Das geht schon, Ha-«, setzt sie noch an, aber Harry hat sie bereits überwältigt und trägt den Koffer in Richtung Auto.
»Hast du da ein paar Kettenhemden drinnen?«, ruft Harry ihr noch schmunzelnd zu, ehe er das schwere Gepäck im Kofferraum verstaut.
Augenrollend wendet sich Viola ihrer Mutter zu.
»Also dann, Mum. Ich bin nicht aus der Welt, ich melde mich! Sobald mir Harry mal verrät, was er so vor hat, erfährst du es auch.«
»Natürlich, viel Spaß, Schatz!«, wünscht Francesca ihrer Tochter und umarmt sie fest.
Seitdem die Ältere weiß, mit wem Viola unterwegs sein wird, ist von ihrer Sorge keine Spur mehr. »Gute Reise, Harry!«, ruft sie dann auf die Straße.
»Danke, Fran! Und Grüße an den Göttergatten!«
Antonio hat im Papageno zu tun und sich bereits heute Morgen von seiner Tochter verabschiedet. Selbiges gilt für Leyla, der sie zudem versprechen musste, sie jeden Tag auf dem Laufenden zu halten.
»Richte ich aus!«, erwidert Francesca winkend und blickt Viola hinterher, wie sie Harry zu seinem Auto folgt.
Noch vor einem halben Jahr hätte Viola nicht im Traum daran gedacht, dass sie diesen Schritt je gehen würde. Erst als sie neben Harry im Wagen sitzt und einmal tief durchatmet, realisiert sie, welch einschneidender Moment dies in ihrem Leben ist.
»Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich jemals in ein solches Abenteuer stürzen würde«, spricht sie Harry gegenüber ihre Gedanken laut aus.
Für Harry mag es das gewöhnliche Leben sein, aber für Viola ist es ein riesiges, ungewisses Abenteuer.
Dieses Mal sieht Viola in seinem Lächeln keinen Spott, als er sie, ehe er losfährt, nochmal ansieht.
»Ich bin stolz auf dich. Ein großer Schritt.«
»Und das auch noch mit Harry Styles«, lacht Viola fassungslos und kann nur ungläubig den Kopf schütteln.
Lachend hakt Harry nochmal ein.
»Wie wäre es einfach mit einem guten Freund, dem du vertraust?«, bietet er schulterzuckend die Alternative und startet den Motor.
»Damit kann ich leben«, nickt Viola zufrieden und lässt den Kopf zurück in Harrys Ledersitz fallen.
Und Harry fährt los, direkt in Violas erstes Abenteuer.
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