Kapitel 14
Schon zwei Tage nach meiner Operation durfte ich meine Hüfte wieder belasten. Trotzdem verdonnerte mich meine Mutter zu Bettruhe. Für gewöhnlich wusste man die Tage seiner Semesterferien besser zu füllen, aber für mich war das in Ordnung: Mein bettlägeriger Zustand hielt in unserem Haus das Bewusstsein aufrecht, dass ich ein Pflegefall war - kein allzu schwerwiegender, aber trotzdem war meine Mutter dadurch beschäftigt, abgelenkt, und das war von Vorteil. Sie glaubte, ich wolle nur deshalb jeden Morgen die Zeitungen lesen, um gegen die Langeweile anzukämpfen.
Wenn sie und mein Vater von der Entdeckung der Leichen erfuhren, so tauschten sie sich in meiner Gegenwart nicht darüber aus; ich war nur froh, überhaupt wieder Gespräche aus der Küche zu vernehmen, deshalb sollte der Inhalt für mich zweitrangig bleiben. Die Regionalzeitung schrieb in drei, vier Artikeln über die Sache, und auch online tauchten kleinere Meldungen auf den landesweiten Nachrichtenportalen auf, zumindest zu Beginn. Das Ganze wurde weit weniger an die große Glocke gehängt, als ich zugegebenermaßen erwartet hatte: Man habe die Leichen wiedergefunden, und zudem sei noch eine vierte Tote aufgetaucht; eine ältere Dame, deren Ableben nie gemeldet worden sei. Ihre Enkelinnen - in keinem der Artikel mit Namen benannt, sondern nur als die »Verantwortlichen im heranwachsenden Alter« - hätten die Unterschriften ihrer Großmutter über fast zwei Jahre gefälscht und währenddessen die Checks ihrer Sozialversicherung kassiert. Zwar erwähnte man, dass sich das Haus in einem »unhygienischen« und »katastrophalen« Zustand befunden hätte, doch dass das amerikanische Rentensystem in diesem Fall so »skandalträchtig« missbraucht worden sei, rückte schnell in den eigentlichen Fokus der Berichte. Nach zwei Wochen war die ganze Thematik bereits wieder aus den Medien verschwunden. Die Todesumstände von Sophies und Leilas Großmutter wurden nie behandelt. Der Zustand des Kellerraums - der Aufbewahrungsort der Toten - fand keine Erwähnung.
Leila und Sophie seien bei der Ankunft der Polizei nicht auffindbar gewesen.
Ich wusste nicht, was am schlimmsten war: Zu schlafen und ihnen in meinen Träumen zu begegnen. Oder wachzuliegen und mir auszumalen, ihnen zu begegnen. In den ersten Nächten wachte ich mehrmals auf, schweißgebadet, mit klopfendem Herzen und benommen von den Bildern, die mein Hirn aus dem Schlaf mitnahm und noch für drei, vier Sekunden auf die schwarze Leinwand meines Zimmers projizierte: Der lange, nur von einer Glühbirne beleuchtete Flur. Das sehnige, ausgetrocknete Gesicht von Leilas Großmutter; die wurmzerfressenen Augen einer aufgebahrten Leiche. Manchmal war ich mir sicher, dass Onkel John oder Harold oder Calvin bei mir im Raum waren, manchmal glaubte ich, dass Leila neben mir im Bett lag und ihren Arm um mich legte, oder dass Sophie auf mir saß und mir die Luft abschnürte. Einmal wachte ich schreiend auf und schlug die Bettdecke beiseite, weil ich dachte, dass darunter tausende von Maden herumwuselten. Wenn mich beim Einschlafen das Gefühl überkam, irgendwo runterzufallen, fiel ich die Treppe in den Keller hinab.
Wenn ich dann keinen Schlaf mehr fand - und das kam häufig vor -, mühte ich mich ans Fenster und spähte hinaus in die Dunkelheit. Erwartete, dass der Mais rascheln würde, weil jemand durch seine Reihen auf unser Haus zugerannt kam. Erwartete, fast schon irrsinnig, dass Leila am Rande des Maisfeldes stehen und mit ausgestrecktem Arm auf mich zeigen würde.
Ich hatte ihr meine Adresse nie gegeben. Dennoch, in einem Anflug von Paranoia, beschloss ich eines Morgens, mir einen Ruck zu geben und unsere Chatverläufe durchzusehen. Nur für den Fall.
Leilas Nachrichten existierten nicht mehr. Chat-Antworten wurden automatisch entfernt, sobald der Verfasser sein Profil auf der Plattform löschte. Es überraschte mich nicht; ihr WhatsApp-Kontakt war bereits verschwunden gewesen, als ich meine Eltern in jener Nacht über meinen Aufenthalt in der Notaufnahme informiert hatte. Das Einzige, was ich noch von ihr besaß, waren die Bilder, die sie mir geschickt hatte: Wie sie auf der Damentoilette ihrer Arbeit vorm Spiegel posierte. Wie sie in der Badewanne lag. Wie sie in ihrem Zimmer stand, um mir mit ihrem Tattoo zu beweisen, dass sie tatsächlich die Userin love_centipede war.
Nun sah es aus, als hätte ich mit einem Geist geschrieben.
Ich löschte mein eigenes Profil. Landrover94 verschwand vom Antlitz der Dating-Plattform, und mit ihm sämtliche Nachrichten, die er und love_centipede jemals ausgetauscht hatten.
Als das neue Semester allmählich näher rückte, fühlte ich mich dazu in der Lage, meinem Vater wieder bei der Arbeit zu helfen. Er gab einen brummenden Kommentar ab, dass ich mich laut meiner Mutter »eigentlich noch schonen solle«, aber ich sah auch, dass sich seine Mundwinkel etwas hoben, während ich zur Schubkarre griff und er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte.
Ich riss ihm die Kippe aus dem Mund, bevor er sie sich anzünden konnte. »Und du sollst den Laden hier nicht abfackeln.«
Am letzten Tag meiner Ferien zogen Wolken auf. Ich trat nach draußen, ließ den aufkommenden frischen Wind über meine Haut streichen und hielt dann auf das Maisfeld zu. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ich mich wieder hineinwagte. Vor der ersten Reihe zögerte ich noch ... aber dann tauchte ich hinein.
Mein Zuhause.
Ich stapfte weit ins Innere des Feldes, bis mich von allen Seiten nur noch endloser Mais umgab. Am Himmel verdichteten sich die Wolken zu einem dunklen, grauen Baldachin. Als die ersten Nieseltropfen hinabfielen, spülten sie die staubige, trockene Luft frei, kühlten mein Gesicht.
Ich holte mein Handy hervor. Das Display war immer noch gebrochen. Ich rief die Galerie auf, in der sämtliche Fotos abgespeichert waren, und betrachtete Leilas Bilder. Das gesplitterte Glas zog sich wie ein Muster über ihre Gestalt.
Ich wartete. Irgendwann schüttete es in Strömen, Wasser prasselte auf die Maisblätter und -kolben. Ich wartete weiter.
Nichts geschah. Nichts würde geschehen. Der Teil von mir - der Teil, der mich hier aufs Feld geführt hatte und meine Aufmerksamkeit Richtung Display zwang, der Teil, der sich immer wieder an ihr Lachen und ihre Stimme und ihre Wärme erinnern wollte, der Teil, der auf das Vibrieren des Handys wartete -, dieser Teil klammerte sich an eine letzte Fantasie. Ich sagte mir, dass es in Ordnung war, einen kurzen Moment in ihr zu schwelgen, vielleicht sogar an ihr zu glauben. Aber nicht mehr. Ich löschte die Bilder endgültig, dann schob ich mein Handy in die Tasche zurück und begab mich auf den Rückweg.
In den letzten Tagen hatte ich immer wieder an einen Satz gedacht, den Leila mir geschrieben hatte. Der mir durch den Kopf spukte.
Wer lieben kann, kann auch zerstören.
Diese Worte hatte sie mir geschrieben. Diese Worte hatte sie mir anvertraut.
Und deshalb hoffte ich.
Hoffte, dass sie stimmten.
Hoffte, dass sie auch umgekehrt galten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro