Kapitel 11
Wenn man auf dem Land aufwächst, lernt man, dass große, alte Häuser sprechen. Das Knarzen im Gebälk, das Rütteln gelöster Dachschindeln im Wind, das Knacken von Türrahmen, das immer mal wieder erklingt, ohne dass es dafür einen scheinbaren Grund gibt. Nur anhand des Klangs ist man sich bewusst, um welche Ecke der Rasenmäher fährt, wenn man morgens durch seinen rödelnden Motor geweckt wird, man lernt die Unverkennbarkeit sämtlicher Geräusche kennen, die sich an jedem Gebäudewinkel anders anhören. Irgendwann gewöhnt man sich an diese Laute, irgendwann nimmt man sie kaum noch wahr. Wenn man dann auszieht und später für einen kurzen Besuch wiederkommt, kann etwas so Banales wie das Ächzen einer losen Holzdiele Nostalgie in einem heraufbeschwören.
Fremd, unwirklich - und auch ein wenig unheimlich - wirkt es, sobald man bei jemand anderem zu Besuch ist und sein Haus sprechen hört.
Während ich neben Leila im Bett lag, lauschte ich den mir unvertrauten Klängen ihres Zuhauses. Obwohl es ein Gebäude der eher stillen Sorte war, unterschied sich diese Stille trotzdem von der, die ich von meinem eigenen Zuhause gewöhnt war, und jedes Geräusch, das erklang, fiel mir nur umso mehr auf. Ich gab mir Mühe, nicht zu angespannt zu wirken, wann immer es über uns in der Decke knackte oder sich das Holz in den Wänden dehnte. Leila hatte sich mit dem Rücken an mich gekuschelt, ich hatte einen Arm um sie gelegt und streichelte mit der anderen in ruhigen, sanften Bewegungen durch ihr Haar. Wir hatten uns zum Kuscheln ins Bett gelegt - zum »Aneinander gewöhnen«, wie wir es wohl in stiller Übereinkunft benannt hatten -, und das Zeitgefühl war mir schon vor einer Weile abhandengekommen. Ich wusste nicht, ob einer von uns beiden zwischendurch einnickte, und wenn ja, ob Leila das bei sich zu verschleiern versuchte. Manchmal bildete ich mir ein, dass ihr Herz sehr schnell schlug, dass eine innere Unruhe durch ihren Körper strömte und sie kurzzeitig sogar zum Zittern brachte. Jedenfalls ging irgendetwas in ihr vor. Vielleicht war sie sich der Intensität ihrer Empfindungen bis vorhin nicht bewusst gewesen, vielleicht hatte es sie einfach überwältigt, plötzlich wieder jemandem so nahe zu sein - körperlich, als auch emotional. Wenn Vorstellungen und erfüllte Wünsche plötzlich in die Wirklichkeit rückten, konnte das etwas Einschüchterndes, Surreales haben. Vielleicht hatte sie, nach all ihren Strapazen und Rückschlägen, tatsächlich nicht damit gerechnet ... anzukommen. Nun war es geschehen. Und nun schien sie ihre Gefühle sortieren zu müssen. Und dafür wiederum wollte ich ihr die Zeit geben, die sie brauchte, selbst wenn es bis zum Morgengrauen oder noch länger dauern sollte.
Dasselbe galt vielleicht auch für mich.
Draußen, auf dem Flur, fuhr ein Knacken durch die getäfelten Wände. Ich schmiegte mich etwas enger an Leila und grub meine Nase in ihre kastanienbraune Haarmähne, roch ihr Shampoo und ihr nach Rosen duftendes Parfum sowie ihren ganz eigenen Körpergeruch. Für sie war das hier fremd, und mir erging es nicht sehr viel anders. Was hieraus werden sollte, türmte sich vor uns auf, vielversprechend, aber auch gewaltig, ein Koloss, dessen Silhouetten sich am Horizont abzeichneten. Bist du dem hier gewachsen, Stevie? Mein Blick wanderte zu den Ansätzen des Tausendfüßler-Tattoos an Leilas Oberschenkel. Meine Rolle bestand nicht darin, die Dinge an ihr, die zu Bruch gegangen waren, wieder zu flicken. Meine Rolle bestand nicht darin, sie zu vervollständigen; wir beide wussten das. Meine Rolle würde darin bestehen, sie zu unterstützen, so gut ich konnte, sie immer dann zusammenzuhalten, wenn sie drohte, wieder zu zerfallen. Ich war kein fehlendes Teil - aber ich konnte, wollte der Klebstoff sein, der ihre Teile aneinanderhielt.
Auf dem Flur knackte es erneut. Doch erst, als ich mich noch dichter an Leila kuschelte und ihr einen flüchtigen Kuss ins Haar drückte, fiel mir auf, dass dieses Knacken anders geklungen hatte. Das war nicht die Täfelung gewesen.
Knaaack.
Das waren die Treppenstufen.
Ich drehte mich langsam auf den Rücken. Die Matratze unter uns ächzte, als Leila daraufhin wieder an mich heranrückte, die Nähe zu mir suchte. Eine Geste, die mich normalerweise mit Wärme geflutet hätte, doch kalte Anspannung, die sich in meine Muskeln legte, verdrängte sie. Ich schaute Richtung Tür.
Knaaack.
Ich musste an ihre Großmutter denken.
Leila regte sich. Sie drehte sich auf den Bauch, strich mit ihrer Hand an meiner nackten Körperseite entlang, fand meine Hand. Sie verschränkte ihre Finger um meine, drückte sie.
Ich lauschte angestrengt. Ich wusste nicht, woher diese plötzliche Anspannung, dieser jähe Klauengriff der Angst kam. Das Haus sprach, aber es sprach nicht allein. Etwas ging darin umher.
Mach dich nicht lächerlich, Steven. Du bist lediglich nervös.
Aber meine Gedanken rasten jetzt. Ein Eindringling. Etwas Kaltes, das wie ein Zahnstocher in die warme Membran gestochen hatte, in die Leila und ich uns zurückgezogen hatten, wanderte durch die Flure. Ich schluckte, just als ich meinte, dumpfe Schritte auf der anderen Seite der Tür zu vernehmen. Leilas Hand löste sich aus meiner, ihre Finger wanderten hinab, um über den Bund meiner Hose zu streichen.
Ich starrte weiter Richtung Tür. Als mir in diesem Moment klar wurde, dass die schrittartigen Laute verstummt waren, erwartete ich mit rasendem Herzschlag, dass sich die Türklinke bewegen würde. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Ich wusste nicht, warum mich diese Vorstellung derartig unter Strom setzte, warum ich das Gefühl hatte, durch die Tür hindurch beobachtet zu werden, und dass etwas hieran plötzlich nicht richtig war, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Steven?«
Und damit war es vorbei. Als hätte Leilas Stimme den Zauber zerschlagen, fiel die Anspannung von mir ab, und ich sackte mit einem tiefen Seufzer in die Laken zurück.
»Alles in Ordnung?«
Die Stille sprach nicht mehr, das Haus war wieder nur ein Haus.
»Ich ... tut mir leid, mir war nur, als wäre da jemand.«
Grinsend stützte Leila ihr Gesicht auf einer Hand ab. »Ziemlich unwahrscheinlich.«
»Ich dachte nur.«
»Meine Grandma kommt die Treppe nicht hoch. Und soweit ich weiß, spukt es hier auch nicht.«
Ich schaute sie an, selbst nicht ganz im Klaren darüber, ob ich meine Frage als Scherz meinte: »Bist du sicher?«
Sie lächelte. Statt zu antworten, lehnte sie sich zu mir heran und küsste mich. Ihre Lippen waren warm und fest, sie übte seichten Druck aus, und als sie die Hand an meinem Hosenbund weiterschob, um sie gegen meinen Schritt zu pressen, stöhnte ich leise auf.
»Ich weiß, dass ich mir in einer Sache sehr sicher bin«, raunte sie, mit den Lippen noch halb auf meinen.
Sie schob sich auf mich. Ich strich über ihre gespreizten Beine, vom schwarzen Stoff ihrer Overknees bis auf ihre nackte Haut, bevor meine Hände sich um ihre Hüften schlossen. Ohne ihren Kuss zu unterbrechen, schmiegte Leila sich mit ihrem gesamten Leib an mich, begann, sich rhythmisch und keuchend zu bewegen. In einem seltsamen, triebhaften Reflex erwiderte mein Becken ihre Stöße, mein Atem wurde abgehackter, und ich spürte, dass die letzte Hemmschwelle, das letzte Fitzelchen Zurückhaltung, das noch existiert hatte, zerfiel. Gedankenlosigkeit fand Eintritt in meinen Kopf, durchpeitschte ihn mit der Wucht einer Orkanböe und fegte hinweg, was für das Jetzt unbedeutend war. Meine Hände kneteten das nackte Fleisch von Leilas Schenkeln, schoben ihr Kleid höher, fuhren über die Rundungen ihres Hinterns und strichen über den Stoff ihres Höschens.
Ihre Küsse wurden stürmischer. Sie begann, meinen Hals zu liebkosen, mit der blanken Zunge über meine Haut zu lecken, sanft hineinzubeißen. Ich wollte ihr Höschen herunterziehen, aber sie packte meine Handgelenke, drückte sie auf ihrem Rücken aneinander, beförderte sie unter ihr Kleid. Als sie losließ, fanden meine Finger den restlichen Weg. Es dauerte einen kleinen Moment, aber schließlich gelang es mir, die Haken ihres BHs zu lösen. Leila richtete sich etwas auf. Mit einer Hand zerrte ich den BH von ihrem Körper, warf ihn ungelenk fort, bevor sich meine Finger unter ihrem Kleid nach vorn bewegten und um ihre warmen, festen Brüste schlossen.
Leila keuchte, drückte den Rücken durch. Mit dem Stoff ihres Kleides dazwischen, legte sie eine Hand auf meine und tackerte sie auf diese Weise regelrecht an ihrer Brust fest.
»Kneif mich«, raunte sie.
Ich dachte an den Moment zurück, als ich in der Badewanne gelegen und mit ihr telefoniert hatte, aber selbst dort - vor meinem geistigen Auge - hatte ich mir ihre Reaktion nicht so heftig vorgestellt. Als ich mit Daumen und Zeigefinger in ihre rechte Brustwarze kniff, verspannte sie sich und kratzte stöhnend über meinen Handrücken, ein Zittern fuhr durch ihren gesamten Körper. Bevor sie mich ein weiteres Mal aufzufordern brauchte, kniff ich schon erneut zu, diesmal noch fester, und beim dritten Mal nahm ich meine andere Hand hinzu und kniff in ihren anderen Nippel.
Sie verzog stöhnend das Gesicht, biss sich in die Unterlippe. »Mehr.«
Es war, als würden Stromstöße durch ihren Körper jagen, die sie immer wieder zum Zucken, zum Winseln brachten. Mit jedem Mal presste sie ihre Schenkel fester an meine Hüften, drückte ihren Rücken immer weiter durch. Schließlich, mit keuchendem Atem und Schweißperlen auf der Stirn, packte sie meine Arme erneut und wuchtete sie links und rechts von meinem Kopf in die Laken. Lächelnd beugte Leila sich zu mir herab, bis ihre Nippel wie scharfe Steinchen über meine Brust glitten und sich unsere Lippen fast berührten.
»Ich will dich fesseln.« Mit einer Hand fasste sie zwischen uns, fand meine Erektion und rieb daran entlang. »Ich will dich fesseln, und dann will ich dich bis zum Morgengrauen in mir haben.«
Ich konnte nur noch schlucken. »Tu es.«
Sie lächelte. Mit einem raschen Kuss hüpfte sie von mir herunter und marschierte zu ihrer Kommode. Ich stützte mich auf die Unterarme ab und schaute zu, wie sie in einer der Schubladen herumwühlte. Als sie sich wieder zu mir drehte, bereitete mir der Anblick der zwei schwarzen Seidenschals in ihren Händen sowohl ein flaues, als auch aufregendes Kribbeln in der Magengrube.
Als Leila nun ans Bett zurückkehrte, tat sie es mit langsamen, gewichtigen Schritten. »Du tapferer, gutriechender, böser Junge, Steven.« Der Lattenrost ächzte, als sie auf die Matratze sank und vom Fußende her über mich entlangkrabbelte, bis sie mit den Knien auf Höhe meiner Brust war. »Was ich wohl alles mit dir anstellen muss, damit du wieder artig bist.«
Sie wickelte den ersten Schal um mein linkes Handgelenk, beförderte es ans Kopfteil und knotete den Schal am Querbalken fest. Der Stoff schnitt überraschend fest in die Unterseite meines Gelenks, der Druck verunsicherte und erregte mich gleichermaßen. Leila vollzog dasselbe Spiel an meinem rechten Handgelenk, dann lehnte sie sich zufrieden zurück und begutachtete ihr Werk.
Ich lag mit gestreckten Armen unter ihr. Meine Hände konnte ich kaum bewegen, und das taubartige Kribbeln, das sich in meinen Unterarmen ausbreitete, fühlte sich fremd und aufregend und zugegeben auch etwas beunruhigend an, weil ich nicht wusste, ob es sich so anfühlen sollte.
Leila strich über meine Brust. »Jetzt kann ich mit dir machen, was ich will.«
Mein Herz klopfte wild. In kreisenden Bewegungen ließ Leila ihre Fingerspitzen über meine Brust wandern, schraffierte mit ihren Nägeln meine Rippen und Schlüsselbeine. Dann rutschte sie zurück. Sie warf ihr Haar über die Schulter und begann meinen Bauchnabel zu küssen, mit den Lippen tiefer zu wandern. Ich sog Luft ein, spannte meine gefesselten Arme an. Ihre Zunge hinterließ eine Spur feuchten, warmen Speichels auf meiner Haut, und als sie meinen Hosenbund erreichte, leckte sie einfach weiter bis auf die metallene Schnalle meines Gürtels, umspielte das Ding.
Ich bewegte mich unruhig, nahm entfernt wahr, wie kehlig mein Stöhnen klang.
Leila lächelte zu mir auf. Dann ließ sie abrupt von mir ab und stieg erneut aus dem Bett, ließ mich in meiner taumelnden Erwartung zurück.
»Du bist gemein!«
»Findest du? Dann pass mal auf.«
Sie stand erneut an der Kommode, und als sie sich nun umdrehte, hielt sie einen weiteren Schal in den Händen. Einen aus Baumwolle, rabenschwarz und deutlich weniger transparent. Ihr Blick wirkte herausfordernd und erregt zugleich.
Knaaack.
Ich schaute nur kurz Richtung Tür, denn im nächsten Moment stieg Leila auf das Bett und stellte sich, mit den Füßen zu beiden Seiten meiner Brust, über mich. In Zeitraffer legte Leila die Hände am Saum ihres Kleides an, stellte sicher, dass ich genau beobachtete, was sie tat. Sie begann, es hochzuschieben. Zentimeter um Zentimeter gewährte sie mir einen immer klareren Blick, ließ mich dabei nicht aus den Augen. Aus ihrer rechten Hand baumelte der schwarze Schal wie eine Schlange.
Als das Kleid hoch genug war, präsentierte sie mir ihr schwarzes Höschen. Und ihren schwarzen, gewaltigen Tausendfüßler. Meine Reaktion schien ihr zu gefallen, denn ganz kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hakte die Daumen unter den Stoff ihres Höschens, hielt das Kleid darüber an ihren Körper gepresst.
Dann, in einer einzigen, fließenden Bewegung, streifte sie sich das Höschen ab und ging dabei in die Hocke. In dem Moment, in dem sich ihre Knie neben meinen Schultern ins Laken schmiegten, drückte sie mir den Schal auf die Augen und nahm mir die Sicht. Ich spürte, dass ihr Höschen meine Brust streifte, sie zog es sich über ein Bein und warf es fort. In gespielter Enttäuschung stieß ich wehklagende Laute aus und protestierte in meinen Fesseln. Leila lachte, doch sie legte bloß eine Hand an meinen Hinterkopf und führte den Schal drumherum, sodass sie ihn festbinden konnte.
»Ich werde mich jetzt ausziehen«, flüsterte sie dabei in mein Ohr.
Wieder ächzte das Bett, als sie sich von mir herunterschwang. Das Quietschen, das dabei erklang, erschien mir unnatürlich laut, doch das musste auf meinen Hörsinn zurückzuführen sein, den mein Hirn aufgrund meiner fehlenden Sicht nun offenbar geschärft hatte.
»Du bist gemein«, wiederholte ich schmunzelnd, verlagerte das Gewicht auf dem Bett. »Die reinste Folter. Und das gefällt dir auch noch.«
»Das tut es«, erklang Leilas Stimme aus zwei Metern Entfernung.
Am Fußende sank die Matratze tiefer. Etwas daran war anders, irritierte mich, denn ihre Stimme war nicht von dort gekommen. Konnte ich mich etwa so wenig auf meinen Orientierungssinn verlassen?
Erwartungsvoll lächelte ich gegen meine Verwirrung an. »Was hast du vor?«
Sie antwortete nicht. Stattdessen streifte etwas meine Bauchmuskeln, ein luftiger, weicher Stoff, der sich anders anfühlte als ihr Kleid. Noch ein Schal?, ging es mir durch den Kopf. Meine Stirn legte sich in Falten, noch bevor mir klar wurde, dass zu dem Stoff ein fester Körper gehörte. Beine streiften meine Oberschenkel. Ein fremder Geruch - Mango? Orange? Fruchtiger als der von Leila - drang in meine Nase.
»Leila?« Ich bewegte meinen Kopf, scheuerte mit der Wange übers Laken. An meinem rechten Auge rutschte der Schal ein Stück herab, die Fransen kitzelten an meiner Hornhaut, sodass ich Tränen bekam. Blinzelnd versuchte ich, durch den frei gewordenen Spalt ins Zimmer zu spähen. Die Lichterketten neben den Fenstern sahen aus wie Laternenlichter bei starkem Regen, waren verschwommen.
Am Schreibtisch lehnte eine Gestalt in schwarzem Kleid. Ich kniff die Lider zusammen, und dann erkannte ich sie deutlicher: Leila. Dort stand Leila.
»Was ...?« Energischer scheuerte ich mit meiner Wange übers Laken, um den Schal komplett von meinen Augen zu bekommen. »Leila, was ist los?«
Über mir kicherte eine helle, junge Stimme. Im ersten Moment wusste mein Verstand nicht, wie er diesen Laut einzuordnen hatte, doch schon im nächsten spürte ich zwei Hände an meinen Schläfen. Sie schoben den Schal von meinem Kopf, als nähmen sie mir eine Sonnenbrille ab.
Ich starrte in das Gesicht eines zwölf-, vielleicht dreizehnjährigen Mädchens. Feuriges, rotblondes Haar. Ein Paar graublauer Augen hinter einer schwarzen Brille.
»Wer ...« Aber mehr kam nicht über meine Lippen.
Leila stieß sich vom Schreibtisch ab. »Was hältst du von ihm?«
Das Mädchen lehnte sich zurück, als könne sie mich so besser in Augenschein nehmen. Sie trug einen ausgefransten, buntgestreiften Pullover - einen verdammten Pullover bei dieser brühenden Hitze -, sowie eine gelbe Strumpfhose und einen Jeansrock. Auf abstruse Weise erinnerte mich ihr Outfit an ein Hahnkostüm, das ich in der vierten Klasse zu einer Schulaufführung getragen hatte.
»Funktioniert er für dich?«, fragte Leila sie.
Die Kleine betrachtete mich eingehend. »Das muss er wohl, schätze ich.«
»Was zum Teufel geht hier vor? Ist das deine Schwester, Leila? Hat sie etwa die ganze Zeit gelauscht? Falls das hier ein Witz sein soll, finde ich das nicht gerade komisch. Sie ist noch minderjährig, verdammt, du kannst sie doch nicht -«
»Er redet ein bisschen viel.« Sophie kratzte sich am Kopf.
»Geh runter von mir, okay?« Und zu Leila: »Hör mal, das ist echt nicht in Ordnung. Du meintest, sie sei heute nicht zuhause, du meintest ...«
Leila legte den Kopf schief. Sie schaute mich bloß an.
Ich wusste nicht genau, was ich sagen wollte. Ich wusste nicht genau, was ich fühlte. »Was geht hier vor?«
Und in diesem Moment wurde ich Zeuge von etwas, das ich so noch nie bei einem Menschen gesehen hatte: In ihrem Blick flackerte etwas auf. Ein Ausdruck von Reue, von Schmerz. Etwas so Gequältes, dass man meinen könnte, ein Riss würde sich durch ihre Pupillen ziehen und Tränen bahnbrechen lassen, die sich dahinter angesammelt hatten.
Und binnen einer Sekunde wich dieser Ausdruck kompletter Leere. Aller Verwirrung, aller Verunsicherung, allem Unmut und aller Fragen zum Trotz, die sich in diesem Moment in meinem Kopf türmten, sorgte dieser abrupte Wechsel dafür, dass etwas Kaltes meine Lungen umschloss und ein Schaudern über meine Schultern kroch. Ihre Augen waren plötzlich Glas.
Mit beiden Armen zog ich an den Schalen. »Mach die Fesseln los, Leila.« Als ich spürte, wie fest sie die Dinger tatsächlich gezogen hatte, rüttelte ich stärker an ihnen. »Im Ernst.«
Sie schaute mich noch zwei, drei Sekunden an. Dann wandte sie sich ihrer Schwester zu. »Wenn es so okay für dich ist, können wir anfangen.«
Ich rüttelte und zog, dass das Kopfteil des Bettes an die Wand schlug. »Leila, verdammt nochmal!« Ein scharfes Brennen durchzog meine Gelenke. »Ich weiß nicht, was diese Aktion auf einmal soll, aber wenn du glaubst, dass du auf diese Weise irgendetwas beweisen kannst oder musst, dann ...«
Ich wurde still. Das Rauschen, das sich in meinem Hinterkopf ausbreitete, dieses Kriseln, als würden Ameisen auf meiner Hirnrinde herumkrabbeln, hatte ich zuletzt so deutlich gespürt, als ich als Kind einmal im Geräteschuppen meines Dads herumgekaspert hatte und in der Erwartung vom Maisanhänger gefallen war, dass mich die nächstbeste Eisenstange aufspießen würde. Dieser kurze, vage, kaum greifbare Moment der Realisierung, dass dies also mein Schicksal war, diese jähe, unbarmherzige Erkenntnis, dass ich mich in einer Situation befand, die wirklich ernst, wirklich tödlich war - für den Bruchteil einer Sekunde hatte diese Gewissheit meinen Verstand durchschlagen und mich mit dem sehr fragilen Dasein meiner Existenz konfrontiert.
Ich wusste nicht, ob Sophie es die ganze Zeit bei sich getragen oder vielleicht auf dem Bett zwischengelagert hatte, aber als sie das Tranchiermesser hob, um die Klinge im Widerschein der Lichterketten zu begutachten, setzte in meinem Verstand kurz etwas aus, und jenes kriselnde Rauschen tröpfelte durch mein gesamtes Rückenmark, rüttelte an Urinstinkten, die alles Denken und Handeln für den Fluchtreflex ebneten.
»Hör auf zu reden, Daddy«, sagte Sophie.
Meine Mundhöhle schmeckte pappig, meine Zunge fühlte sich an wie ein dicker Pelz. »W-Was soll das hier?« Ich starrte Leila an. »Was, um Himmelswillen -«
Sophie legte die flache Messerseite auf meinen Bauch.
»Scheiße!« Mein Körper reagierte auf das kühle Metall, als hätte es ihm einen Stromschlag verpasst. Ich riss die Beine an, sodass Sophie mit einem leisen »Huch« nach vorn rutschte. Dabei kicherte sie, als säße sie auf dem schaukelnden Gaul eines Kinderkarussells. Das trieb mich nur noch mehr in die Fassungslosigkeit. »Bist du irre? Nimm das Messer weg, verflucht! Und geh - von mir - runter.«
Ich spannte die Hüften an und stieß mich mit dem Becken vom Bett ab. Überrascht purzelte Sophie zur Seite. Sie stemmte sich jedoch mit der freien Hand an der Matratze ab, fand mit ihren Füßen auf dem teppichbelegten Boden Halt. Sie richtete sich auf und warf lächelnd ihr Haar zurecht.
»Früher hättest du mich niemals gehen lassen.«
Verrückte Ziege. Ich schaute von ihr zu Leila; beide Schwestern flankierten mich nun von jeweils einer Seite des Bettes. Ich kämpfte gegen meine aufkeimende Panik, meine aufkeimende Hilflosigkeit an, indem ich noch fester an den Seidenschals zog. Der Stoff schnitt fest in meine Haut, ich biss die Zähne zusammen und sah, wie die Venen an meinen Unterarmen hervortraten. Schweiß rann in meine Augen.
Der Ausdruck auf Leilas Gesicht hatte etwas zugleich Verständnisvolles, als auch seltsam Bedauerndes. »Du wirst nicht drumherum kommen, Daddy. Dieses Mal nicht.«
Der Querbalken knackte. Ich verrenkte meine Schultern, dass ich erwartete, meine Gelenke würden jeden Moment herausspringen, und als ich darauf ein Ratschen vernahm, erwartete ich fast, dass genau dieses Geräusch meine Selbstlähmung auch einläutete. Dann sah ich keuchend über die linke Schulter. Die Oberseite des Querbalkens besaß eine schrägzulaufende Seite, sodass die Oberkante eine dünne, geschliffene Linie bildete. Der feine Seidenstoff hatte sich daran aufgerissen.
Ich starrte zu Leila. Sie sah es ebenso.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Ich riss, zog, scheuerte, alles davon zur selben Zeit. Sophie sprang aufs Bett. Leila machte zwei Schritte auf mich zu, zögerte danach jedoch, offenbar weil sie ahnte, was nun geschah: Der Seidenschal riss auseinander, mein linker Arm wurde nach vorn geschleudert, ich rollte mich auf die Seite. Mir war schleierhaft, was Sophie vorhatte, aber ich zog die Beine an und rammte meine Knie gegen ihre Waden. Mit einem zweiten »Huch!« knickte sie ein, und ich gab ihr einen Schubser mit meiner befreiten Hand und schleuderte sie vom Bett. Ich hörte, wie sie mit dem Kopf aufschlug, das Messer gedämpft auf einem der Teppichläufer landete.
Ich rollte mich weiter auf den Bauch, langte nach unten, orientierte mich am Funkeln der Klinge. Als ich den Messergriff umschloss, warf ich mich sofort auf die andere Seite, in der Erwartung, dass Leila nähergekommen war. Doch sie stand noch immer außer Reichweite, beobachtete mich nur.
Sie hat gelernt, bei Männern vorsichtig zu sein. Die Vorstellung, dass sie mich in diesem Moment genauso taxierte, wie sie ihren Vater taxiert haben musste, bereitete mir einen seltsamen, unwirklichen Stich in der Brust. Trotzdem war da noch mehr: Sie zögerte nicht nur der Vorsicht wegen. Und das gab mir ein kurzes Gefühl der Sicherheit.
Ich schnitt meinen anderen Arm vom Seidenschal los, dann schwang ich mich auf Leilas Seite vom Bett. »Was auch immer das hier heute Abend sein sollte«, sagte ich, als ich mich in meine Schuhe zwängte und dann an ihr vorbei Richtung Tür begab, »es war alles andere als okay.« Nur halb nahm ich zur Kenntnis, dass ich mit einem verdammten Messer in ihre Richtung zeigte, als ich meine freie Hand auf die Türklinke legte. »Bleib mir bloß vom ...«
Meine Stimme stockte, denn plötzlich war da ein Kloß in meinem Hals. Ich schluckte, ignorierte die verschwommenen Ränder meines Blickfeldes. Es musste gesagt werden.
»Bleib mir vom Leib«, endete ich.
Ich riss die Tür auf, als mein Blick im selben Moment an etwas hängenblieb. Als Leila es bemerkte, trat wieder dieser seltsame Ausdruck auf ihr Gesicht, diese Mischung aus Verständnis und Bedauern. Es sah beinahe aus, als wolle sie lächeln.
Der Lichtervorhang setzte die Polaroids gut in Szene. Vom Nahen waren die Details ohne Probleme auszumachen. Ich erkannte Einkerbungen und Rillen auf den fotografierten Grabsteinen. Demolierte Ecken, herausgeschlagene Bruchstücke, die im vertrockneten Rasen daneben lagen. Zerrissenes Absperrband, das, plattgetreten von etlichen Schaulustigen, in den Dreck gestanzt war. Insgesamt: Drei verschiedene, offene Gräber. Um jedes davon hatte sich aufgeschüttete Erde getürmt, als solle sie die freigelegten Löcher wie morbide Gemälde einrahmen. In den Löchern selbst lagen die Überreste aufgebrochener, zerschlagener Särge. Die leeren - und teils zerfledderten - Polsterungen zu sehen, fühlte sich fast noch falscher und trauriger an, als wenn jemand auf ihnen läge.
Was meine Aufmerksamkeit jedoch am meisten auf sich zog, waren die Symbole. Die Symbole und Sprüche, die man in bewusster Provokation, in bewusster Häme auf den Grabsteinen hinterlassen hatte: Pentagramme, Hakenkreuze, Strichmännchen, die es miteinander trieben. Tiraden, die sich gegen Gott richteten, die Gott beleidigten. Worte, die behaupteten, dass Jesus bei seiner Kreuzigung einen Steifen bekommen hätte, Worte, die davon schilderten, dass er zu Luzifer und nicht zu dem Herrn im Himmel gebetet hätte. Blasphemische Worte. Schmutzige Worte. Satanische Worte.
Meine Worte.
Immer wieder wanderte mein Blick über den betroffenen Grabstein. Ich las und las den Spruch, ohne, dass er für mich Sinn ergab. Ohne, dass er für mich Sinn ergeben wollte.
Heil Satan und habt einen schönen Tag.
Ich drehte mich um. Leila stand direkt hinter mir.
»Weißt du, Steven ...« Sie betrachtete das Bild so nachdenklich, als handle es sich um ein ausgestelltes Kunstgemälde, das es zu erörtern galt. »Ich möchte mich entschuldigen. Ich hatte Panik bekommen. Als du mich wegen dieser Friedhofssache so direkt konfrontiert hattest. Das hat mir den Boden unter den Füßen etwas weggerissen «
Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte bei mir ankamen. Dann blinzelte ich. »Panik?« Ich wandte mich ihr zu. »So sieht dein Handeln aus, wenn du unter Panik stehst? Du drehst das Spiel um, säst Schuldgefühle, zeigst die kalte Schulter und wartest dann, bis der Betroffene wieder in dem Glauben bei dir angekrochen kommt, dass er etwas falsch gemacht hat?«
Sie wandte den Blick ab, meine Worte trafen sie. »Ich wusste nicht, ob du dich nochmal melden würdest. Ob ich es tun würde. Oder ob ... ich mit dem, was sich dort zwischen uns entwickelte, wirklich weitermachen wollte.«
»Du hast mich belogen.«
Zögernd sah sie mich an. »Es hat mich überrumpelt. Aber gleichzeitig ... war da plötzlich auch ein Ausstieg. Verstehst du? Ein Teil von mir hat gehofft, dass du dich nicht wieder melden würdest.«
Ich runzelte die Stirn. »Ein Ausstieg wovon?«
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ihren so schönen, graugrünen Augen. »Tut mir leid, Steven.«
Dass sie eine unserer Bierdosen in den Händen hielt, bemerkte ich erst, als sie mir das Zeug in die Augen spritzte. Ich verzog überrascht das Gesicht, das Messer wurde aus meiner Hand geschlagen, im nächsten Moment schmetterte ein Handballen mit so viel Wucht gegen meine Nase, dass mir zusätzliche Tränen in die Augen schossen. Brennender, heißer Schmerz sickerte von meiner Oberlippe bis in meinen Rachen, machte mich benommen. Wehren, weglaufen, tu was, Steven! Ich schlug blind nach vorn, holte schwungvoll mit meinen Fäusten aus, traf nichts als Luft. Adrenalin durchpumpte mich. Ich taumelte über die Türschwelle auf den Flur, schniefte gegen das Brennen in meiner Nase und den Tränen in meinen Augen an. Dann wurde mir ein Bein gestellt.
Als ich nach hinten segelte, war ich wieder sechs oder sieben Jahre alt, stürzte als kleiner Junge vom Maisanhänger Richtung Eisenstangen. Ja, das hier passiert wirklich, sagte irgendeine banale Stimme in meinem Kopf, bevor ich mit ebendem auf dem Boden des Flurs aufschlug und eine Woge dumpfer Übelkeit durch meinen Schädel schwappte. Ich röchelte, kniff die verklebten Lider zusammen. Worte wurden ausgetauscht, irgendwo dort über mir, aber ich verstand sie nicht, wusste nicht, aus welchen Vokalen und Konsonanten sie sich zusammensetzten.
Das ist die Sprachverwirrung, Steven. Heil Satan und habt einen schönen Tag!
Hustend drehte ich mich auf den Bauch, kam auf alle Viere. Krümel und Flusen blieben an meinen Handballen kleben, der Teppich scheuerte an meiner Haut wie Glaswolle. Ich erkannte die verschalten Holzwände, das Licht der nackten Glühbirnen, aber vor allem orientierte ich mich an dem Gestank, an den Duft toter, in den Wänden verendeter Ratten, die mich Richtung Treppe lotsten.
Die Stimme hinter mir war Sophies. »Du kannst nicht mehr weglaufen, Daddy. Sie werden alle sehen, was du getan hast. Du wirst es ihnen gestehen.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, als ich im selben Moment die roten Kleckse bemerkte, die von meiner pochenden Nase auf den Teppich tropften. Der Geschmack von Eisen breitete sich in meinem Rachen aus.
»Diesmal können sie nicht wegsehen«, sagte Sophie.
Ich erreichte die Treppe, zog mich an der Wand empor. Alles vor meinen Augen drehte sich, der Schacht führte in eine endlose Schwärze.
Okay. Okay, kein Problem. Gleich geschafft. Sie tun dir nichts mehr, kapiert? Sie tun dir nichts mehr. Sie werden es nicht noch weitertreiben.
Ich spuckte Blut aus und wandte mich um. »Leila ... Ich brauche ...«
Sie war wirklich gut darin, zu mir aufzuholen, ohne, dass ich es bemerkte. Eine pirschende Gazelle, die gelernt hat, jede Regung ihres Feindes abzuschätzen, sich im Verborgenen aufzuhalten, die Sekunden zu nutzen, die man ihr in Momenten der Unaufmerksamkeit und Desorientiertheit schenkt. Nun manifestierte sie sich vor mir, ein Schemen, der Konturen annahm, ein Ungeheuer, Gestaltwandler. Monster erschufen Monster. Wenn du lange genug in den Abgrund blickst und bla, bla, bla, diese ganze Schmonzette. Mir war, als hätten wir in unseren nächtlichen Austauschen irgendwann mal darüber geschrieben.
Mit dem Rücken voran stieß mich Leila die Treppe hinab. Ich verlor den Halt, die Orientierung, ein Gespür dafür, wie sich dieser Abend, diese Begegnung entwickelt hatte und was sie ausmachte. Ich stürzte in ein Becken kalter Realität. Holzmaserungen wirbelten an mir vorbei oder ich an ihnen, es krachte, meine Hände rutschten über Holz, über Teppich, verdrehten sich, alles drehte sich. Flammen schossen durch meine Wirbelsäule, versengten meine Schulterblätter, mein Steißbein, meine Rippen. Eisenstangen, dachte ich zusammenhangslos, bevor es in meiner Hüfte zwickte und barst und ein Blitz durch mein rechtes Bein schoss. Dann kam ich zum Erliegen.
Schummrige, süße Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne, am anderen Ende jener Schwärze: Das Grölen eines voll aufgedrehten Fernsehers. Als ich hustete, schrien meine Rippen auf.
Leila kam die Treppe herab. Hast du auch schon seltsame Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht? Die Frage hatte sie mir am ersten Abend gestellt. Fliegen surrten um meinen Kopf, als sei das ein sehr verdorbener Gedanke.
Leila marschierte um mich herum. Zuerst dachte ich, sie blicke prüfend den Flur auf und ab, vielleicht auch aus dem Fenster der Eingangstür. Tatsächlich musterte sie aber bloß mich. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Sophie sich bei der Treppe positionierte. Sie hielt wieder das Messer.
»Genauso hat es wehgetan«, sagte Leila. »Genauso. Jedes Mal, wenn du mit mir fertig warst, Daddy. Manchmal sogar noch schlimmer.«
Ich brauchte mehrere Anläufe, um Kraft zum Sprechen zu finden. »Ich ... bin nicht ...«
Sie drückte ihren Fuß auf meine Brust. Ich ächzte, hustete, spürte, wie sich Rauchschwaden in meinen Lungen sammelten und das Blut in meiner Nase zurücklief.
»Es hat dich geil gemacht, nicht wahr?« Das Paar Augen, das dort auf mich herabsah, in dem sich das Licht der nackten Glühbirne aus dem Eingangsbereich widerspiegelte, in diesem Paar Augen glomm so viel Abscheu, so viel aufkochender Hass, dass die Tränen an den Rändern wie Glassplitter funkelten. »Die Vorstellung, mir wehzutun, hat deinen Schwanz so hart werden lassen wie schon bei Mom.«
Ich konnte nicht mehr als aufstöhnen, als sie sich auf mich setzte. Sie drückte ihre Knie gegen meine Hüftknochen, krallte ihre Nägel in meine nackte Brust, beugte sich so tief über mich, dass sich ihr Haar wie ein Fächer um mein Gesicht legte.
»Ich werde dir zeigen, wie sich das anfühlt.« Leila schniefte, obwohl sie lächelte. »Wie es sich anfühlt, während alle anderen da sind und nichts tun, außer wegzusehen und sich die Ohren zuzuhalten.« Sie beugte sich noch tiefer. »Wirklich allein bist du erst, Daddy, wenn du selbst im Beisammensein mit deiner Familie einsam bist.«
»Ich bin nicht ... dein Vater, Leila«, kam es über meine Lippen.
Sie erhob sich und hielt auf die Holztür gleich neben der Treppe zu. Das Ding besaß noch ein altes, rostiges Schlossriegel, und als Leila es entfernte und die sperrige Tür aufzog, rollte dahinter eine so brachiale Wolke von Fäulnis und Verwesung hervor, dass ich trotz aller Schmerzen würgen musste und einen Schwall Galle erbrach. »Oh Gott ...« Speichelfäden trieften von meinen Mundwinkeln, die Übelkeit bereitete mir ein zusätzliches Schwindelgefühl.
Leila zog die Tür ganz auf, atmete tief ein. »Sie sind jetzt alle hier. Meine ganze Familie.« Sie schaute mich an. »Unsere ganze Familie.«
Sie packte mich am Handgelenk. Alles in mir rebellierte, als sie mich auf die Beine ziehen wollte, ich knickte ein, stöhnte auf. Meine Hüfte fühlte sich an, als würde sie von einem Schraubstock zusammengepresst werden. Als ich keine Anstalten machte, ihrer Geste nachzukommen, trat von hinten Sophie an mich heran und stemmte mich zusätzlich empor.
»Ich schneid dich, wenn du nicht machst, was wir wollen«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Ich war mir kaum der jammernden, nasalen Laute bewusst, die aus meinem Mund drangen. Weinte ich? Wollte ich weinen? Das kalte, aalglatte Metall einer Klingenseite glitt über meinen nackten Rücken, ganz sanft drehte Sophie das Messer, sodass die Spitze meine Haut schraffierte. Diese Berührung allein genügte, dass ich mich nach vorn bewegte.
Sie dirigierten mich zur Türschwelle. Dahinter befand sich eine Kellertreppe - kleine, enge Stufen, ein provisorisches, aus rostigen Nägeln zusammengehaltenes Geländer, das sich in der bleischweren, stickigen Schwärze verlor. Der Gestank, der von dort unten heraufwehte, griff meine Schleimhäute wie beißende Säure an, ich verzog würgend das Gesicht und hustete. Zu meinen Füßen sah ich dabei, dass sich etwas auf der obersten Stufe bewegte. Dort herumkroch.
Maden.
Leila wandte sich ihrer Schwester zu. »Grandma muss es auch sehen.«
Sophie stöhnte. »Ihr Rollstuhl ist noch draußen beim Schuppen. Der Rahmen ist immer noch kaputt, seitdem ich die anderen damit transportiert hab. Eine der Schnüre hatte sich beim letzten Mal auch gelöst. Der ist in die linke Rolle gekommen.«
Leila drückte sie mit einer Hand an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dabei schmiegte sich die Messerseite erneut bedrohlich gegen meinen Rücken. »Daddy kommt nicht mehr davon, Süße. Ich halte ihn schon beschäftigt. Du schaffst das.«
Sophie lächelte sie an. Sie drückte ihrer Schwester das Messer in die Hand, dann wandte sie sich um und rannte den Flur hinab, verschwand in der schummrigen Dunkelheit an dessen anderem Ende.
Leila legte die Hände auf meine Schultern, strich mit der Rückseite der Klinge an meinem Ohr entlang. »Runter mit dir.«
»Leila, bitte -«
»Vorwärts. Oder ich schubs dich nochmal.« Ihre freie Hand schloss sich um meinen Nacken, und sie drängte mich an sich vorbei zur Stufenkante.
Ich überlegte, ob ich genug Kraft aufbringen konnte, um sie zu schubsen. Doch als würde sie genau das wittern, stieß sie gegen meine Fersen, und ich rutschte nach vorn und kam ins Schwanken. Der gähnende Schlund des Kellers tat sich vor mir auf, bleierne Hitze und gärender Gestank schlugen mir entgegen.
Die Stufe knarzte, als ich den ersten Schritt hinabsetzte. Maden krochen neben meinem Fuß herum. Der zweite Schritt folgte, der dritte. Je tiefer ich in den Schacht trat, desto weniger konnte ich sehen, desto weniger konnte ich atmen, desto mehr rebellierte mein Magen. Auf der dritten Stufe krümmte ich mich nach vorn und würgte, hatte das Gefühl, mich jeden Moment zu übergeben. Ein Schweißtropfen baumelte von meiner Nasenspitze.
Leila drückte die Klingenspitze gegen meinen Rücken und drängte mich weiter. Sie atmete jetzt schwerer, aber etwas sagte mir, dass das nicht an dem Gestank, nicht an der Hitze lag.
Auf der fünften oder sechsten Stufe hielt ich es nicht mehr aus. Der Geruch von Fäulnis, von verdorbenem Fleisch, brachte mich um den Verstand, kroch durch meine Nase in mein Hirn. Ich wirbelte herum, japste nach Luft - und in dem Moment stieß Leila mich die letzten Stufen nach unten.
Hitze und Gestank umschlossen mich wie Klauen, sodass ich den Sturz kaum wahrnahm. Meine Füße polterten über die letzten Stufen, ich schrie - glaubte ich -, schlitterte mit den Händen an den Wänden entlang, versuchte Halt zu finden, bremste meinen Fall lediglich ab. Meine Hüfte verdrehte sich ein weiteres Mal, und dann glitschten meine Füße von der letzten Stufe und traten in eine schwammige, nachgiebige Masse, wie Gummistiefel in Schlamm.
Ich besaß die Geistesgegenwart, mich nach vorn zu drehen, damit ich den restlichen Sturz mit meinen Händen abfedern konnte. Ich dachte, der Keller stehe unter Wasser - knöchel-, vielleicht knietief -, und deshalb holte ich Luft; mein Mundraum wurde von einem Geschmack gefüllt, als hätte ich in einen verrotteten Braten gebissen. In der Millisekunde jedoch, in der meine Handflächen daraufhin die fremde, breiige Masse berührten, überkam mich die Erkenntnis, das Entsetzen, dass es sich nicht um Wasser oder Schlamm handelte, denn weder Schlamm noch Wasser waren in der Lage, ein solch wuselndes Gefühl auf meiner Haut auszulösen.
Ich kreischte. Dann platschte ich mit dem Gesicht voran in eine Suppe aus Maden und Larven und Unrat, schlitterte mit den Armen durch ein wuselndes, kribbelndes Meer von Insekten und Müll und verwesten Tieren. Japsend riss ich meinen Kopf empor, Maden rieselten aus meinem Haar, sammelten sich zwischen meinen Zähnen, wurden unter mir zerdrückt. Ich wusste nicht, wie es war, zu hyperventilieren, aber in diesem Moment stellte ein Teil von mir fest, dass ich es tat. Mein Verstand verweigerte sich des Geschehens - noch nie hatte ich so deutlich wahrgenommen, dass mein Hirn in Begriff war, einfach abzuschalten. Die Dunkelheit drehte sich, ich suchte nach Halt, nach irgendetwas, wollte mich an etwas klammern, dass mich davor bewahren würde, dem Wahnsinn anheimzufallen, der drohte, meinen Verstand in seine heiße, chaotische Schwärze zu reißen. Als sich meine Finger um etwas Festeres schlossen, fühlte es sich wie ein vollgesogenes, schmatzende Fellknäul an. Es war eine tote, halb verweste Ratte.
In dem staubverhangen, trägen Licht, das vom Flur herab in den Keller schien, wurde Leilas Schatten größer. Keuchend mühte ich mich auf die Seite, sank mit meiner Schulter tiefer in die lebende Brühe und hielt Ausschau nach einer Luke, einer Tür, einer Klappe - stattdessen erblickte ich, dort wo der Keller in einen hüfthohen Kriechbereich für Rohre überging, einen menschlichen Körper.
»Sie sind alle hier, Daddy.« Leila erreichte den Fuß der Treppe. Auf den letzten Stufen hatte sie sich offenbar ihrer Kleidung entledigt, denn sie war jetzt komplett nackt. »Sophie hat jeden von ihnen hergebracht.«
Als sie mit einem wohligen Stöhnen in das Becken aus Maden und verendetem Getier trat, schoss mein Blick panisch von einer Raumseite zur anderen. Noch eine Leiche, dort an der gegenüberliegenden Wand. Die dritte lag an der Stirnseite, keine zwei Meter von meinem Kopf entfernt. Sie alle befanden sich in einem Zustand unterschiedlich vorangeschrittener Verwesung - bei einem tummelte sich Gewürm in den zersetzten Augenhöhlen, beim zweiten sah das Fleisch schwärzlich und verdorben aus, beim dritten zeichnete sich bereits das Skelett unter einer Membran eingefallener, pergamentartiger Haut ab. Verstorbene Männer mittleren Alters, sie alle ihrer letzten Ruhe beraubt.
Als Leila meine Füße erreichte, drehte sie mich auf den Rücken. »Erkennst du sie?« Sie mühte sich zwischen meine Beine und ließ sich auf mich sinken. Maden purzelten über meine Schultern und fluteten meinen Bauch, als ich durch ihr Gewicht noch tiefer in die knackende, breiige Pampe gedrückt wurde. Alles um mich herum bewegte sich.
Leila zog sich an mir herauf, bis sie mit ihren Brüsten durch die Maden auf meiner Brust glitschte. Ihr warmer Körper war von öligem Schweiß überzogen, ihr Blick wirkte fiebrig. Sie stützte einen Ellenbogen auf meiner Brust ab und deutete mit ihrem Zeigefinger Richtung Kriechbereich. »Das da ist dein Bruder John, geröstet von seinem eigenen Gehirn. Und das da, das ist Onkel Harold.« Sie deutete zu der Leiche gegenüber, die mit den zersetzen Augen. Dann sah sie mich an und stieß ein gluckartiges Kichern aus. »Dein Bruder Calvin liegt dort hinter deinem Kopf. Ich glaube, von deinem ganzen Pack war er derjenige, der immer an der Spitze stehen wollte - deshalb saß er bei eurem Unfall auch am Steuer, nicht wahr? Kannst du ihn sehen?«
Sie führte eine Hand unter meinen Kiefer und drückte meinen Kopf in den Nacken. Zwang mich, den Leichnam verkehrtherum zu betrachten.
»Wir haben sie nachts aus dem Boden geholt.« Lächelnd nahm Leila die Hand wieder zurück. »Beim ersten Mal hat Sophie es noch allein gemacht, weil ich auf der Arbeit war. Sie musste Onkel John in einem Gebüsch verstecken, weil es länger gedauert hat, als sie erwartet hatte und die Sonne bereits aufging. Ich kam später mit dem Pickup vorbei, und wir luden ihn auf. Beim zweiten Mal habe ich sie dann begleitet. So waren wir schneller und konnten sowohl Onkel Harold als auch Onkel Calvin herbringen. Wir haben das hier zusammengetan.« Langsam wich das Lächeln von ihren Lippen. »Egal, wie sehr du dich bemüht hast, Daddy, du hast es nie geschafft, uns zu trennen.«
»Ich ... bin nicht dein Daddy«, kam es hustend über meine Lippen. »Und das sind nicht deine Onkel.«
Leila sagte nichts. Stattdessen rieb sie über meine Brust, verteilte die Maden auf meiner Haut und strich schließlich ihr Haar beiseite, damit ihre Lippen Platz hatten, meine Halsbeuge zu küssen. Tränen sammelten sich in meinen Augen, während ich an ihr vorbei Richtung Decke starrte. Leila stöhnte kehlig und drängte ihr Becken gegen meines.
»Ich weiß, dass du hart bist«, raunte sie mir ins Ohr. Als sie mir in den Hals knabberte, wurde eine Larve Opfer ihres Bisses, und es hörte sich an, als würde sie auf Gummi kauen. »Versteck es nicht vor ihnen. Womöglich wussten sie es sowieso.«
Meine Schultern kreischten, aber ich stemmte die Hände gegen Leilas Brust. Ich legte alle Kraft in den Versuch, sie von mir zu schieben.
Sie schlug meine Arme einfach beiseite, presste ihre Lippen auf meine. Ich hörte, wie Maden zwischen unseren Körpern zerknackten, glibberige Flüssigkeit spritzte über meine Brust.
»Du ahnst nicht, wie lange es gedauert hat.« Leila leckte durch das getrocknete Blut auf meiner Oberlippe. »Sie alle zu finden. Meine Familie ... in dieser Menge zusammenzubringen.« Sie tauchte eine Hand in die Madensuppe und ließ die Viecher auf uns herabrieseln. Die Dinger verfingen sich in unseren Haaren, purzelten Leila über die Schultern. »Nun ist es an der Zeit, ihnen zu offenbaren, was du mir all die Jahre angetan hast.«
»Leila -«
»Es ist an der Zeit, dass du bezahlst -«
»Hör mir zu. Leila!«
»- dass du endlich bekommst, was du verdienst, Daddy.«
»Ich bin nicht dein verdammter Daddy! Ich bin nicht -«
Sie stopfte mir eine Handvoll Maden in den Mund. Grummelnd wollte ich meinen Kiefer aufreißen, doch Leila drückte ihn zusammen und presste meinen Kopf mit der anderen Hand tiefer in die Brühe. Grauen überkroch mich, Scharen von Larven schwappten über mein Gesicht, begannen über meine Augenränder zu wuseln.
»Glaubst du, ich bin blöd, Steven?« Leila schaukelte auf meinem zuckenden Körper herum wie auf einem Boot. »Glaubst du, ich wäre übergeschnappt und würde dich nicht mehr erkennen? Es funktioniert nicht anders.« Zu der Wut in ihren Augen mischten sich Tränen. Tränen, die etwas hervorspülten, das seit Jahren in ihr gebrodelt hatte; ihr gesamter Körper zitterte, ihre Lippen bebten plötzlich.
»Er ist nicht mehr da«, schluchzte sie. »Keiner von ihnen ist mehr da. Ihr beschissener Unfall hat uns die Chance auf Vergeltung bis in alle Ewigkeit genommen.« Als ich mich loszureißen versuchte, drückte Leila meinen Kiefer noch fester zusammen, legte ihre gesamte Kraft in die Muskeln ihres Arms. »Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Hm? Diese Sprüche auf den Grabsteinen kamen nicht von Irgendwo. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er ein hinterfotziger kleiner Verräter, und beim letzten Mal habe ich Sophie vor allem deshalb mitbegleitet, damit ich ihm persönlich zeigen konnte, was ich von ihm und seinen ach so unergründlichen Wegen halte.«
Ich spuckte Maden aus, versuchte meinen Kopf aus ihrem Griff zu zwängen. »Leila -«
Sie schleuderte ihn wieder zurück. »Was bringt es mir, meinen Vater in der Hölle zu wissen? Was bringt es mir zu wissen, dass er Qualen leidet, ohne, dass ich ihm dieselben Qualen zufügen kann, die er mir zugefügt hat?« Ihre Finger, mit denen sie mich an der Stirn niederdrückte, formten sich zu Krallen, zerkratzten meine Haut. »Was bringt es mir, dass dieses Drecksschwein unter der Erde liegt, während ich dazu verdammt bin, noch immer jeden verfickten Tag an ihn denken zu müssen? Ich habe keinen Frieden, solange ich es nicht selbst tue. Verstehst du das? Ich muss es durchleben. Ich muss fühlen, dass ich mit ihm abschließe, und weil dieser Feigling zusammen mit seiner restlichen erbärmlichen Sippe schon vor Jahren ins Gras gebissen hat, geht das nur noch in meiner verfickten Fantasie.«
Sie schloss beide Hände um meine Kehle und drückte meinen Kopf komplett in die Pampe. Ich tauchte unter. Bekam keine Luft mehr. Maden sprudelten in meinen Mund, blieben in meinen Ohren stecken. Ich zappelte, schlug wild mit den Beinen umher, verschluckte mich an den Insekten, die meinen Rachen fluteten. Die Atemnot legte einen Schleier über meine Sinne, schwarze Ränder pulsierten an meinen Augen ... wie eine Vignette.
In meiner Vorstellung tat sich die schmatzende Masse unter mir zu einer Grube ohne Boden auf, zu einem endlosen Loch, in das Leila mich hineinzwängte, bis ich in seinen Untiefen ertrinken würde. Ich versank in einer Welt, die nicht mehr meine war, versank in einer Fantasie, die sich in den dunkelsten und schmerzlichsten Stunden im Leben eines kleinen Mädchens geformt hatte, eingesät durch die Abscheulichkeiten ihres eigen Fleisch und Bluts und über die Jahre begossen und gepflegt durch ihren Hass und ihre Hilflosigkeit. Solange, bis ebenjene Fantasie ihr Hirn wie ein fauliges Gestrüpp umschlungen und ihr fortan keine Gelegenheit mehr gewährt hatte, frei zu denken, zu handeln, zu fühlen. Die Welt dort draußen spielte keine Rolle mehr, denn wir waren nur noch in ihrem Kopf.
Meine Hände patschten durch die Maden, bis ich Leilas Körper fand. Ich krallte meine Finger in ihr Haar und riss ihren Kopf zurück. Sie stöhnte schmerzhaft auf, aber sie löste ihren Griff nicht. Ich hörte, dass sie vor Anstrengung schnaufte, die Zähne zusammenbiss. Der Nebel in meinem Kopf wurde dichter.
Landrover94 ... ein ziemlich ulkiger Name, findestdu nicht?
Ich zerrte ihren Kopf zur Seite - und dann holte ich mit meiner linken Faust aus. Ich zielte nicht, ich schlug blind, aber das abrupte Röcheln, das ich vernahm, verriet mir, dass ich sie am Hals getroffen hatte, und ich schlug noch einmal zu. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte sich der Griff um meine Kehle, ein hauchkurzes Zeitfenster, das meine einzige Chance bildete.
Mit der Unterseite meiner Faust hämmerte ich gegen Leilas Schläfe. Sie stieß einen benommenen Laut aus, glitschte durch die Maden auf meiner Brust, verlor den Halt. Ich riss weiter an ihrem Haar, sie rutschte von mir herunter. Schreiend, mit brennenden Muskelfasern, wälzte ich mich zur Seite und wirbelte sie dadurch herum. Leila klatschte in die Madenpampe neben mir, ich kletterte auf sie und holte mit der blanken Faust aus. Ihre Wange wurde in die Insektenmenge geboxt, ihre Unterlippe platzte auf. Ich schlug weiter auf sie ein. Ich dachte nicht nach. Der Geruch von Eisen drang in die Luft, in dem Blut an meinen Knöcheln blieben Maden kleben.
Als ich ein ersticktes, blutgetränktes Husten vernahm, hielt ich schnaufend inne. Ich sah in ihre Augen. Ihre Lider flatterten, ihre Pupillen glänzten. Und ich sah ein Flehen darin. Ein Flehen, es zu Ende zu bringen.
Mein Blickfeld verschwamm. »Das bist nicht du. Ich weiß, dass du das nicht bist, Leila. Denn du hast gezögert. Bis ganz zum Schluss hast du gezögert.«
Ich ließ von ihr ab. Ich schob mich von ihr herunter. Ein glühender Eisenstab schoss durch meine Hüfte, kaum dass ich mich auf die Beine mühte, doch ich ignorierte den Schmerz und hechtete nach vorn zur Treppe. Als ich das splittrige, wackelige Geländer umschloss, zog ich mich durch die schwappende Suppe wie durch einen Tümpel. Ich hievte mich auf die unterste Stufe und kam auf allen Vieren zum Erliegen, rang nach Kraft und Sauerstoff. Dabei sah ich über die Schulter zu Leila.
»Du hättest mich gleich zu Beginn hierunter führen können«, sagte ich. Sie lag noch immer in dem Becken voller Maden, genauso, wie sie damals womöglich als kleines Mädchen in den schwammigen Pfützen ihres »Zuhauses« gelegen hatte. »Du hättest mich viel eher an diesen Ort locken können. Aber das hast du nicht. Du hast gezögert.« Ich hustete. Erschöpfung sickerte durch meinen Kopf, und ganz kurz wurde mir schwarz vor Augen. Aber ich krallte die Finger fester ums Geländer und sah Leila wieder an.
»Du hast mich vor all den Wochen angeschrieben, weil du jemanden brauchtest. Hierfür.« Ich schluckte, Tränen quollen aus meinen Augen. »Aber dann hast du gezögert. Bis zum Schluss. Denn womit du nicht gerechnet hast ...« Ich presste die Lippen zusammen - und ich sah, dass sie es genauso tat. »Womit du nicht gerechnet hast, war, dass die Person, die du hierfür auserwählt hast ... zuhören würde. Dich verstehen würde. Du hast nicht damit gerechnet, dich in mich zu verlieben, aber genau das hast du getan. Du hast nicht erwartet, dass es so weit kommt.«
Sie weinte. Sie mühte sich, auf die Beine zu kommen.
Ich schob die Hand am Geländer höher, richtete mich langsam auf. »Ich weiß, dass du nicht das Mädchen bist, das mich hier runter gelotst hat, Leila. Sondern nach dort oben, in ihr Zimmer. Das ist das Mädchen, in das auch ich mich verliebt habe.« Ich sah sie ein letztes Mal fest an. »Und das ich vermissen werde.«
Sie schwappte durch die Pampe in meine Richtung. Aber sie war jetzt sehr langsam. Ich zog mich am Geländer empor, mühte mich Stufe um Stufe nach oben, bis ich die Türschwelle erreichte und gegens Glühbirnenlicht des Flurs anblinzelte. Unter mir, am Fußende der Treppe, knarzte das Holz.
Ich schwankte über die Schwelle, hielt mich an der Tür fest. Als ich ein letztes Mal über die Schulter sah, kreuzten sich unsere Blicke. Zwei feuchte, graugrüne Diademe starrten zurück, verlorene Seelenfenster, die aus der Dunkelheit zu mir emporschimmerten.
Ich warf die Tür zu und schob den Riegel vor. Als wäre diese Handlung ein Initiierungsritus gewesen, flackerte es sogleich erneut vor meinen Augen, und gegen Übelkeit und Schmerz ankämpfend, suchte ich den Boden nach dem Messer ab. Als ich es nicht fand, wurde mir klar, dass Leila es mit in den Keller genommen haben musste.
Die Klinke rüttelte. Von der anderen Seite wurde gegen das Holz gehämmert. Keuchend schwankte ich Richtung Eingangstür, tastete suchend übers Fliegengitter, fand den Griff, zog es auf.
Kipp nicht um, Steven. Wenn du jetzt in Ohnmacht fällst, wirst du wahrscheinlich nicht mehr aufwachen.
Als sich meine Hände um die Klinke legten, ließ sich die Tür nicht öffnen. Ich rüttelte stärker, hektischer, hörte, wie Leila sich gegen die Kellertür warf.
»Fuck. Fuck, Fuck, Fuck.« Konnte ich das Fenster einschlagen? Aber das würde nichts bringen. Lag hier irgendwo der Schlüssel? Ich sah mich um, doch das Einzige, was ich entdeckte, waren Maden, die von mir herabgefallen waren und nun auf dem Boden rumkrochen.
»Scheiße.« Ich tastete meine Jeanstaschen ab. Handy und Autoschlüssel waren noch da, obschon sich das Display meines Smartphones brüchig anfühlte. Eine Holzlatte an der Kellertür knackte, barst, und mit einem Schub von Adrenalin, der mein Sehfeld zum Vibrieren brachte, starrte ich den Flur hinab.
Schuppen. Draußen. Hintertür.
Ich wollte rennen, aber sofort knirschte etwas in meiner Hüfte und ließ mich einknicken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte ich den Flur entlang, zog mein linkes Bein hinter mir her wie ein Gewicht. Bei jedem Schritt schoss ein scharfes Stechen durch meinen Brustkorb, saugte die Luft aus meinen Lungen. Mein Sehfeld verschwamm. An der Kellertür hinter mir splitterte Holz.
Ich erreichte das Ende des Flurs, stolperte durch eine offenstehende Tür in ein modriges, von Fernsehflackern erleuchtetes Zimmer. Schweißtropfen rannen in meine Augen, ich blickte mich keuchend um. Die Vorhänge waren zugezogen. In einer Ecke brannte eine Stehlampe, deren Schirm vergilbt und mottenzerfressen war. Keinerlei Möbel, nur vor dem Fernseher - einem altmodischen viereckigen Kasten, auf dem Alfred Hitchcocks Die Vögel flimmerte - stand ein einzelner Holzstuhl, auf dem eine zierliche Frau in Strickoberteil und Blümchenrock saß.
Ich wischte mir mit dem Unterarm Schweiß und zermatschte Maden vom Gesicht, humpelte auf Leilas Großmutter zu. »Hey, alte Frau, ihre zwei Enkelinnen -«
Der Fernseher beleuchtete in dem Moment die pergamentartige, schrumpelige Haut auf ihren Händen, als ich in ihr Gesicht blickte. Und es war zu viel. Zumindest schaltete in meinem Hirn irgendetwas aus, als es in das Antlitz von etwas starrte, von dem es zunächst glaubte, es handle sich um eine Puppe. Es konnte nichts mit den leeren Augenhöhlen, den eingefallenen sehnigen Wangen, den strohigen Haaren, der Abwesenheit alles Menschlichen anfangen, nicht aus dieser Nähe. Die Toten im Keller waren noch sie selbst gewesen - hier handelte es sich nur noch um eine staubige, vertrocknete Mumie.
Man kann unter vielen Umständen mit seiner Familie zusammenleben und es als normal abtun.
Dass ich vor Entsetzen einen Satz zurückgemacht hatte, bemerkte ich erst, als ich gegen die Stehlampe taumelte. Das Ding kippte um, rollte über den Boden, ließ die Schatten verzerrt über die Wände tanzen. Auf dem Flur erklang ein Poltern, und als ich zur offenstehenden Tür blickte, pinselte das Glühbirnenlicht den rasant wachsen Schatten einer mit einem Messer bewaffneten Hand an ihr Holz, deren Besitzerin herangerannt kam.
Ich hechtete Richtung Fenster. Die Tür daneben war geschlossen, aber sie ließ sich aufreißen und führte mich in einen langen gefliesten Raum, der vielleicht mal eine Küche gewesen war. Am anderen Ende befand sich eine weitere Tür. Meine Schritte hallten über die Fliesen, und als ich meine schweißnassen Finger an den Messingknopf der Tür legte, erwartete ich, dass auch sie verschlossen war und ich mich durch das Fenster im vorherigen Raum würde werfen müssen - den Raum, in den Leila gerade hereinstürmte.
Aber die Tür schwang auf. Überrascht stolperte ich zwei Eingangsstufen hinab, bevor mich die Nachtluft mit ihren frischen Düften von vertrocknetem Gras und Mais erschlug. Ich blickte mich fahrig um; das Maisfeld war zwanzig, vielleicht dreißig Meter entfernt, eine schwarze Wand vor einem sternenklaren Himmel. Rechts von mir versperrten die Umrisse eines Holzschuppens die Sicht auf den Großen Wagen. Das Tor des Schuppens stand weit auf, und unterm Licht einer Leuchtstoffröhre hantierte Sophie an einem Rollstuhl herum.
Das Krachen der Tür ließ sie aufschauen. Wir erblickten uns in derselben Sekunde.
Das Bild, wie sie ohne Umschweife zu einem erdverkrusteten Spaten griff und aus dem Schuppen auf mich zu gerannt kam, brannte sich wie eine Momentaufnahme in meinem Hirn fest. Ich hastete voran, wollte nach links ausweichen, mich an der Hauswand halten, bis die Einfahrt in Sicht kommen würde. Doch das Mädchen ahnte, was ich vorhatte, und statt direkt auf mich zuzukommen, rannte sie der Gebäudeecke entgegen, um mich abzufangen.
Die beiden würden mich einkesseln.
Ich schlug nach rechts aus. Wirbelte Staub auf, stolperte beinahe über meine eigenen Füße. Hinter mir, in dem gefliesten Raum, eilten barfüßige Schritte heran. Sophie hielt inne, schien abzuwägen, ob ich sie von der Ecke fortlotsen wollte, stapfte unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Als ich vier Meter von ihr entfernt war, schaute ich zur Gebäudeecke - und das bekräftigte sie in ihrem Entschluss, einen Satz dorthin zu machen.
Ich schlitterte über Gras und Staub, als ich weiter nach rechts und damit an ihr vorbeirannte. Sie spurtete neben mir her, und sie hielt mühelos Schritt, weil ich halb am Humpeln war. Sie schwang den Spaten wie einen Morgenstern, verhinderte mein Durchbrechen Richtung Einfahrt.
Den Graben, der sich zwischen Garten und Maisfeld auftat, sah ich in letzter Sekunde. Ich sprang über ihn hinweg, krachte in die Maisreihen wie ein Footballspieler in die Defensive-Line. Maisblätter peitschten in mein Gesicht, blind kämpfte ich mich tiefer in die Reihen. Meine Schultern knickten Stängel und Kolben um. Hinter mir schwang der Spaten durch die Reihen und köpfte den Mais.
Halt dich links. Seitenstechen brachte mich zum Keuchen, meine Hüfte pochte, als würden glühende Kohlen in ihr herumschaukeln. Ich humpelte die Maisreihe entlang, und als ich dabei zwischen den Blättern und Stängeln Richtung Haus spähte, erkannte ich die Fassade und den Garten und das Licht im Schuppen. Ich sah alles.
Nur von Leila keine Spur.
Die Erkenntnis traf mich in der Form eines kalten, schmerzenden Adrenalinschubes: Sie ist zurück ins Haus. Sie rennt zu meinem Wagen.
Ich beschleunigte. Alles in mir schrie nach Erbarmen, nach Schlaf, nach Aufgeben. Hinter mir erklang ein wutentbranntes Schnaufen; ich hörte, wie Sophie den Spaten fallenließ, um schneller zu mir aufholen zu können.
Sie rechnete nicht damit, dass ich abrupt stehenblieb. Denn genau das tat ich, als sie sich auf drei oder zwei Metern genährt hatte. Ich fuhr herum und spannte meinen Oberleib wie einen Rammbock an, und ich sah noch, wie sich die Augen hinter ihren Brillengläsern so verdutzt hoben wie bei einem Autofahrer, dem keine Zeit mehr blieb, noch auf die Bremse zu treten - dann krachte sie mit dem Gesicht voran in meine Schulter. Ich hörte, wie ihre Nase knackte und ein grummelnder, erstickter Laut aus ihrem Mund kam. Ihr zierlicher, dürrer Körper kippte nach hinten. Die Brille flog von ihrer Nase und landete mit ihr im Staub.
Ich spurtete weiter. Diese Sekunden konnte ich nicht mehr zurückgewinnen.
Die Einfahrt geriet in Sichtweite. Ich mühte mich quer durch die Maisreihen, rutschte an der Grabenböschung hinab, hievte mich mit einem winselnden, erschöpften Laut auf die andere Seite. Die Halme scheuerten an meiner Haut, als ich mich an den langen, trockenen Gräsern emporzog, Grillen zirpten laut um meine Ohren. Ich schaffte es, die Böschung zu erklimmen, aber danach konnten mich meine Beine nicht mehr halten. Ich blieb auf allen Vieren. Ich krabbelte durch den Staub auf meinen Wagen zu. Ich konnte nicht mehr.
Von Leila war nichts zu sehen. Doch seltsamerweise überkam mich bei dieser Erkenntnis eine merkwürdige Ruhe, meine Gedanken klangen ganz nüchtern: Sie versteckt sich. Die Reifen hat sie längst zerstochen. Womöglich hatte Sophie sich gleich zu Beginn darum gekümmert, bevor sie sich an die Zimmertür ihrer großen Schwester geschlichen hat, um auf ihren Einsatz zu warten. Sie versteckt sich. Und sie wird mich kriegen.
Vier Meter vor meinem Chevrolet mühte ich mich auf die Beine. Ich torkelte mehr, als dass ich ging, stieß mit meiner Schulter an die Wagentür wie ein Betrunkener. Schlüssel, Steven, Schlüssel. Meine Finger fanden den Weg in meine Jeanstasche, puhlten sich zwischen Maden zu meinem Autoschlüssel vor. Aus dem Augenwinkel sah ich dabei, dass die Reifen nicht zerstochen waren. Der ganze Wagen wirkte unberührt.
Ich zog die Tür auf, warf mich auf den Fahrersitz, zog die Tür wieder hinter mir zu. Verriegelte sie. Die Stille im Wagen wirkte unwirklich und beklemmend, ihre Vertrautheit deplatziert; für einen abstrusen Moment überkam mich eine irrationale Wut, weil hier drinnen noch immer alles so aussah und roch, als hätte ich nur einen Abstecher ins Einkaufszentrum gemacht.
Mit zitternden Fingern versuchte ich, den Schlüssel in die Zündung zu stecken.
Oh, er wird nicht anspringen. Technik, Technik, Technik, Steven. Der Motor ist hinüber. Vielleicht hat die kleine Sophie ihn präpariert.
Der Motor heulte so laut auf, dass ich zusammenschreckte. Die Scheinwerfer beschienen das alte Haus, und als ich die Hände ums Lenkrad krampfte und bereits den Rückwärtsgang einlegen wollte, sah ich sie. Durch die Windschutzscheibe.
Sie stand in der Eingangstür. Nackt, mit dem Messer in der Hand, beschienen von den Scheinwerfern und der Glühbirne hinter ihrem Rücken. Blut verunstaltete ihr Gesicht. Ihr Blick kreuzte meinen.
Ich schluckte. Schielte zu dem Pickup-Truck herüber.
Aber Leila tat es nicht. Sie schaute mich einfach weiter an. Das Licht der Scheinwerfer war zu grell, die Schatten unterm Verandadach zu tief. Mir sollte auf Ewig ein Rätsel bleiben, was genau in diesem Moment auf ihrem Gesicht vorging.
Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit durchdrehenden Reifen von der Einfahrt. Schotter knirschte, und als ich wendete und die Lichterkegel übers Maisfeld schweiften, tauchte am Rand des Felds eine Gestalt in einem bunten, fransigen Strickpullover auf. Auch Sophies Gesicht war blutverschmiert. Ihre Brille saß schief.
Ich drückte das Gaspedal durch und lenkte auf die Zufahrtsstraße. Das Haus, der Truck, das gesamte Grundstück - dieser Ort der Hölle schrumpfte im Rückspiegel zu einem Konglomerat aus schwarzen Formen zusammen, verschmolz mit der Nacht, als hätte er nie existiert.
Nur die Silhouette im Türrahmen, beschienen von der Glühbirne aus dem Haus, zeichnete sich klar und deutlich von der Schwärze ab, die sie umgab - wie eine Zeichnung, eine Gestalt, die am Rande eines Waldes stand und ein kleines Mädchen in ihrem Schlaf betrachtete. Sie wurde umso unkenntlicher, je weiter ich mich entfernte.
Dann erreichte ich die Landstraße, und ohne einenBlick zurückzuwerfen, fuhr ich davon.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro