26. Kapitel
„Kannst du bitte langsamer fahren?", bitte ich Nick und lasse meinen Kopf gegen die Beifahrertür sinken. In weniger als einer Stunde haben wir Berlin erreicht und ich bin absolut nicht bereit dazu, in mein altes Leben zurückzukehren. Denn es bedeutet, dass Nick und ich eine Fernbeziehung führen werden. Wessen grandiose Idee war das noch gleich? Ach, richtig. Meine. Ich bin so ein Idiot.
„Ich fahre schon den LKWs hinterher, noch langsamer geht nicht", erwidert Nick und legt mir seine freie Hand auf mein Bein und drückt es sanft. Meine Hand findet seine und verschränkt sich mit seiner. Eine Geste, die mein blutendes Herz betäubt.
„Anhalten, wenden und wieder zurück nach Köln fahren, wäre noch eine Idee", blicke ich zu ihm auf und sehe seinen Mundwinkel zucken. Das sollte kein Scherz sein.
„Das war kein Witz", wiederhole ich ernst meine Gedanken und das Zucken verschwindet.
„Ich weiß", seufzt er leise auf. „Ich würde auch gerne umdrehen, aber in zwei Tagen geht dein Studium los, das kannst du nicht von Köln aus starten."
„Du hast ja recht", gebe ich nach und sinke in meinem Sitz nach unten. Das Jurastudium, das ich mir so sehr ersehnt habe, wird immer unbeliebter in meinem Ansehen. Elf Semester stehen mir bevor. Fünfeinhalb Jahre. Das ist doch ein schlechter Scherz. Und nur fünfeinhalb Jahre, wenn ich in Regelzeit schaffe. Und dann habe ich nur das erste Staatsexamen. Fuck. Das wird die schlimmste Zeit meines Lebens.
„Wir schaffen das", holt mich Nick aus meinen Gedanken und lächelt mir aufmunternd von der Seite aus zu. Seine Worte klingen so vertrauenswürdig, aber immer unrealistischer.
„Und was, wenn nicht? Was, wenn es wir merken, wir entfernen uns voneinander?", wimmere ich und habe die größte Last, die Tränen zurückzuhalten. Am liebsten würde ich Nick bitten, dass er sich nach einer neuen Schule hier in Berlin umschauen soll, aber nach den letzten Wochen, in denen ich gesehen habe, wie sehr er mit Kilian und Fredie zusammen geschweißt ist, kann ich ihn unmöglich danach bitten. Zumal Nicks Haus von seinen Eltern vermietet wurde und er sich hier erst eine neue Wohnung suchen müsste.
„Das werden wir nicht. Unter der Woche wirst du so viel mit der Uni zu tun haben, dass du nur am Wochenende Zeit hast. Und da wechseln wir uns ab. Ich komme dich besuchen und am nächsten du mich. Wir schaffen das, Toni. Und wenn nicht, finden wir eine andere Lösung, ganz sicher", ermutigt er mich und betätigt den Blinker links.
Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er recht behält.
„Was machst du? Wir müssen hier nicht von der Autobahn runter. Das ist ein Parkplatz", belehre ich Nick und richte mich auf. Unterdessen breitet sich ein fettes Grinsen auf Nicks Gesichts auf.
Nick lenkt auf eine der leeren Parklücken zu, schaltet den Motor des Wagens aus und steigt aus.
„Nick? Was wird das?", rufe ich ihm hinterher. Er öffnet den Kofferraum, in dem ich höre, wie er eine Tasche öffnet, sie wieder verschließt, gefolgt von der Kofferraumklappe und steigt wieder neben mir ein.
„Eigentlich wollte ich dir das erst heute Abend geben, aber ich glaube, du kannst das jetzt schon gebrauchen" plaudert Nick vor sich hin und zückt ein kleines schwarzes samt Säcken hervor. Ich lege meinen Kopf schief, wische mir die Tränen aus den Augen und beäuge das kleine schwarze etwas, dass er zwischen seinen Händen baumeln lässt.
„Was ist das?", will ich wissen und traue mich nicht danach zu greifen.
„Lach nicht", hält er an mich und öffnet das Säckchen und leert den Inhalt auf seiner Hand aus. „Das habe ich in der sechsten Klasse im Werken gelötet. Es hat mir während meines Studiums und während meiner Laufbahn als Lehrer immer Glück gebracht und auch mich aufgepasst."
Nick deutet auf meine Hände, die ich vorsichtig ausstrecke und er gibt mir, seinen Glücksbringer. In meiner Hand drehe ich es von links nach rechts und sehe mir jedes Detail genau an. Es ist ein kleiner Marienkäfer aus Kupfer, der an einem Schlüsselanhänger befestigt ist.
„Es ist nichts Besonderes, aber vielleicht hilft er dir ein wenig durch die anstehende Zeit", strahlt Nick über beide Ohren und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und werfe mich in Nicks Arme.
♥
Das erste Semester meines Studiums, das ich zu Beginn als schwer empfand, gleicht nun einem Sommerspaziergang. Das zweite Semester ist kein Vergleich mehr. Eine Klausur nach der anderen. Ist die eine Hausarbeit beendet, setze ich mich gleich an die nächste. Nach der Einzelarbeit kommt eine Gruppenarbeit und es geht wieder von vorne los.
Es ist ein elendiger, sich immer wiederholender Kreislauf. Nur, dass es von Mal zu Mal schwieriger wird.
Meine Woche hat eindeutig zu wenige Tage und Stunden. An Schlaf ist kaum noch zu denken. Und das, obwohl ich erst im zweiten Semester stecke, es fehlen noch mindestens neun weitere.
Unter der Woche habe ich kaum noch Zeit für irgendetwas anderes außer für die Uni zu lernen. Denn die Wochenenden verbringe ich so gut wie nie Zuhause. Jedes zweite Wochenende fahre ich zu Nick nach Köln, dazwischen ist er hier.
Zu Beginn unserer Fernbeziehung habe ich den Weg zu ihm, mit dem Auto auf mich genommen, aber nicht sehr lange. Der Lernstoff ist so schnell, so viel geworden, dass ich die sechs Stunden Fahrt nicht mit dem Auto fahren vergeuden konnte. Relativ schnell bin ich auf den Zug umgestiegen. Dauert zwar länger, aber die Zeit nutze ich und lerne für das Wochenende vor. Aber es reicht dennoch nicht.
Ich müsste einen Teil des Stoffes dort durchnehmen, aber ich finde in der WG keine Ruhe dazu. Dabei ist nicht Nick das Problem, viel mehr sind es Kilian und Fredie. Sie zelebrieren das Partyleben nach wie vor und ich sehe mich nicht in der Position, die beiden zu bitten, an den Wochenenden, an denen ich zu Besuch bin, ihre Partys zu unterlassen.
Ich würde das niemals verlangen, doch es hatte zur Folge, dass aus jedem zweiten Wochenende nur noch einmal im Monat wurde. Und selbst dann, bin durch den Stress der Uni dermaßen gestresst, dass mein Umfeld meine Launen abbekommt. Nick nicht ausgeschlossen.
Wir sind nie alleine. Nicht einmal für ein paar Stunden, denn es ist Wochenende, für uns, wie auch für die anderen beiden. Nach wie vor, mag ich sie sehr gerne und unternehme gerne etwas zu viert oder zu fünft, aber mir fehlt sie Zeit, die nur Nick und mir gehört. Wo es niemanden stört, wenn wir den ganzen Tag im Bett verbringen und niemand an die Tür klopft und Anforderungen an uns hat.
Denn auch wenn Nick bei mir ist, ist da meine Familie. Die an der Tür vorbeiläuft, die klopft und uns zum Essen ruft oder sonst was von uns möchte. Es ist ganz egal was. Wir sind NIE alleine.
Das es nicht einfach werden wird, war mir bewusst, aber es nicht nur nicht einfach, es ist verdammt schwer. Ich war so voller Zuversicht, dass es klappen wird, aber die Realität scheint mich immer mehr einzuholen.
Und immer wenn ich denke, dass ich dem Lehrplan vorausgeeilt bin und mir ein freies Wochenende freigeschaufelt habe, an dem ich die Uni aus meinen Gedanken streichen kann, werde ich eines Besseren belehrt.
Eine Recherchearbeit, die mit Präzedenzfällen bewiesen werden müssen, bis nach dem Wochenende und nur mit Material, dass sich in der Bibliothek der Uni befinden.
Also ein Wochenende, dass ich Nick absagen muss. Nicht, dass er es nicht schon gewohnt wäre, das war nicht das erste Mal. Und ganz sicher nicht das letzte Mal.
Ich trage Nicks Marienkäferanhänger immer bei mir, aber allzu viel Glück hat er mir bisher nicht gebracht.
♥
Nachdem ich mir das ganze Wochenende den Arsch aufgerissen habe, diese bescheuerte Recherchearbeit in der Bibliothek auszuarbeiten und es zu einer Punktlandung gebracht habe, mit der Abgabe, erhielt ich heute den Dank für die harte Arbeit, der letzten Wochen.
Um 15 Uhr stellte unser Professor aus Strafrecht II die Noten der Klausur online.
Ich musste mich vor meinen Kommilitonen dermaßen zusammenreißen, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen und wie ein kleines Kind loszuheulen.
Die erste Klausur, in der ich durchgefallen war. Nach der letzten Vorlesung habe ich stillschweigend meine Sachen zusammengepackt und mich so schnell ich kann auf den Weg nach Hause gemacht.
Zu einem sicheren Ort, in dem ich alle meine Gefühle freien Lauf lassen kann. Aktuell sagen meine Gefühle, dass ich einen teuren Gegenstand aus dem Fenster werfen möchte, damit es in Millionen Teile zerspringt. Und mit etwas Teurem, meine ich meinen Laptop, aus dem sich sämtlichen Uni Inhalte gespeichert sind und es danach so richtig bereue.
Energisch stampfe ich die Treppenstufen zu unserer Haustür nach oben und werfe die Tür laut hinter mir zu. Die Kraft meine Wut und Verzweiflung länger zu verbergen ist mit dem Aussteigen aus meinem Auto verflogen.
„Toni, bist du das?", ruft mein Vater aus dem Wohnzimmer. Kurz bin ich gewillt, ihm von meinem Versagen zu erzählen, entscheide mich aber schnell dagegen. Wie nur zu oft würde ich nur meine schlechte Laune an einem unbeteiligten auslassen. Und wenn einer nichts dafür kann, dass ich durchgefallen bin, dann mein Vater. Nein, absoluter Schwachsinn. Absolut niemand, außer ich selbst, bin daran schuld. Es ist zum Durchdrehen.
„Ja, aber ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss lernen", würge ich ihn ab. Trete mir die Schuhe von der Ferse und hänge meinen Autoschlüssen an das Board neben der Tür.
„Eine Minute, das kannst du verkraften, danach kannst du wieder lernen gehen", versucht mich mein Vater zu überreden und sich zu holen. Aber ich kann nicht nach dieser Blamage auch nur eine Minute mit etwas verplempern, dass sich nicht um die Uni dreht.
Für diese Klausur habe ich so viel gepaukt. Habe zwei Wochenenden mit Nick dafür aufgegeben und wofür? Dafür das ich durchfalle. Ich wollte am Freitagnachmittag zu ihm fahren, aber das kann ich mir jetzt abschminken. Es ist nur schon viel zu lange her, dass ich ihn gesehen habe. Das bisschen Facetime kurz bevor ich vor lauter Erschöpfung in den Schlaf finde, reicht definitiv nicht aus, um das schmerzhafte Gefühl, dass ich jedes Mal fühle, wenn ich ihn vermisse, zu stillen.
„Nein, ich kann wirklich nicht!", fauche ich und bereue sofort meinen schroffen Ton. Genau das wollte ich nicht und reibe mir über mein Tränen nasses Gesicht. Von meiner Mascara kann ich mich verabschieden.
„Was ist denn los, Schatz?", fordert mein Vater ein zu erfahren und nimmt bei dem Anblick, wie aufgelöst ich von der einen auf die andere Sekunde bin, in den Arm.
„Nichts, gar nichts", lüge ich und drücke mein Gesicht an sein hellblaues Hemd, das durch die Tränen sich verfärbt. Hups.
„Sieht aber nicht danach aus, als wäre nichts", bemerkt mein Vater und führt mich zielstrebig Richtung Sofa, auf dem wir uns beide niederlassen und er mir die Taschentuchbox reicht. Anstatt eines herauszuziehen, nehme ich gleich die ganze Box. Eins wird nicht genügen.
„Ich bin in einer Klausur durchgefallen", bringe ich unter aller Mühe hervor und traue mich nicht in das Gesicht meines Vaters zu blicken. Ich bin selbst so enttäuscht von mir, dass ich seine Enttäuschung nicht ertragen könnte.
„Toni", hebt ein mein Kinn an, damit ich ihn ansehen muss. „Das ist doch nicht schlimm und passiert jedem mal", ermutigt er mich, nimmt sich ein Taschentuch aus der Box und wischt die Tränen aus meinem Gesicht. Doch vergeblich, immer weitere folgen.
„Aber mir nicht. Ich bin noch nie durchgefallen", motze ich.
„Aber du bist nicht mehr auf der Schule. Du kannst das Jurastudium nicht mit dem Abitur vergleichen. Das wird nicht die letzte Klausur gewesen sein, in der du durchfällst oder schlecht abschneidest."
„Aber ich habe so verdammt viel für diese Klausur gelernt. Ich war sogar jedes Wochenende hier und habe gepaukt, anstatt zu Nick zu fahren", fluche ich und fange an wild mit meinen Händen zu gestikulieren, um meinem Ärger Luft zu machen. Wenn es schon nicht mein Laptop ist, der aus dem Fenster fliegt.
„Vielleicht solltest du mal wieder hinfahren und ein wenig abschalten", wirft mein Vater auf und macht mir ein wenig Platz, damit ich ihn mit meinen Gliedmaßen nicht erwische.
Ungläubig halte ich inne. Was faselt er denn da? Zu Nick fahren und abschalten?
„Ich muss diese Klausur nachschreiben. Ich kann nicht einfach wegfahren und selbst wenn ich dort wäre. Kilian und Fredie sind auch da. Wir hätten gar keine Zeit zu zweit", seufze ich. Mein Kopf ist voll von Problemen, aktuell sehe ich keine Lösung für uns.
„Daher weht also der Wind. Ich glaube, ihr solltet euch unterhalten. Eure Lösung von einer Fernbeziehung, bis du dein Studium beendet hast, ist nicht die Richtige", beendet mein Vater meine Gedanken.
Er hat recht. Das ist keine Lösung.
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Hallo Leute :)
tut mir leid, für die Verspätung, aber ich war die Woche etwas aus meinem Zeitplan.
Tja, erst war alles gut und jetzt steht das nächste und vielleicht auch letzte Drama an. Das überstehen der Fernbeziehung und des Studiums. Eine Fernbeziehung ist nicht leicht, ich spreche da aus Erfahrung.
Was meint ihr? Was bedeutet das für die zwei?
Eure Liarie :)
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