II.*
Kapitel 2
Das Adrenalin pumpte immer stärker in meinen Adern, je näher die Schritte des Sicherheitsmannes kamen. Doch noch bevor ich mir ausmalen konnte, was als nächstes passieren sollte, wurde ich plötzlich in die Ecke der Gasse gezerrt, wobei eine Hand meinen Mund bedeckte, was mich vorm Aufschreien bewahrte. Ich realisierte gerade so, dass es Charlie war, der mich in die Ecke gedrängt hatte, da verschwand er schon und lief dem Sicherheitsmann entgegen. Wollte er mir etwa doch helfen? Oder lief er weg? Warum hätte er mich aber sonst in die Ecke gezerrt?
Ich spielte gerade mit dem Gedanken, wegzurennen, da hörte ich die Stimme des Sicherheitsmannes: „Hey du, sorry, aber hast du hier vielleicht ein Mädchen im Brautkleid vorbeirennen sehen? Die hat so rote Haare." Es war schon regelrecht ironisch, wie sehr es diesem Mann an Eloquenz fehlte. Noch ein bisschen weniger und man hätte ihn nicht verstehen können.
Charlie sollte dabei aber wohl kaum Probleme haben. Er erschien mir nicht wie die Art Mensch, die eine angenehme Bildung genossen hatten. Was hatte er überhaupt in der Gasse gemacht? Und wieso dachte er sofort, ich hätte etwas geklaut? Wahrscheinlich weil er selbst einer dieser Menschen ist. Ohne Abschluss, ohne Arbeit und im Ghetto wohnend.
„Ähm, nein, so ein Mädchen ist hier nicht lang gelaufen, sorry, Man. Aber ich glaube, ich habe vorhin jemanden im Brautkleid oben an der Stiftskirche vorbeirennen sehen. Hab mir aber nicht weiter Gedanken gemacht, das war ja ne' Kirche, du weißt ja, da heiratet man. Naja, dann bin ich schnell hier runter gekommen, um naja, du weißt schon was. Ich hatte einen kleinen Termin mit meinem Doktor. Warum suchst du überhaupt danach?"
Wieso redete Charlie nur so viel? Und was erzählte er da? Versuchte er, den Sicherheitsmann auf eine falsche Fährte zu locken? Glaubte er denn wirklich, dass der Mann ihm das abkaufen würde?
„Ich hab' jetzt keine Zeit zu sprechen, okay? Aber danke für die Hilfe, Man, ich bin dir echt was schuldig!", hörte ich den Mann rufen, dann waren nur noch laute Schritte zu hören und schließlich herrschte Stille in der Gasse.
Noch immer vollkommen außer Atem lehnte ich mich an die Wand und schlug meinen Kopf erleichtert gegen das Beton. Ich versuchte, meinen Atem zu regulieren, wobei ich meine Augen schloss und alle verwirrenden Gedanken aus meinem Kopf verdrängte.
„Bekomme ich noch ein Dankeschön oder möchtest du an der Wand einschlafen?" Erschrocken schrie ich auf und stolperte einen Schritt nach vorne, wobei ich fast wieder mit Charlie zusammenprallte. Doch dieses Mal hielt ich mich davon ab und legte die rechte Hand beruhigend in meinen Nacken.
„Du hast mich fast zu Tode erscheckt!", beschwerte ich mich aggressiv, woraufhin ich meine Haare richtete, um den Schock zu überwinden. In diesem Falle eine vollkommen sinnlose Geste, da an meinem Aussehen sowieso nichts mehr zu verbessern war. Immerhin war es in der Gasse dunkel.
„Das wird deine Haare auch nicht mehr retten, Prinzessin", ließ Charlie jedoch sofort von sich lauten, was mich dazu brachte, genervt durchzuatmen und ihn mit einem tödlichen Blick anzustarren. „Um genau zu sein wird es einiges an Arbeit brauchen, das wieder zu retten. Das gleicht schon regelrecht einem rot angestrichenen Vogelnest dort oben. Warte, ist das da etwa eine Ameise?"
Ich hielt mich gerade so davon ab, laut aufzuschreien. Dieser Typ schien wohl nie genug zu haben!Ja, ich wusste, dass ich nicht mit allzu viel Glück gesegnet wurde, was meine Haare anging. Unbearbeitet waren sie ein roter Haufen Korkenzieherlocken, die mich aussehen ließen wie das Sams höchszpersönlich. Und diese bescheuerten Löckchen waren so schwer zu bändigen, es war wirklich eine Qual. Hinzukam, dass ich nicht wie der Rest meiner Familie mit einem schönen Blond oder Hellbraun gesegnet war. Nein, ich hatte die feuerroten Haare meiner Uroma Katharina geerbt, was Mutter schon immer als Demütigung für mich angesehen hatte. Denn ihre Einstellung war ein wenig mittelalterlich. Im Mittelalter waren Menschen mit roten Haaren Hexen.
Ich denke, man kann nachvollziehen, wie viele Selbstbewusstseinskomplexe ich deswegen gehabt hatte.
Demzufolge reagierte ich ein wenig empfindlich auf Charlies überaus dumme Bemerkung, nachdem ich hysterisch sichergestellt hatte, dass keine Ameise in meinen Haaren ihr Unwesen trieb. Eine Begebenheit, die ich jedoch lieber nicht im Detail schildern sollte. Es wäre verstörend.
„Du bist ein großkotziges Arschloch, Charlie, Ähm ich habe keine Ahnung wie dein Nachname ist. Es ist eine wahre Unverschämtheit, mit mir so zu reden! Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe wichtigere Probleme zu lösen." So warf ich ihm noch einen überheblichen Blick zu, drehte mich um und stolzierte schließlich davon.
Grazie war leider sehr weit davon entfernt, doch ich musste eben mit dem klarkommen, was ich hatte. In meinem Falle ein ruiniertes Hochzeitskleid. Zu Charlies Verteidigung, er wusste nicht, wie meine Haare in Wirklichkeit aussahen und dass dies bei mir ein solch wunder Punkt war. Denn das Glätteisen war mein geheimer bester Freund. Mutter hatte sie mir schon Kind stets geglättet.
„Und wie hast du vor, besagte Probleme zu lösen, Prinzesschen? Immerhin kannst du nicht mal auf deine Haarspangen aufpassen!" Entsetzt fasste ich mir an den Kopf, wo einst eine perfekte Hochsteckfrisur sich befunden hatte. Inzwischen könnte man es wirklich als Rabennest bezeichnen. Und tatsächlich, eine der drei großen, mit Edelstein bestückten, Haarspangen fehlte. Was für ein großkotziges Arschloch!
Ich drehte mich in Rage um und lief auf Charlie zu. Wie konnte er es nur wagen? So ungezügelt hatte ich mich noch nie vor einer Person verhalten, die ich gerade erst kennengelernt hatte. Dazu musste ich trauriger Weise eingestehen, dass ich schon einige viel größere Arschlöcher als Charlie getroffen hatte. ,,Wie kannst du es wagen, mir meine Spangen zu stehlen?! Ich meine es ernst, meine Geduld ist am Ende!" Während ich schimpfte, schmiss ich empört meine Arme in die Höhe und machte schließlich mit meiner Hand eine fordernde Geste, die ihm bedeuten sollte, dass er mir die Haarspange sofort zurückgeben sollte.
Charlie fühlte sich jedoch keineswegs bedroht. Nein, stattdessen begann er, laut und amüsiert zu lachen. Schon wieder. Konnte dieser Tag denn noch schlimmer werden? Seine Augen funkelten mich belustigt an, als er mir die kleine Spange in die Hand legte und meinte: „Tut mir Leid, ich konnte einfach nicht widerstehen, weil es so einfach war. Was ich aber sagen wollte: Es ist eine verdammt dumme Idee ohne Verbündete dort einfach raus zu gehen. Wenn sie dich nicht heute erwischen, dann in ein paar Tagen. Aber lange durchhalten wirst du es garantiert nicht."
Ich benötigte ein wenig Reaktionszeit, um Charlies Worte aufzunehmen, in der ich ihn einfach nur verwirrt anstarrte. Schließlich blinzelte ich einige Male und atmete tief durch. Denn um ehrlich zu sein, hatte ich in diesem Moment keinen blassen Schimmer, was ich antworten sollte. So traurig es auch war, Charlie hatte Recht. Dies jedoch zuzugeben, war überhaupt nicht in meinem Interesse.
So fand ich eine deutlich angenehmere Art, zu antworten: „Ob du es glaubst oder nicht, tatsächlich bin ich selbst auch auf diesen Gedanken gestoßen. Da ich jedoch keiner einzigen Person jetzt trauen kann, bin ich wohl auf mich alleine gestellt. Wenn du mich also entschuldigen würdest."
Ich war gerade dabei, mich wieder umzudrehen, da wurde ich von Charlie aufgehalten, der meinte: „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Prinzessin. Jeder weiß, dass du keineswegs daran gedacht hast und dass das nur eine Ausrede war." Er schaute mich mit diesem unglaublich gut aussehenden, überlegenden Grinsen an, in dem mehr Arroganz steckte, als im Körper meiner Mutter. Wirklich, dieser Mann brachte mich nur mit seiner Anwesenheit zum Platzen!
„Du bist ein verdammter, arroganter Mistkerl! Und hör jetzt endlich auf, mich Prinzessin zu nennen!" Ich war tatsächlich außer Kontrolle. Es war fast schon demütigend, dass ich mich nur wegen eines unbedeutenden, arroganten Penners so außer Bahn gleiten ließ. Zu meiner Verteidigung hatte ich aber auch einen harten Tag hinter mir, womöglich handelte ich aus diesem Grund so seltsam.
Charlies Grinsen vergrößerte sich noch ein wenig, was meine Aggressivität steigerte. „Weißt du, ich hätte eine Lösung für dein Problem", ließ er von sich hören und verschränkte seine Arme provokant vor der Brust. Ich schob daraufhin arrogant meine Rechte Augenbraue in die Höhe und fragte:
„Ach ja?"
„Also nicht für dein Haarprobem, logischerweise ist das zu hoch für mich, aber das andere Problem ließe sich lösen." Entgeistert starrte ich den Mann vor mir an. Er war wirklich der nervigste Mensch, dem ich je begegnet war. Was dachte er nur, wer er war? Woher nahm er sich das beschissene Recht, so mit mir zu reden?!
Doch anders als zuvor, ließ ich mir nicht anmerken, wie wütend mich das machte, stattdessen verdrehte ich nur die Augen und meinte: „Ich habe wirklich keine Zeit für diese Dummheiten, also beeil' dich gefälligst."
„Nun ja, wie ich das analysiert habe, brauchst du einen Unterschlupf und eine Tarnung, um nicht gefunden zu werden. Warum, ist mir zwar suspekt, aber irgendwie auch ziemlich egal. Zu deinem Glück habe ich Erfahrung damit und könnte dir kurzzeitig Unterschlupf bei mir gewähren. Ich würde dir helfen, so lange unentdeckt zu bleiben, wie du es brauchst. Logischer Weise für eine Gegenleistung. Wir hätten beide etwas davon und du kannst mir mit Garantie vertrauen, da ich deinen fast-Ehemann mehr hasse als Boybands aus den 90ern und glaube mir, das heißt sehr viel."
Ich brauchte ein wenig Zeit, bis ich Charlies Worte verstand. Von diesem Menschen sollte ich mir helfen lassen? Ihn tagtäglich ertragen? Nun gut, das Umfeld, in dem er höchst wahrscheinlich lebte, würde eigentlich wirklich von Vorteil sein. Hinzukam, dass ich nicht wirklich eine Alternative hatte und sehr aussichtslos war. Ein gutes Gefühl breitete sich dennoch nicht in meinem Magen aus. Denn irgendetwas sagte mir, dass Charlie listig und verlogen war.
„Was wäre denn besagte Gegenleistung?", fragte ich nach, weiterhin versuchend, stets rational zu bleiben. Charlie legte seinen Kopf auf die linke Seite und musterte mich abwiegend.
„Naja, also das würde wirklich sehr viel Aufwand für mich bedeuten, also...1000€ pro Tag, inklusive der Nacht."
Ich lachte sarkastisch auf. Dieser Mann sollte wirklich mal zum Therapeuten! „Du hast wohl Wahnvorstellungen, Freundchen. 50€, mehr nicht."
„Von mir aus, 700€ würden es auch tun", beteuerte Charlie und setzte einen Blick auf, als wäre er Mutter Theresa höchst persönlich. Ein skeptisches Hochschieben meiner Augenraue genügte, um ihm zu symbolisieren, dass ich noch keineswegs einverstanden war. „Okay, 200€, aber du trägst auch die Kosten für Dinge, die man für dich kaufen muss. Und ich möchte die Abrechnung wöchentlich."
„Deal", meinte ich zufrieden und hielt Charlie meine Hand hin, die er schüttelte. ,,Ich denke aber sowieso nicht, dass ich länger als zwei Wochen brauche, um mich zu entscheiden, was ich als nächstes tun werde."
Charlie grinste jedoch nur zufrieden. „So, jetzt müssen wir es erstmal schaffen, dich von hier wegzubekommen. Ich gehe dir unauffälligere Kleidung holen, in der Zeit bewegst du dich keinen Schritt von hier, verstanden?"
„Dieser Vorgang ist nicht besonders schwer, Schätzchen", grinste ich Charlie sarkastisch an, der die Augen daraufhin verdrehte. „Ich habe Schuhgröße 38."
„Geht klar", nickte Charlie und schaute schließlich ein wenig verlegen zu mir. „Ich gehe mal davon aus, dass du gerade kein Geld mithast?"
Auf diese Frage hin seufzte ich tief, da ich ihm nicht wirklich eine Antwort gegen wollte. Deswegen griff ich, ohne etwas zu sagen, mit der Hand in meinen BH und zog das Bargeld, welches ich vor der Hochzeit eingesteckt hatte, heraus. Irgendwie hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich es eventuell gebrauchen könnte, was wohl sehr gut war.
Charlies beeindruckten Blick ignorierend, drückte ich ihm einen 100-Euroschein in die Hand, woraufhin dieser sich schmunzelnd umdrehte und die Gasse verließ. Die Zeit, die ich nun endlich für mich alleine hatte, nutzte ich, um endlich meine Gedanken zu sammeln und herunterzukommen.
Ich nahm gerade tatsächlich Hilfe von einem höchst wahrscheinlich Kriminellen an. Wer wusste, hätte ich ihm das Geld nicht gegeben, hätte er die Kleidung wahrscheinlich gestohlen. So wie er mir das Stehlen eines Kleides vorgeworfen hatte, musste er bestimmt mit diesen Dingen vertraut sein. Mal so nebenbei, welcher normale Mensch trieb sich denn im einer solchen Gasse rum? Die Antwort war eindeutig: kein normaler Mensch. Nur die, die etwas etwas zu verheimlichen hatten.
Außerdem hatte Charlie gesagt, er würde sich mit dem Untertauchen auskennen. Und so wie er mit Geld verhandelt hatte, konnte er nur ein Krimmineller sein, der schon sein Leben lang nichts anderes gemacht hatte, als Menschen zu bestehlen und auszunutzen. Doch so weh es mir auch tat, mit einem solchen Menschen zu verkehren, es war von äußerst großem Vorteil. Denn all dies konnte mir definitiv dabei helfen, für ein paar Wochen nicht von Jannis oder meinen Eltern entdeckt zu werden. Bis ich einen Plan aufgestellt und diesen womöglich durchgeführt hatte.
Was wohl inzwischen in der Kirche los war? Ich konnte mir so perfekt vorstellen, wie Mutter ausrastet und Vater... nun ja, ich hatte keine Ahnung, wie er reagieren könnte. Er war ein sehr unberechenbarer Mensch. Man wusste bei ihm grundsätzlich nie, wie es einem geschah. Womöglich hatten aus diesem Grund so viele Menschen vor ihm eine solch große Angst. Vater war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Ihm gehörte hauptsächlich eine Firma für elektrische Gegenstände aller Art, doch eigentlich hatte er sein Geld überall.
Es dauerte nicht allzu lange, bis ich wieder Charlies Schritte höre. Er kam mir mit einer Tüte entgegen, wie ich im Umriss der Dunkelheit erkannte. Ich stieß mich von der Wand ab, als Charlie bei mir ankam. Er drückte mir die Tüte in die Hand und meinte: „Hier, zieh dich schnell um, wir müssen dann los."
Beim Öffnen der Tüte zog ich eine schwarze Skinnyjeans heraus, gefolgt von einer kürzärmigen Bluse mit Leopardenmuster. Aber kein Leopardenmuster von schöner Sorte. Es war eine Art von Leopardenmuster, das in jedem Billigladen verkauft wurde. Dazu befand sich in der Tüte ein Paar schwarzer Boots, die zwar schlechte Qualität hatten, jedoch akzeptabel aussahen.
Seufzend schenkte ich Charlie einen unleidlichen Blick, der dies nur mit einem Lachen erwiderte. Ich ging davon aus, dass er diese Kleidung mit Absicht gewählt hatte. Entgegen meiner Vorstellung jedoch drehte sich Charlie nicht demonstrativ um, wie jeder halbwegs gut erzogene Mensch es getan hätte. Nein, Charlie lehnte sich an die wahrscheinlich dreckigste Wand der Welt und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Willst du dich nicht umdrehen?", fragte ich vorsichtig und lachte heiser auf.
„Nein, nicht wirklich", entgegnete Charlie daraufhin nur trocken, was mich zum Augenverdrehen brachte. Das konnte ja wohl kaum sein Ernst sein!
„Ich bitte dich aber, dies zu tun", seufzte ich also, während ich weiterhin die Bluse in meiner Hand betrachtete. Das sollte unauffällig sein?
Ohne weiter etwas zu sagen, verdrehte Charlie die Augen und hielt schließlich seine Hände vor die Augen, wie ein kleines Kind, das Verstecken spielt. „Du bist echt nervig prüde, weißt du das? Ich werde so schon nichts sehen, Prinzessin."
Tief durchatmend versuchte ich, mich nicht weiter über Charlie zu ärgern. Denn ganz tief im Inneren wusste ich, dass ich auf ihn angewiesen war. Es brachte also nichts, den einzigen Komplizen, den ich hatte, zu vergraulen. Auch wenn er der nervigste Mensch war, der mir jemals begegnet war. Aus einem mir nicht verständlichen Grund klopfte mein Herz in diesem Moment jedoch lauter als es sollte. Warum genau reagierte ich so komisch?
,,Du musst meine Kleidung halten, damit ich das Hochzeitskleid ausziehen kann", stellte ich kurz darauf trocken fest. Ich hätte wohl bereits früher nachdenken sollen. So eng, wie mein Kleid war, sollte es auf jeden Fall kein Kinderspiel werden, es zu öffnen. Es war also logisch, dass dies mit einer Hand schlichtweg unmöglich wäre. Und die Kleidung auf den Boden zu legen, käme natürlich überhaupt nicht in Frage.
Charlie nahm die Hände wieder von den Augen und guckte mich genervt an. Anschließend drückte ich ihm die Kleidung mitsamt der Tüte in die Hand und begann durch Verrenkungen meiner Arme, den Reisverschluss am Rücken zu öffnen. Dabei spürte ich Charlies durchdringenden Blick auf mir, den ich jedoch gekonnt ignorierte. Denn mir war es egal, wie sehr ich mich blamierte, ich wollte ihn auf keinen Fall bitten, mir den Reisverschluss zu öffnen.
Letztendlich schaffte ich es tatsächlich, das Kleid zu öffnen, doch hielt mit meinen Händen immer noch den Stoff des Kleides an meinen Körper. Ohne ein Wort zu sagen, entnahm ich Charlie wieder die Kleidung und schaute ihn abwartend an. ,,Dir ist schon bewusst, dass wenn ich Brüste sehen wollte, ich mir einfach einen Porno angucken kann, oder? Es bringt überhaupt nichts, sich hier so aufzuführen." Ohne aber meine Antwort abzuwarten, verdeckte Charlie wieder seine Augen mit den Händen.
Ich ließ den Stoff meines Kleides fallen und zog mir nach und nach all die Kleidungsstücke an. Alles in allem sah ich sehr lächerlich aus, denn ein solcher Stil passte keineswegs zu mir. Normalerweise trug ich stets Kleider, Hosenanzüge oder andere angemessene Kleidungsstücke. Aber definitiv keine schwarzen Boots oder Leopardenmusterblusen, die komplizierter konstruiert waren, als Pyramiden im alten Ägypten. Doch so unwohl ich mich auch fühlte, es war meine einzige Möglichkeit, nicht erwischt zu werden. Immerhin passte mir all die Kleidung, was mich sehr überraschte, denn abgesehen von meiner Schuhgröße hatte ich Charlie nichts mitgeteilt. Nun gut, zu sehen, dass ich sehr lange Beine hatte, war wohl nicht allzu schwer.
„Wir können losgehen", teilte ich Charlie mit, sobald ich all die Spangen aus meinen Haaren gezogen hatte und gerade versuchte, die inzwischen offenen Haare zu bändigen. ,,Obwohl, was machen wir eigentlich mit dem Kleid?"
Charlie, der gerade seine Hände von den Augen genommen hatte, schaute nun skeptisch von mir zum Kleid, das auf dem Boden lag und anschließend wieder zu mir. ,,Diese Haare werden nicht normal aussehen, Prinzessin, da kannst du tun, was du willst", meinte er bedauernd und tätschelte mit tröstend den Kopf. Schließlich lächelte er mich gespielt aufmuntert an, bückte sich, um das Kleid aufzuhaben und trug es anschließend noch weiter tief in die Gasse. Ohne zu zögern, stopfte er es in eine Müllonne, die von altem Regenwasser beprasselt wurde und kam schließlich, sich die Hände abklopfend, wieder zu mir.
Ich atmete verstört ein, als er vor mir zum Stehen kam und lief anschließend dem Ausgang der Gasse entgegen, woraufhin Charlie mir sofort folgte. „Also, versuch dich jetzt einfach normal zu verhalten, bis wir zu Hause angekommen sind. Ich werde mich dann darum kümmern, dass du nicht gefunden wirst, solange du es brauchst. Achso, eventuell sollten wir ein paar Grundregeln festlegen", meinte Charlie, als wir die Gasse verließen.
„Und was wären besagte Grundregeln?", fragte ich nach, während wir den Sonnenplatz überquerten und die Sophienallee entlangliefen. Erst hier in der Sonne stellte ich fest, dass Charlie Grübchen hatte, wenn er lächelte. Auch wurde mir erst jetzt bewusst, dass er ein Bandshirt trug, denn „Sum 41" war meines Wissens nach eine Rockband. So sicher war ich mir dabei aber doch nicht. Charlies Haare waren, wie ich jetzt feststelle, auch nicht so dunkel, wie angenommen. In der Sonne sahen sie fast hellbraun aus, obwohl mir eigentlich klar war, dass sie eher dunkelbraun waren. Es faszinierte mich dennoch, wie locker sie auf seine Stirn fielen.
„Die erläutere ich dir gerne, sobald du aufgehört hast, mich anzustarren, Prinzessin", erwiderte Charlie mir, was mich zum verwirrten Blinzeln brachte. Hitze schoss in meine Wangen, als mir bewusst wurde, was gerade passiert war. Verdammt, war das peinlich! Nicht dass er noch dachte, ich fände ihn attraktiv!
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht so nennen sollst?", überspielte ich die Situation selbstbewusst, als wir bereits am Leopoldsplatz ankamen, wo Charlie die Bushaltestelle ansteuerte und ich ihm folgte.
„Mein Computer sagt mir auch immer, ich solle den USB- Stick nicht einfach so rausziehen, aber das hindert mich trotzdem nicht daran, Prinzessin."
Wütend starrte ich Carlie an, während ich nuschelte: „Dabei können aber wichtige Dateien verloren gehen", was Charlie mit einem belustigten Schnauben beantwortete.
„Also, zu den Regeln-", begann Charlie erneut, verstummte jedoch augenblicklich. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet und sein gesamter Körper spannte sich an, wie ich feststellte. Charlie war zwar nicht besonders muskulös, doch das richtige Maß an Muskeln hat er definitiv, da er gut gebaut war. Ich schaute verwundert zu der Stelle, auf die sein Blick gerichtet war, erblickte jedoch nichts weiter Tragisches.
„Was ist los?", fragte ich schließlich verwirrt, doch Charlie schien keinerlei Notwendigkeit darin zu sehen, mir zu antworten. Stattdessen bog er schräg zu der Bushaltestelle, die wohl unser Ziel war ab, legte dabei plötzlich seinen Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich. Ich konnte regelrecht hören, wie laut sein Herz schlug, was mich noch mehr verwirrte.
Vor allem verwirrte mich jedoch, dass die Stelle, die er berührte plötzlich brannte und mein Herzschlag höher ging. Reagierte ich etwa auf Charlies Berührung? Oder war das nur eine Reaktion darauf, dass ich so erschöpft war?
Als wir also zum Stehen an der Bushaltestelle kamen, fragte ich im Flüsterton: ,,Warum genau musst du deinen widerlichen Arm um mich legen?"
Charlie zog mich noch näher an sich und beugte seinen Kopf zu mir, sodass wir uns jetzt in die Augen schauten. Ich sog scharf die Luft ein. Aus einem mir nicht verständlichen Grund lächelte Charlie, als er sagte: „Ich habe zwei Spione oder was auch immer gesichtet. Sie sind normal gekleidet, suchen aber den Platz ab, ich gehe mal davon aus, dass du das Ziel bist. Mein Arm ist also eine Art Schutz, damit sie dein wunderschönes Gesichtchen nicht erkennen, verstanden?"
Während mein gesamter Körper sich anspannte, nickte ich schwer atmend und schaute auf den Boden. Es war also schon so weit, dass überall nach mir Ausschau gehalten wurde? Und ich stand genau vor der Nase der Sicherheitsmänner, oder wen auch immer meine Eltern engagiert hatten und wartete auf einen Bus? Verdammt, was war, wenn sie mich erkannten? Wenn sie mich mitnahmen? Was sollte ich nur tun?
Ich zuckte zusammen, als jemand dicht an mir vorbeilief und meine Schulter streifte.
Mein Puls schoss in die Höhe und ich versuchte, nicht auffällig aufzuzucken. Ich atmete tief durch, als ich erkannte, dass es eine alte Dame war, die sich entschuldigte, was ich mit einem künstlichen Lächeln beantwortete.
„Du musst dich jetzt so unauffällig wie möglich verhalten, Victoria", verlautete Charlie mit ruhier Stimme, als ich wieder zu ihm guckte. „Ich werfe hin und wieder einen Blick um uns herum, aber du tust gar nichts und bist vollkommen entspannt, okay? In ungefähr vier Minuten sollte der Bus kommen, wir müssen es also nur bis dahin aushalten, dann wird alles gut. Wenn du jetzt aber zu angespannt bist, erlangst du Aufmerksamkeit."
„Und wie soll ich versuchen, diese nicht zu erlangen?", wollte ich mit schriller Stimme wissen, die ganz und gar nicht nach mir klang. Charlie steckte sein Handy, auf das er gerade eben noch geschaut hatte, zurück in seine Hosentasche. Daraufhin seufzte er mitleidig.
„Wir sind ein glückliches Paar, welches einfach nur den Bus benutzt. Das erregt keine Aufmerksamkeit, da die Männer nach ungewöhnlichen Dingen suchen. Verhalte dich also normal und heul nicht rum."
„Im Ernst, heul nicht rum? Wenn ich erwischt werde, ist das mein Ende!" Verdammt, mein Ende war doch sowieso schon gekommen! Charlie schaute mich augenverdrehend an und lächelte gekünstelt. Wo war nur das Mitleid hin, was er gerade noch für mich empfunden hatte? Dieses war mir deutlich lieber gewesen.
„Dein Ende war schon, als du diese Bluse angezogen hast, Prinzessin. Übrigens muss ich zugeben, ich bin sehr gut im Aussuchen von Kleidung, von hier oben hat man eine perfekte Sicht auf dein Dekolleté."
Empört riss ich meine Augen auf und zog den Stoff der Bluse ein wenig höher. Wie konnte er es nur wagen?! Ich öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder, da ich die Worte, die mir auf der Zunge lagen, lieber nicht sagen sollte. Charlie war dreist und unverschämt, ich konnte es kaum aushalten. Doch meine Schimpftirade musste wohl abwarten, bis wir im Bus waren. Aber immerhin gelang es mir dank Charlies dreisten Spruches, die Sicherheitsmänner für kurze Zeit auszublenden.
Und dies hielt sogar so lange an, bis der grüne Bus vor uns anfuhr und wir in der Mitte einstiegen. Als die Türen des Busses sich schlossen, nahm Charlie augenblicklich seinen Arm von mir. Er steuerte eine Bank mit zwei freien Sitzplätzen an. Nach einem kurzen Zögern, folgte ich Charlie und setzte mich neben ihn, was er jedoch nicht beachtete, stattdessen streifte sein Blick über den gesamten Bus. Nach kurzer Zeit hörte ich, wie Charlie entspannt ausatmete und seinen Blick wieder zu mir wandte. „Ich denke, wir sind alleine", teilte er mir sachlich mit und lehnte seinen Kopf anschließend an den Sitz.
,,Ähm, sollten wir nicht lieber ein Ticket kaufen?", fragte ich nach einer kurzen Pause zaghaft, da ich mir sehr unsicher über diese Situation war. Zuvor war ich in meinem Leben noch nie mit dem Bus gefahren, vielmehr hatte ich es von Erzählungen gekannt. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass wir einen Fahrschein benötigten. Charlie jedoch schien davon nicht unbedingt überzeugt zu sein. Denn er begann lauthals zu lachen, sobald ich diese Frage gestellt hatte, wobei er sich letztendlich zu mir drehte und verstummte.
,,Du bist wirklich in einer Welt voll Regenbogen aufgewachsen, oder? Um diese Zeit wird nie in dieser Linie kontrolliert, also brauchst du da keine Angst haben, Prinzessin. Jetzt mal im Ernst, wer gibt schon Geld für einen Fahrschein aus?" Verstört blinzelte ich Charlie entgegen, der mich immer noch belustigt angrinste, wobei seine haselnussbraunen Augen lebhaft funkelten.
,,Wenn wir erwischt werden, ist das deine Schuld", entgegnete ich nur trocken und drehte mich nach vorne, sodass ich ihn nicht mehr anschauen musste. Oder konnte.
In den nächsten Wochen werde ich wohl noch so einiges lernen müssen, dachte ich mir und seufzte. Vor allem gehörte dazu, mit Charlie zurechtzukommen, ohne ihm den Kopf abreißen zu wollen. Denn er war eine schreckliche Nervensäge.
,,So, da wir jetzt in Sicherheit sind, können wir ja die Regeln besprechen", begann Charlie diesen Satz bereits zum dritten Mal. ,,Also Regel Nummer eins: kein Sex in der Dusche, dafür ist die Dusche zu klein." Empört schnappte ich nach Luft und drehte mich zu ihm um. War er denn jetzt vollkommen übergeschnappt? Wieso, verdammt wieso benahm er sich nur so seltsam?
Charlie begann augenblicklich zu lachen, was wohl meinem verstörten Blick zu verschulden war. Doch man konnte es mir wohl kaum übel nehmen! Charlie hatte definitiv Probleme, die er lösen sollte!
,,Ich hoffe mal für dich, dass dies nur ein Scherz war", meinte ich nach kurzer Stille künstlich lächelnd mit einem warnenden Unterton.
,,Natürlich, Miss Prüde, das war nur ein Scherz. Obwohl es dieses Verbot bei mir tatsächlich gibt, aber ich glaube nicht, dass du in irgendeiner Hinsicht Probleme dabei haben wirst, dieses nicht zu brechen. Keine Ahnung, was es sonst für Regeln gibt, sowas ist nicht so mein Ding. Mach einfach, was du willst. Aber ich sollte dich womöglich vorwarnen, dass im Ghetto ein paar Männer dir eventuell auf den Hintern glotzen könnten."
Charlie konnte sich ein weiteres Lachen kaum verdrücken, als ich ihm genervt gegen die Schulter schlug. Meine Vermutung, dass er im Ghetto wohnte, bestätigte sich also. Auch wenn dies das Beste für meine Tarnung war, konnte ich mich nicht wirklich darüber erfreuen. Doch damit musste ich klarkommen, denn es war nötig. Also musste ich wohl oder übel alles aushalten, mit dem ich konfrontiert wurde.
Und wohl oder übel Charlie vertrauen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro