1. Kapitel
Stolz laufe ich durch den hell erleuchteten Gang.
Jeder einzelne Schritt fühlt sich an, als würde ich auf Wolken laufen.
Ich schwebe durch den Korridor des Krankenhauses und komme zu dem Entschluss, dass sich der Kauf dieser neuen Schuhe wirklich gelohnt hat.
Meistens verspricht einem die Werbung ja viel zu viel, aber diesmal hat sie gestimmt. Die weißen Turnschuhe mit leichten silbernen Streifen an den Seiten sind jeden Euro wert, den ich dafür ausgegeben habe.
So viele Kilometer wie während meiner Dienste als Assistenzärztin im Krankenhaus habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht zurückgelegt. Da wird jedes Fitnesstudio überflüssig.
Und leider steigert die Arbeit auch den Verschleiß meiner Schuhe. Nicht nur, weil die Sohle irgendwann durchgelaufen ist, sondern auch, weil sich alle möglichen Körperflüssigkeiten von Patienten auf ihnen angesammelt haben.
Ich schüttle mich innerlich, wenn ich an das Gewusel der Bakterien und Keime denke, die sich auf meinen alten Schuhen befanden.
Ich kann nicht zählen, wie oft ein Patient ausversehen auf mich gekotzt hat. Aber zu ihrer Verteidigung, die meisten der Flecken habe ich selbst zu verantworten, da meine Blutentnahmen noch immer regelmäßig einem Schlachtfeld ähneln.
Eine Tatsache, die ich langsam nicht mehr verstehe.
Immerhin arbeite ich nicht erst seit ein paar Wochen hier, da sollte man doch meinen, dass ich mittlerweile recht zielsicher eine Vene treffe. Leider ist das nicht der Fall. Manchmal steche ich einfach daneben, im falschen Winkel oder die Vene war zu klein, sodass sie direkt ihren Dienst versagt und anstatt mir Blut zu liefern, lieber entscheidet zu platzen.
Was für ein langer Gedankengang.
Seufzend blicke ich auf meine Uhr. Es ist drei Uhr nachts und meine Schicht geht demnach noch sieben Stunden.
Sieben verdammt lange Stunden, in denen ich vermutlich kein Auge zumachen werde.
Mein Telefon vibriert und ich erblicke die Nummer unserer Notaufnahme auf dem Display.
Ich unterdrücke ein Augenverdrehen und nehme den Anruf entgegen.
„Ich bin ja schon unterwegs."
Dieser Satz scheint meinem Gesprächspartner ausgereicht zu haben, da das Telefonat direkt beendet wird.
Worüber ich nicht traurig bin, da ich eher ein Mensch bin, der gerne seine Ruhe hat. Oder vielleicht rede ich mir das langsam auch nur ein.
Durch meine anstehende Prüfung versinke ich in meiner wenigen Freizeit in Büchern und lerne, bis mir der Rauch aus den Ohren kommt.
Dazwischen schiebe ich Schichten im Krankenhaus und raube mir dadurch jegliche Möglichkeit auf einen geregelten Schlafrhythmus.
Das letzte Mal wirklich ausgeschlafen habe ich seit Beginn meines Studiums nicht mehr. Auch private Kontakte oder eine Beziehung sind seitdem undenkbar.
Einen Freund zu haben ist unmöglich. Ich hatte in den letzten Monaten selbstverständlich Dates, aber spätestens nach ein paar Tagen haben die Kerle dann gemerkt, dass ich tatsächlich an den Wochenenden arbeiten muss oder auch Nachtschichten habe. Damit kamen sie dann nicht klar und lösten sich buchstäblich in Luft auf.
Als Freunde bezeichne ich mittlerweile die Kollegen, mit denen ich regelmäßig arbeite oder mit denen ich an der Uni sitze. Schließlich sind das die Menschen, mit denen ich am meisten Zeit verbringe.
Je länger ich drüber nachdenke, desto deprimierender hört sich mein Leben an. Aber das ist es nicht, mir gefällt es sogar.
Durch die Arbeit bin ich komplett ausgelastet und habe nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt.
Es sei denn, ich schaue mir eine richtig kitschige Serie an, dann vermisse ich doch jemanden, der mich einfach nach einem harten Tag mal in den Arm nimmt.
Aber die Realität sieht anders aus und damit muss ich nun mal klarkommen.
Schulterzuckend stecke ich das Telefon in meine Kitteltasche und biege um die letzte Ecke zur Notaufnahme.
Dort höre ich mir die Übergabe des Pflegepersonals an, dann sitze ich kurze Zeit später Herrn Müller gegenüber, dessen Rückenschmerzen diese Nacht so stark waren, dass er unbedingt mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus musste. Bis morgen früh warten, um zu seinem Hausarzt zu gehen, erschien ihm unmöglich.
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie unnötig ich sein Erscheinen hier bei uns finde, während ich ihm Schmerzmittel verschreibe und eine Überweisung zum Orthopäden ausstelle. Er hat die Schmerzen sogar schon seit einigen Wochen und ich entscheide, dass es kein akuter Notfall für die Notbesetzung des Krankenhauses in der Nachtschicht ist.
Herr Müller wirkt trotzdem recht zufrieden, da er den Eindruck hat, als hätte ich verdammt viel für ihn getan. Manchmal muss man sich einfach nur gut verkaufen.
Ich verlasse das kleine Behandlungszimmer und sehe zu Marina, die gerade Laborwerte ausdruckt. Die Pflegekraft ist schon so viele Jahre hier, dass selbst ich zu ihr aufschaue und mehr Respekt vor ihr habe, als sie jemals vor mir haben wird. Obwohl ich den höheren Abschluss habe, hat sie deutlich mehr Erfahrung.
„Kann ich noch was für Euch hier unten tun, wenn ich schon mal hier bin?", frage ich höflich und bete innerlich, dass sie oder ihre Kollegen nichts für mich haben. Ich bin wirklich müde und möchte mich in mein Bett legen. Dann kann ich wenigstens versuchen zu schlafen.
„Heute ist Vollmond, da werden wir dich bestimmt noch öfter rufen müssen Elaine."
Was die Konstellation unseres Sonnensystems mit der Anzahl an Patienten zu tun hat, die bei uns in der Notaufnahme erscheinen, ist mir immer noch fraglich. Aber scheinbar gibt es da einen Zusammenhang, da Marina nicht die erste ist, die davon berichtet.
„Ist noch was angekündigt?"
Marina schüttelt mit dem Kopf und ich mache innerlich einen Freudensprung. Dann verabschiede ich mich von ihr und verlasse die Notaufnahme, bevor ihr doch noch etwas einfällt, was sie von mir wissen möchte.
Meine Hoffnung, endlich ins Bett kriechen zu können, wird abrupt zerschlagen, als mein Telefon erneut klingelt. Ich hasse dieses Ding. Und ich hasse telefonieren.
Leider kann ich mich nicht dagegen wehren, da ich diese Nacht die einzige diensthabende Assistenzärztin bin und demnach wegen jedem Mist angerufen werde.
Auf der chirurgischen Station verschlechtert sich ein Patient und entwickelt Fieber. Seufzend mache ich mich auf dem Weg zu ihm und versuche mir diese Arbeit schön zu reden, indem ich mir das Laufen in meinen neuen Schuhen zurück ins Gedächtnis rufe.
Dieses schwebende Gefühl... herrlich.
Kurz darauf begleitet mich eine aufgeregte Pflegekraft in das Zimmer des frisch operierten Patienten. Ich habe diesen Mann noch nie gesehen, aber seine Akte gibt mir eine Auskunft darüber, was für eine Vorgeschichte und Operation er hatte.
Ich untersuche ihn, gebe der Pflegekraft Anweisungen für Medikamente und nehme dem Patienten Blut ab.
Vielleicht liegt es an meiner Müdigkeit, dass ich nicht genau drüber nachdenke, was ich gerade tue. Denn ich treffe die Vene sofort und sehe glücklich dabei zu, wie sich das Röhrchen mit der roten Flüssigkeit füllt.
Die Nachtschwester fällt mir vor Dankbarkeit fast um den Hals, als ich ihr anbiete, das Blut selbst ins Labor zu bringen.
Immerhin liegt es direkt auf dem Weg zu den Bereitschaftsräumen. Und genau dorthin will ich jetzt und nicht mehr weiter gestört werden.
Meine Schuhsohlen geben ein seltsames Quietschen von sich, als ich den frisch gewischten Gang zum Labor entlanglaufe. Da ich die einzige Person bin, die gerade hier ist, hört es sich viel lauter an, als es ist oder es fällt mir zum ersten Mal wirklich auf.
Meine Augen fühlen sich sehr schwer an und das helle Licht in den Fluren blendet mich. Ich weiß wirklich nicht, wie ich die nächsten Stunden noch überleben soll.
Im Labor angekommen, gehe ich nach hinten durch, damit das Blut direkt untersucht wird. Beeindruckt sehe ich die ganzen großen Geräte an, die hier stehen.
Ich verstehe immer noch nicht, wofür sie da sind. Aber das interessiert mich auch nicht, solange sie funktionieren. Und selbst wenn sie es diese Nacht nicht mehr tun, bin ich dafür nicht verantwortlich, sondern der Techniker.
Vor mir auf dem Tisch stehen klassisch ein paar Reagenzgläser. Die Flüssigkeiten haben verschiedene Farben, eine sieht aus wie Serum, so gelblich durchsichtig. Die Flüssigkeit daneben sieht ganz klar aus. Wie Wasser, obwohl sich bei genauerem Hinsehen etwas auf dem Boden abgesetzt hat.
Neugierig nehme ich das Reagenzglas in die Hand und hebe es hoch gegen das Licht. Fasziniert sehe ich dabei zu, wie sich die Flüssigkeit milchig eintrübt, als ich es leicht schwenke.
„Was machen Sie da?"
Vor lauter Neugierde habe ich die Anwesenheit der Laborchemikerin ganz vergessen. Ihre Frage erschreckt mich so sehr, dass ich das Glas in meiner Hand fallen lasse.
Noch während es nach unten zu den anderen fliegt, ärgere ich mich über meine eigene Ungeschicktheit.
Das Glas landet unglücklich auf einem weiteren, sodass sich dieses zur Seite biegt und seinen Inhalt auf der Tischplatte ergießt. Mein Glas landet genau daneben und zerspringt in tausend kleine Splitter.
Es klirrt, die Flüssigkeiten verschmischen sich.
Ich höre einen Schrei und weiß nicht, ob er von mir oder der anderen anwesenden Frau stammt.
In meinen Ohren knallt es gewaltig und die Sicht auf den Labortisch verschwimmt.
Für einen kurzen Augenblick zuckt ein Blitz vor meinen Augen und ich bin mir sicher, zwei hochentzündliche Flüssigkeiten vermischt zu haben.
Dann aber realisiere ich, dass ich mit meinen Schuhen im Schlamm stehe.
Mit meinen schönen neuen, weißen Schuhen.
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