21- Prioritäten
Black Streets
21- Prioritäten
Deniz schluckt laut. »Es gab keinen anonymen Angreifer?«
Es ist eher eine Erkenntnis als eine Frage. Er hat mich aus dem Kurs gezogen, dann aus dem Schulgebäude. Er hat mich gefragt, was passiert ist, wer das war und ich habe ihn einfach nur angestarrt. Noch nie habe ich mich so ertappt gefühlt. Es fühlt sich so an, als könne er nicht nur durch das Make-up, sondern auch durch meine Mauern sehen. Es scheint, als hätte es sowieso keinen Wert mehr, etwas zu verbergen. Wir sind doch schon tot- Buke und ich- was kann er uns denn noch nehmen? Ist Ümit nicht in Sicherheit im Anwesen? Der Stiefvater weiß nicht einmal, dass er dort lebt.
»Ich rede mit dir«, hat er gesagt. »Izem, sieh mich nicht so an! Sag etwas! Wer war das?«
Man hat immer eine Vermutung. Vor allem, wenn man einen Stiefvater hat. Er hatte auch die Vermutung und ich habe in seinen Augen es ablesen können. Ich habe nicht geantwortet, ich habe geweint. Einfach so. Still habe ich den Tränenfluss gewährt.
Jetzt sitze ich in seinem Wagen. Es ist komisch, fremd. Es gehört nicht zu mir so zu handeln. Ich muss mich endlich sammeln.
»Ich liege richtig, oder?«, fragt er noch und versucht seine Stimme zu bändigen. Kurz bevor er mich zum Auto gebracht hat, hatte er einen Ausraster. Etwas, was er hätte unmöglich vortäuschen können. Das denke ich zumindest.
Er schlägt gegen das Lenkrad und flucht. »Ich werde diesen ehrlosen Bastard umbringen.«
Er schlägt noch einmal. »Ich werde ihn auseinandernehmen. Für jede Berührung, werde ich ihm Knochen brechen.«
Er schlägt wieder und dann wieder und wieder.
»Beruhig dich«, sage ich und meine Stimme klingt fester als erwartet. Deniz stoppt, die Hand fest um das Lenkrad gepresst. »Ich bringe diesen Bastard um.«
»Deniz, beruhig dich.«
»Wie kann ich mich beruhigen?«, fragt er mich. »Wie kann ich mich beruhigen, wenn er dir das angetan hat? Und das immer und immer wieder. Wer weiß, wie oft schon- wer weiß, wie oft noch.«
Seine Wut ist nicht zu bändigen.
Ich presse die Lippen aneinander und drücke die Knie gegeneinander. Es bereitet mir Schmerzen und ich tue es trotzdem. Meine Hand gleitet langsam zur Türklinke.
»Nein«, ruft er, als er es sieht. »Geh nicht. Geh nicht, ich bin schon ruhig.«
Für einen Moment ist nur das Atmen zu hören. Ich mag das. Es ist einfach, schlicht und doch wunderschön. Jeder Atemzug bezeugt das pure Leben.
»Wieso machst du das durch?«, fragt er mich. »Wieso tust du nichts dagegen?«
»Er droht mir mit Buke.«
Ich habe es wirklich ausgesprochen. Nicht einen Moment habe ich gezögert. Aber ich habe auch kaum eine Wahl. Er weiß es und er wird nicht lockerlassen, außer ich sorge dafür. »Er meint, er lässt sie mich nicht sehen.«
Halbe Wahrheiten. Sind sie denn auch halbe Lügen?
»Wie kann er das tun?«, ist Deniz sichtlich verwirrt. »Wie alt ist Buke?«
»Das spielt keine Rolle. Es ist eben so und-«
»Und du nimmst es einfach so hin?«
Wieso ist er so? Noch vor dem Unterricht hat er mich überhaupt nicht beachtet. Werde ich nur interessant durch mein Leid? »Das kann dir egal sein. Ich komme damit auf meine Weise fertig. Wag es nicht, dich einzumischen.«
»Du hast Angst vor mir«, bemerkt er und sein Blick wird sanfter. »Du hast Angst, dass ich etwas tue, dass es schlimmer macht. Ich will dir nur helfen, Izem.«
»In Ordnung, wenn du mir helfen willst, dann fahr mich nach Hause und tue nichts, worum ich dich nicht bitte.«
Er startet den Wagen und ich schnalle mich an. Die Sitze sind bequem, die Welt durch das Fenster ist bunt. Es ist das Gegenteil von Wagen des Stiefvaters. Es ist das Gegenteil von meiner Welt.
Er ist bunt. Ich bin schwarz.
Er parkt den Wagen etwas abseits von unserem Haus. »Du rufst mich gleich sofort an, wenn du drin bist und bevor du schläfst. Ansonsten platze ich dort rein und nehme die Polizei mit, wenn es sein muss.«
Ich nicke und das überrascht ihn. Keine Ahnung, was er denkt, aber ich tue es nur, um ihn ruhig zu stellen. Nach ein paar Wochen bin ich weg- mit Buke und Ümit- und dann werde ich ihn nie wiedersehen. Was interessiert mich, was er von mir denkt. Aber bis dahin darf er keinen Aufstand machen.
Ich schnalle mich ab und verlasse den Wagen voller Farben mit dem Typen voller Farben darin. »Deniz, danke«, lächle ich leicht, bevor ich die Tür schließe. Er lächelt zurück und ich beobachte, wie er abfährt. Da fällt mir ein, dass ich ihm gar nicht gesagt habe, wo ich wohne. Es verschafft mir eine Gänsehaut.
Der stolze Stiefvater müsste bei der Arbeit sein. Wenn ich sein Chef wäre, hätte ihn zigmal gefeuert, so oft, wie er dort nicht erscheint.
Ich mache mir etwas zu essen, als ich ein Geräusch von oben vernehme. In dem Moment erstarre ich und fokussiere mein Gehör auf die dumpfen Schritte im Flur. Reflexartig greife ich zu einem Messer und mache einen Schritt auf die Tür zu. Was ist, wenn es der Stiefvater ist und ich auf ihn einsteche, bis er mir sagt, wo Buke ist? Die Welt würde ihn nicht vermissen. Die Idee kommt mir so unfassbar gut vor, dass meine Hände kribbeln und langsam macht dich Aufregung in meinem Inneren breit. Gleichzeitig bemerke ich, sie verzweifelt das ist.
Das Messer fällt klirrend auf den Boden und meine Augen weiten sich.
»Was wolltest du den mit dem Messer?«, fragt Buke und ohne auf ihre Frage einzugehen, schlinge ich die Arme um ihren Körper und sie wirft gleichzeitig die Arme um meinen Hals. Sie drückt mich an sich und ich fasse sie so, als würde ich sie nie wieder loslassen. »War es so schlimm?«
»Das müsste ich dich fragen«, nuschele ich und bekomme glasige Augen. Ihr Geruch umhüllt mich. Sie riecht nach Nektarinen, nach Frühling, nach Neuanfang und nach Hoffnung.
»Ich hab doch nur gelegen. Nach einer Zeit hab ich den Schmerz kaum noch mitbekommen. Elias Freund ist Medizinstudent, weißt du. Er wusste, was er machen musste. Wer weiß, was er ihm erzählt hat.«
Ich reiße mich von ihr los und starre sie verblüfft an. »Du warst nur bei Elias?«
»Wo sollte ich sonst sein?«, fragt sie und versteht das Ganze komplett falsch. »Du dachtest, ich sei abgehauen! Niemals, Izem, nie wieder, ich verspreche es dir.«
Sie nimmt mich wieder in ihre Arme. Ich korrigiere sie nicht. Die Worte würde ich nicht über die Lippen bringen können. Ich war unendlich dankbar, dass der stolze Stiefvater nur Lügen erzählt hat, um mir wehzutun und mir Angst zu machen. Aber ich würde nicht darauf warten, dass er diese zur Realität macht.
»Buke, wir müssen gehen. So schnell es geht, ich kann das nicht mehr mitmachen«, sage ich ihr.
»Ich weiß-«
»Nein, tust du nicht«, unterbreche ich sie und laufe zu meinem Rucksack aus dem ich die Umschläge mit Geld heraushole. »Wir müssen noch vor dem Ende dieses Monats weg sein. Sonst ist dieses Geld auch weg.«
»Du hast schon Geld bekommen?«, sie sieht sich die Umschläge an. »Wieso ist das so viel? Du bist doch nur für Ümit zuständig, oder?«
»Ja, aber der Rest interessiert mich nicht. Das ist eine Chance, Buke. Wir müssen sie ergreifen.«
Sie nickt und ein Stein fällt mir vom Herzen. Auf diesen winzigen Augenblick habe ich mein gesamtes Leben gewartet. Ich werfe mich wieder in ihre Arme und genieße diesen Augenblick von Ruhe und Geborgenheit. »Wie machen wir das mit Ümit? Was tun wir, bis ich achtzehn werde? Wohin geht es zuerst? Haben wir überhaupt genug Geld?«
Sie lacht über die ganzen Fragen. »Ich müsste mit deiner Chefin reden und sie aufklären, um Ümit zu bekommen. Glaubst du, sie würde ihn mir geben?«
Sie will Ümit doch viermal am Tag loswerden. Außerdem haben wir ein besseres Verhältnis bekommen. Aber was it mit Nurgül? »Ich denke schon«, antworte ich. »Und wenn nicht, entführen wir ihn.«
»Ich glaube, dass die Polizei das Letzte ist, das wir brauchen, wenn wir fliehen.«
»Wir müssen also darauf bauen, dass sie ihn uns freiwillig übergeben?«
Denizs Stimme klingt in meinem Ohr. Lass mich dir helfen.
»Was ist mit Anne (Mutter)?«, fragt Buke vorsichtig, wissend, dass ich nicht gut auf das Thema anzusprechen bin.
»Sie ist tot, Buke. Das wissen wir beide. Sie ist gestorben. Sie war ängstlich, aber niemand, der uns hätte zurückgelassen.«
Sie nickt, scheint nicht ganz überzeugt.
»Ich habe die Schränke des Stiefvaters durchgesucht. Dort ist nichts über sie. Er wollte dich nur bändigen können, denn wenn du gebändigt bist, bin ich es auch. Sonst hätte er uns beiden damit gedroht. Außerdem hätte er sie niemals einfach gehen lassen. Das ist eine Geldquelle weniger.«
»Du hast ja recht.«
Ich umarme sie wieder und damit haben wie einen ersten Plan.
»Was glaubst du, wie lange wird es dauern, bis ich offiziell Ümits Mutter werde?«
»Ich weiß nicht, wir werden es sehen.«
Ich möchte sie eigentlich nicht alleine lassen, aber für eine Weile müssen wir noch die Gefangenen spielen.
Der Türsteher am Haus begrüßt mich lächelnd. »Meral, Hülya und Nurgül sind nicht da.«
Ich bleibe vor ihm stehen. »Wieso nicht?«
»Sie hatten noch eine dringende Angelegenheit zu klären. Dauert bestimmt nicht mehr lange.«
»Ümit ist also allein?«, sprudelt es aus mir und ein kalter Schauer fährt meinen Rücken entlang.
»Deniz ist bei ihm.«
Das macht das Ganze nicht besser.
Ich spurte hoch und platze in Ümits Zimmer, wo Denit das Baby in seinen Armen wiegt. Er lächelt mich an, als er mich sieht. »Weißt du, wie schwer es ist, dieses Baby zum Schweigen zu bringen?«
»Das ist mein Job«, antworte ich und will ihm Ümit eigentlich aus den Armen reißen, halte mich aber zurück.
»Und das ist gut so, meine Mutter hat die Geduld eines Kleinkindes.«
»Darf ich?«, frage ich höflich. »Ich habe ihn vermisst.«
Deniz nickt und gibt mir den Kleinen in die Arme. Ich muss direkt lächeln, werde schwach, wenn ich ihn sehe.
»Du wärst eine gute Mutter«, meint Deniz und beobachtet mich. Wahrscheinlich ist er einer der einzigen, die solch einen Ausdruck in meinem Gesicht erleben. Die anderen wären dann Meral und Nurgül.
»Meinst du?«, frage ich. Darüber habe ich nie nachgedacht. Eine Familie gründen, Mutter werden, dafür ist kein Platz zwischen meinen Fluchtplänen.
»Ich weiß es.«
Ein Gefühl in mir verbietet es, Deniz um Hilfe zu bitten. Es sagt, es würde mich zersplittern. Vielleicht ist es auch nur die Angst.
»Weißt du, wann Hülya wiederkommt?«, frage ich Deniz. Ich will zuerst mit ihr reden, weil sie ihre Worte im Haus Gesetz sind, sie würde sich am ehesten mit Ümits Abwesenheit anfreunden und sie hat den größten Bezug zu Nurgül.
»Du vertraust mir nicht«, schließt er daraus. »Ich erwarte nicht, dass du mir vertraust, weil ich einiges herausgefunden habe.«
»Doch, genau das tust du«, entgegne ich und bin überrascht, wie direkt ich bin.
Er schüttelt den Kopf. »Ich erwarte, dass du mir vertraust, weil ich es bin- nicht, weil Umstände dafür sorgen.«
Ich schweige, Ümit wiegend. Wie werde ich dich hier nur wegbekommen?
»Wir werden eine Lösung finden«, antwortet Deniz meinen Blick deutend. »Du vertraust mir nicht, willst daher erst mit meiner Mutter oder meine Tante reden, oder?«
Ich antworte nicht.
Er beißt sich auf die Lippe. »Tu das nicht.«
Ich lege Ümit in sein Bett und setze einen Kuss auf seine Stirn.
»Ich wollte dir das nicht zeigen«, sagt Deniz dann. »Aber ich denke, es ist die einzige Möglichkeit, dich zu überzeugen. Kommst du kurz mit mir mit?«
Ich will nicht in das fremde Zimmer eines fremden Typen. Aber ich gehe mit ihm, als er mich in sein Zimmer führt. Ich muss dafür sorgen, dass er ja keinen Aufstand macht- sei es ein noch so winziger.
Ich sitze vor seinem Schreibtisch. Er hat sein Laptop angeschaltet und sucht nun nach etwas in seinen Schubladen. Sein Bildschirmhintergrund ist einfach nur schwarz. Das passt nicht zu seinem Buntsein.
»Hier, das ist es«, kommentiert er, während er einen USB-Stick reinsteckt. Kaum später öffnet er eine Audio-Datei und ich frage mich, was er mir zeigen könnte.
Zuerst hört man ein Rauschen, dann werden die Stimmen klarer. »Lass es einen Zusammenhang haben.«
Das ist definitiv Merals Stimme. »Den Brand und den Tod des Babys.«
»Wovon redest du, Meral? Dem Kind geht es gut.«
»Entweder bringt das Kind Nurgül um oder das Kind stirbt, das weißt du genau.«
»Wir sollen das Kind umbringen und das Mädchen beschuldigen? Was sind wir, Monster?«
»Wir sind eine Familie und es gibt Prioritäten.«
Hülya schweigt. Es raschelt.
»Sie beschuldigt sich. Sie wird daran sterben.«
Nach Merals letzten Worten raschelt es wieder und das ist die Datei zu ende.
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Mich würde es total interessieren, was ihr über welchen Charakter denkt.
Freue mich wie immer auf Kommentare.
-hayaleyna
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