Kapitel 2.3
Ohne auch nur einen weiteren Blick an Grace zu verschwenden, stolperte ich die Treppen hinauf, in das mir unbekannte Haus. Direkt an der Kellertür wartete bereits der Vater der beiden Kinder, die sich ängstlich hinter seinem Rücken versteckten. Der schlug mit einem dreckigen Besen auf mich ein und beschimpfte mich tobend, während er mir mit dem dreckigen Besen bis nach draußen hinterherjagte. Das Licht der Straßenlaternen fing schlagartig an zu flimmern und ich wusste ganz genau, Grace würde in jeder Sekunde ihren Schritt nach draußen über die Türschwelle antreten. Das Adrenalin lief in Hochtouren durch meinen Körper. Ein letztes Mal wagte ich einen Blick über die Schulter, was ich sofort darauf bereute. Grace folgte mir in einem gemütlichen Spaziergang über die Straße, ihre Augen starr auf mich gerichtet, als hätte sie nur ein Ziel. Sie wusste, dass meine Chancen ihr gegenüber, schlecht aussahen. Panisch blickte ich draußen auf der Straße umher, unfähig dazu, wohin ich nun flüchten sollte. Hupende Autos und ohrenzerreißende Schreie ertönten. Erschrocken sah ich in Graces pechschwarze Augen. Sie griff sich mit einer Hand an die Schläfe und fing an, etwas in einer alten Sprache zu murmeln. Völlig überfordert mit der derzeitigen Situation starrte ich sie an. Wo war die Grace geblieben, die ich kannte?
Wieder fing ich an zu rennen. Wie eine Irre stürmte ich zum Bürgersteig, rempelte Passanten an, stolperte und fiel zu Boden. Im nächsten Moment war ich wieder auf den Beinen und rannte so schnell mich meine Füße trugen den Bürgersteig entlang.
Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb, um mich vor diesem Ding zu verstecken.
Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich anhand der Umgebung realisierte, wo ich mich befand. Der tosende Straßenverkehr von Florenz hielt mich davon ab, die Straße risikofrei zu überqueren. Gestresst schielte ich auf meine Armbanduhr. Halb Neun. Mein verzweifelter Blick richtete sich zur Bar "Blue Garter" auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Augenblicklich stellten sich meine Nackenhaare zu Berge und ich wusste, Grace war mir dicht auf den Versen und nicht mehr weit entfernt von mir. Ich musste es wagen und lief, ohne auf die hupenden Autos und schimpfenden Fahrer zu achten, über die Straße. Ein Quietschen, folgend von wüsten Beleidigungen und gewaltigem Krachen, das einem beinah das Trommelfell zu zersprengen schien.
Ganz ungeschoren kam ich leider nicht davon. Ein Auto erwischte mich seitlich. Der Fahrer trat hart in die Bremsen und trotzdem wurde ich einige Meter nach vorne geschleudert und landete unsanft auf der rauen Teerstraße. Das Gebrüll des Fahrers, der mich beinah unter die Erde befördert hätte, wollte und konnte ich mir nicht anhören. Schürfwunden und ein verstauchtes Bein hielten mich nicht davon ab, mich wiederaufzurichten und zum Pub zu humpeln. Ich drückte mich gegen die schwere, massive Holztür und stürzte in die Kneipe hinein. Mit den Knien landete ich direkt auf dem kalten klebrigen Boden.
Eine kräftige Rauchwolke begrüßte mein Eindringen. Ich konnte mir ein Husten nicht verkneifen, als ich mich schwerfällig an einem Barhocker nach oben zog. Meine Augen schienen förmlich den Raum abzuscannen als ich mit einem viel zu hohen Puls wie eine Irre das Innere des Pubs betrachtete.
Zwei alte Männer unterhielten sich angestrengt in einer Nische. Eine Frau mittleren Alters schlürfte frustriert ihren Cocktail und dann war da noch der seltsame Kerl ganz hinten in der Ecke. Er drehte sich gerade eine Zigarette. Seine schwarze Kapuze verhüllte beinah komplett sein markantes Gesicht. Die dunklen Bartstoppeln, die über Wange und Kinn verteilt waren, ließen ihn wie einen Landstreicher aussehen. Doch da war etwas an ihm, das mir sagte, dass er weitaus mehr war, als er vorgab zu sein.
Er zog mit seiner Zunge langsam über das Zigarettenpapier, als er mich in sein Visier nahm. Das Gefühlschaos das er in mir verursachte beunruhigte mich und ich drehte ihm schleunigst den Rücken zu.
Mein Blick fiel zum Fenster und ich sah in das zerstörte Antlitz von Grace. Sie drückte ihr verunstaltetes Gesicht gegen das Fenster und starrte mit ihren pechschwarzen Augen in den Pub hinein. Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich zur Bar hinüber. Ich hoffte inständig darauf, dass sie mich nicht wahrgenommen hatte. Ich wusste nicht wieso, aber mein Inneres sagte mir, dass ich hier vorerst sicher war.
Grace schien wohl nicht in das Innere des Pubs hineinzugelangen, wieso das auch immer der Fall war. Etwas erleichtert, und dennoch mit einem leicht vor Schmerz verzerrtem Gesicht, setzte ich mich auf einen der leerstehenden Barhocker.
"Hey Sherin. Na, alles klar?"
Mit einem Lächeln im Gesicht kam Matteo, mein Exfreund, auf mich zu. Wieder einmal wurde mir bewusst, wieso ich ihm damals verfallen war. Seine intensiv meerblauen Augen, verbunden mit seiner kurzen, aber dennoch gestylten Frisur, ließen mich erneut in die Vergangenheit reisen. Doch kaum war ich dort angelangt, sah ich gleichzeitig seinen nackten Körper schweißgebadet auf einer anderen liegen. Ich hatte ihn damals mit ihr in meiner Wohnung erwischt. Ich wusste noch genau, wie ich mich in diesem Augenblick gefühlt hatte. Als hätte sich eine Faust tief in meine Eingeweide gebohrt, um mir das Herz zu entreißen.
"Ja, alles bestens", log ich ihm direkt ins Gesicht.
Er würde sowieso nicht verstehen, was ich derzeit durchmachte.
"Bringst du mir bitte einen Jack Daniels?"
"So ein hartes Zeug?"
"Ich hatte einen sehr anstrengenden Abend, und so wie es aussieht, ist es noch nicht vorbei."
Ich ließ den Abend noch einmal Revue passieren, und hoffte inständig darauf, dass es meiner Familie gut ging und dieses Monster ihnen keinen allzu großen Schaden zugefügt hatte.
Mir graute es davor, mich noch einmal zum Fenster zu drehen. Matteo blies seinen Atem aus und stemmte die Hände in seine Hüfte.
"Ich weiß, was du meinst."
"Das glaube ich weniger."
"Nein, im Ernst. Ich weiß genau, was du durchmachst."
"Wusstest du das auch, als du die Kleine damals mit in meine Wohnung genommen hast?", platzte es aus mir heraus.
Viel zu lang schleppte ich diese Gedanken schon mit mir herum und irgendwann musste ich den Gedanken schließlich einmal Luft machen. Immerhin brauchte ich mir nun keine Sorgen mehr darüber zu machen, dass er mich dumm von der Seite ansprach. Ich hatte jetzt andere Sachen im Kopf.
Er stellte mir das Whiskyglas auf den Tresen und goss den braunen Whisky hinein. Ich leerte das hochprozentige Getränk in einem Zug. Nervös durchschweiften meine Blicke die Kneipe, bis hin zum Fenster, wo ich zuvor Graces Gestalt gesehen hatte. Sie war weg. Dennoch bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde und sah erneut in die Richtung des mysteriösen Fremden. Noch immer schien er mich mit seinen Augen zu studieren. Leider konnte ich nicht viel von ihm wahrnehmen, denn der Mantel verdeckte seinen gesamten Körper. Nur die abgetragenen Stiefel fielen mir ins Auge.
Abgetragene Stiefel ...
War das nur Einbildung, oder hatten seine Augen eben tatsächlich geleuchtet?
"Psst, hey Matteo."
Er versuchte mich tatsächlich zu ignorieren.
"Matteo, bitte."
Kaum setzte ich meinen Bettelblick ein, wurde seine Sturheit außer Kraft gesetzt.
"Was willst du?"
"Kennst du diesen Mann hinten in der Ecke, nicht direkt hinschauen."
Doch dafür war es bereits zu spät. Matteo schielte an meinem Kopf vorbei, hinüber zur Ecke. Auffälliger hätte man es nicht anstellen können.
"Da ist keiner."
"Doch. Ein Mann mit einer schwarzen Kutte. Solch einen Kerl kann man nicht übersehen."
Matteo sah mir ins Gesicht und ich konnte seine Eifersucht förmlich riechen. Genervt rollte ich mit den Augen.
"Jetzt ist keine Zeit für deine Trotzphase. Hilf mir bitte. Der Mann macht mir irgendwie Angst", log ich, in der Hoffnung, Matteo ein wenig zu animieren. Es funktionierte auf Anhieb. Noch einmal blickte Matteo nach hinten.
"Ich weiß nicht was du von mir willst, aber da drüben sitzt keiner. Sieh doch selbst."
Ich wagte einen weiteren Blick über die Schulter. Der Platz war leer.
"Ich glaube, du hast zu viel getrunken", hörte ich Matteos vergnügte Stimme.
"Quatsch nicht so dumm, ich hatte doch nur einen Whisky."
"Tja, vielleicht verträgst du nicht mehr so viel."
Ich blickte ihm betroffen entgegen.
"Was denn? Das war nur so eine Vermutung", versuchte er sich zu verteidigen.
"Auf deine Vermutungen kann ich dankend verzichten."
Ich knallte ihm das Geld auf den Tresen und richtete mich mühselig wieder vom Barhocker auf.
"Bist du verletzt", bemerkte ich Matteos besorgte Miene.
"Das ist nicht allzu schlimm."
Doch als ich mit dem Fuß auftrat, wusste ich wirklich, wie schlimm es um meine Bänder stand. Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, unterdrückte aber derartige Impulse und versuchte so gut es ging, zu laufen.
"Einen Gefallen könntest du mir allerdings tun, Matteo."
Es war gerade so, als würde er alles in Kauf nehmen, nur damit sich das Blatt wieder zum Alten wendet.
"Ja, womit kann ich dir behilflich sein?"
"Ihr habt doch bestimmt eine Hintertür? Es wäre nett, wenn du mich da hinauslassen könntest."
Ich ignorierte seinen fragenden Blick. Als er schließlich realisierte, dass ich ihm den Grund nicht nennen würde, öffnete er mir die Schwingtür, die hinter die Theke führte.
"Komm mit und beeil dich, bevor mein Chef davon Wind bekommt."
Unter Schmerzen versuchte ich mit ihm Schritt zu halten. Er ließ mich in einer einsamen Gasse hinaus.
"Ich danke dir."
Meine Tonlage glich einem Flüstern. Ich wollte nicht entdeckt werden, zumal ich wusste, dass dieses Geschöpf mir immer noch auflauerte.
"Schaust du nochmal auf einen Drink vorbei?"
In seinem Blick war ein Schimmer von Hoffnung verborgen, dem ich leider nicht gerecht werden konnte. Ich verneinte durch ein Kopfschütteln.
"Tut mir leid Matteo, aber das hast du dir selbst zuzuschreiben."
Er nickte mir traurig zu.
Jetzt geh endlich rein. Ich muss hier unbedingt weg.
"Ich wünschte, ich könnte die Zeit für uns zurückdrehen."
"Glaub mir. Es hat schon seinen Sinn, dass es zwischen uns nicht funktioniert hat."
Das Klappern von leeren Mülltonnen jagte mir einen gewaltigen Schrecken ein. Erleichtert sah ich eine magere, getigerte Katze davonflitzen.
"Ich muss jetzt wirklich gehen. Danke für deine Hilfe."
"Gern geschehen."
Ein leichtes bedrohliches Kribbeln schoss in meine Nervenbahnen, als ich hinter mir Schritte vernahm, die sich mir langsam näherten. Zögernd drehte ich mich um und konnte es kaum fassen. Diese Kreatur sollte einmal die nette und reizende Grace gewesen sein?
Ihr weißer Arbeitskittel war mit Dreck besudelt. Sie schenkte mir ein gehässiges Grinsen, während ich ihre verfaulten Zähne in Augenschein nehmen konnte.
"Du kannst dich nicht vor mir verstecken."
Ihr übelriechender Atem war selbst aus dieser Entfernung zu wittern. Eine solch verzerrte Stimme, dass ich langsam an meinem Verstand zweifelte. Obwohl meine Chancen aussichtslos erschienen, drehte ich mich um. Ich bekam einen weiteren Schock, als direkt vor mir der mysteriöse Mann in der schwarzen Kutte stand.
"Lauf! Lauf, so schnell du kannst! Ich halte es so lange auf", hallte mir seine durchdringend, tiefe rauchige Stimme in den Ohren.
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