
♔ Sechzehn Briefe
Beim Abendbrot stocherte ich nur in meinem Essen herum, denn ich bekam keinen Bissen runter. Zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher.
Was hatte das zu bedeuten, der verlorene Erbe? Gab es noch einen Bruder, von dem ich nichts wusste, oder stand die Krone rechtmäßig Collin zu? Doch Collin war jünger als Nathaniel, die Erbreihenfolge somit eigentlich deutlich. Er war doch jünger als Nathaniel, oder?
Langsam ließ ich meine Gabel neben meinen Teller sinken. Ich würde es heute sowieso nicht mehr schaffen etwas zu essen. Alle anderen Mädchen unterhielten sich, unsere Eltern waren bei dem heutigen Essen nicht dabei und schliefen auch nicht länger im Schloss. Der Fokus sollte nur noch auf uns und den zukünftigen König gerichtet werden, ohne Störung oder Unterbrechnungen. Welch Ironie, dass unsere Verabredung heute aber gestört wurde.
Mein Blick glitt zu ihm. Sorgenfalten hatten sich auf seinem schönen Gesicht gebildet und seine Gabel stocherte ebenso nur in dem Hühnchen herum. Was hatte seine Mutter ihm erzählt, dass es ihn so sehr beschäftigte? Sofia saß neben ihm, schien irgendetwas zu erzählen, doch er hörte ihr nicht zu. Als hätte er meinen Blick auf sich gespürt, fanden seine braunen Augen meine.
Erst hatte ich den Drang wegzusehen, aber dafür gab es keinen Grund. Also hielt ich seinem Blick stand. Dann schaute er fragend auf mein Essen, ich schüttelte nur den Kopf. Seine Sorgenfalte wuchs noch ein wenig mehr.
Er hatte mir den Zutritt zu diesen Informationen verschafft. Nathaniel hätte also ahnen können, wie sehr mich sowas aus der Bahn werfen würde.
Am liebsten hätte ich weitergelesen, doch wegen des Abendbrots ließ man nach mir rufen und ich konnte mich nicht länger verstecken. Ich war froh, nicht in der Bibliothek gefunden worden zu sein, denn das hätte Fragen aufgeworfen die ich nicht hätte beantworten können.
Es waren nur noch zwei Tage, zwei Verabredungen, bis die nächsten Mädchen gehen mussten.
Wie viele es waren wusste ich nicht, wie lange wir danach noch im Schloss bleiben durften wusste ich auch nicht. Der Knoten in meiner Brust wuchs rasant.
Alles was ich geplant hatte schien mir aus den Händen zu gleiten, ich hatte vollends die Kontrolle über das verloren, was hier passierte.
Eigentlich wollte ich nach dem ersten Abend nach Hause gehen. Dann wollte ich ein paar Geheimnisse mit nach Hause nehmen. Jetzt wollte ich Nathaniels Frau werden. Ich hatte ihn tatsächlich gebeten mich zu heiraten. Aus verschiedenen Gründen.
Einerseits weil ich ein Teil von Nat sein wollte. Weil mein blödes, naives Herz ihn viel zu schnell wieder lieb gewonnen hat. Anderseits weil ich Geheimnisse aufdecken wollte.
Geheimnisse über diese Familie, Geheimnisse über Collin und den verlorenen Erben.
Doch das Buch hatte mir ins Gedächtnis gerufen, dass der letzte Mann der dies versucht hatte dafür hingerichtet wurde.
Jetzt bildete sich zu dem Knoten in meiner Brust auch noch ein Kloß in meinem Hals.
Eadlyn, wo bist du hier nur hineingeraten?
Es gab zwei Optionen, Weitermachen oder den Rückzug antreten.
Einen anderen netten Mann kennenlernen, heiraten, Nathaniel für immer vergessen.
Ich bemerkte erst, dass das Abendessen vorbei war als sich die Meisten der anderen Mädchen erhoben. Die Stühle kratzten über den edlen Holzfußboden.
Verwirrt sah ich mich um. Ich war viel zu sehr in meinen Gedanken versunken.
"Eadlyn, Liebes?" Ich hörte Coras weiche Stimme neben mir, zuckte trotzdem kurz zusammen.
Wenn die Königin etwas von mir wollte, hatte das häufig nichts Gutes zu bedeuten.
"Ja, meine Königin?" Das ich sie Cora nennen sollte wusste ich, aber vor all den Anderen kam mir das unangebracht vor. Ich lächelte sie freundlich an.
"Du wirst für das Morgige tanzen freigestellt. Du bist schon eine ausgezeichnete Tänzerin. Außerdem kam Collin zu mir und bat mich um den Gefallen, dich besser kennenlernen zu dürfen. Ich habe zugestimmt, du hast morgen eine Verabredung mit ihm."
Ich versuchte in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie erahnen konnte was ich wusste.
Oder ob sie dachte für mich sei Collin immernoch nur ein normaler, adliger Junge.
"Vielen Dank.", sagte ich höflich, denn der Königin von Schloss Dour widersprach man nicht.
Auch wenn ich nicht verstand, wieso sie einer Verabredung mit Collin zustimmte, wenn ich in diesem Schloss war um Nathaniel besser kennenzulernen und zu heiraten.
"Deine Zofe wird dir einen Brief von ihm zukommen lassen, in dem alles weitere steht."
Sie ließ mir nicht die Möglichkeit zu antworten, sondern drehte sich um und verließ mit harmonischen Schritten das Esszimmer.
Mein Blick glitt durch den Raum, doch Nathaniel schien auch schon gegangen zu sein. So wie alle anderen, ich war die Letzte.
Schnell stand ich auf und verließ ebenso das Esszimmer. Dabei hämmerte mein Herz jedoch viel zu schnell gegen meine Brust.
Als ich mein Schlafgemach betrat, lag ein Brief hinter der Tür. Er schien durch den kleinen Spalt geschoben worden zu sein. Verwirrt hob ich ihn auf. Cora hatte doch gesagt, meine Zofe würde mir den Brief von Collin überreichen.
Ich faltete den kleinen Brief sorgsam auseinander.
Triff mich in einer Stunde auf dem Turm. Aber lass dich nicht erwischen. - N
Automatisch bildete sich ein Lächeln auf meinen Lippen. Er war nicht von Collin, sondern von Nat. Und er wollte mich sehen, heute Nacht noch.
In dem Moment hörte ich Schritte hinter mir. Schnell ließ ich das Pergament in meinem Ärmel verschwinden.
Meine Zofe kam lächelnd um die Ecke.
"Wie war ihr Tag, Miss?", fragte sie höflich. Sie war sehr nett, gab mir die Zeit und Freiräume die ich brauchte und hatte ein großes Talent dafür meine Haare zu flechten. Trotzdem vermisste ich Lucy schmerzlich. Ob ich sie ins Schloss holen lassen könnte, wenn ich wirklich Nathaniel heiraten würde?
"Mein Tag war gut, danke. Und ihrer?"
Sie erzählte mir, dass sie heute im Stall ausgeholfen hatte, was untypisch für eine Zofe war aber ihr hatte es viel Spaß gemacht. Sie würde gerne das Reiten erlernen aber dafür war sie zu niedrig gestellt. Vielleicht durfte sie es, wenn sie eine richtige Zofe einer richtigen Prinzessin werden durfte. Es war spannend zu erfahren, dass auch die Mädchen, die uns über die Wochen zugeteilt worden, aufsteigen würden, wenn wir es taten. Wie ein kleiner Wettkampf unter ihnen.
Dann reichte sie mir den Brief von Collin.
Dankend nahm ich ihn entgegen, öffnete ihn aber noch nicht.
"Ich fühle mich heute sehr müde und werde mich alleine für das Bett fertig machen. Du kannst für heute gehen.", sagte ich so lieb wie nur irgendwie möglich, damit sie keinen Verdacht schöpfen konnte.
Sie machte einen leichten Knicks und verließ mein Schlafgemach genauso schnell wieder, wie sie auch gekommen war.
Wie viel Zeit mochte vergangen sein?
Ich beschloss, mir ein leichteres Kleid anzuziehen und meine Haare zu einem einfachen Zopf zu binden. Dann fiel mein Blick wieder auf den Brief. Meine Neugier war zu groß, um ihn erst zu lesen wenn ich von meiner Verabredung mit Nathaniel wieder da war. Also öffnete ich ihn noch. Collins Handschrift war sorgfältig und sehr ordentlich. Was einerseits zu ihm passte, anderseits aber auch überhaupt nicht. Ich hatte das Gefühl, es gab zwei Seiten zu entdecken. Zwei Facetten, je nachdem welche man kennenlernen wollte.
Meine Augen flogen über die Worte, mein Herzschlag beschleunigte sich erneut.
Hallo Schönheit,
triff mich Morgen Mittag an dem kleinen Springbrunnen, ich will dir etwas zeigen.
Meide meinen Bruder, es gibt Sachen, die du nicht weißt - und wohl auch lieber niemals erfahren solltest. Er ist gefährlich für dich, er ist gefährlich für jeden.
Wenn wir uns genauso gut verstehen wie mein Tanzen, erzähle ich dir vielleicht trotzdem das ein oder andere. Aber egal was er dir erzählt, er lügt.
Merk dir meine Worte, das wäre das Beste für dich.
In Liebe
Collin
Immer und immer wieder laß ich den Brief durch. Mein Kopf wollte einfach nicht verstehen, was da geschrieben stand. Ich rutschte tiefer in Intrigen als es mir lieb war. Und so langsam befürchtete ich, dort auch nicht mehr rauszukommen.
Wem konnte ich vertrauen?
Wer war ehrlich zu mir?
Wer log mich an?
Und wie hätte ich jemals erahnen sollen, dass mein Leben dabei auf dem Spiel stand?
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