♔ Neunzehn Sünder
Der Tag hing über mir wie ein Schatten.
Das bestimmt hundertste Mal erhob ich mein Schwert. Hätte ich gewusst, dass Collin mir das Kämpfen beibringen wollte, hätte ich mir etwas praktischeres angezogen. Wie ich meiner Zofe erklären sollte, wieso mein Kleid voller Dreck war und Löcher aufwies, wusste ich noch nicht.
Es waren Stunden vergangen. Stunde, um Stunde, um Stunde.
Doch mein Kopf wollte immer noch nicht verstehen, was er gehört hatte.
"Du bist unkonzentriert, gioia mia."
Collins eisblaue Augen beobachteten mich wie ein Jäger seine Beute.
Meine Hände umklammerten den Griff des Schwertes, doch ich konnte es kaum noch oben halten. Meine Muskeln schmerzten.
"Wieso nennst du mich die ganze Zeit so?" Collin machte einen Schritt nach vorne und ich wich ihm aus. Wir tanzten schon den ganzen Nachmittag umeinander herum, mein Schwert geschwungen hatte ich noch kein einziges Mal. Die Grundlagen seien das Wichtigste, und dazu gehöre eine gute Fußarbeit.
"Es klingt schön. Gioia mia." Er zog die zwei Wörter extra lang, grinste mich dabei an.
"Italienisch ist nun einmal eine schöne Sprache." Dieses Mal wich ich aus, bevor er einen Fuß nach vorne setzte. Er verlagerte sein Gleichgewicht, dass zeigte mir, dass er sich jeden Moment in Bewegung setzen würde.
"Gut gemacht. Es wird langsam." Die Sonne fiel auf sein Haar und er schirmte mit der Hand sein Gesicht ab.
"Wie kannst du von mir Konzentration erwarten, wenn du mir vorhin erzählt hast -." Meine Stimme brach. Ich konnte es nicht laut aussprechen, so sehr schmerzte es in meiner Brust.
Collin ließ sein Schwert aus der Hand gleiten, setzte sich auf einen umgefallenen Stamm am Ufer des Sees.
"Glaubst du für mich ist es leicht? Er ist mein Bruder. Zumindest was unser Blut angeht."
"Wofür kämpfen wir, Collin?"
"Deine Sicherheit. Und vielleicht irgendwann einmal Gerechtigkeit."
Ich ließ mein Schwert ebenso vorsichtig fallen.
"Hälst du es für eine gute Idee, einfach zu gehen? Nathaniel und das Schloss hinter mir zu lassen?" Vorsichtig setzte ich mich neben ihn, ließ aber ein wenig Abstand zwischen unseren Körpern. Er wandte seinen Kopf zu mir.
"Könntest du es denn?", stellte er die Frage, die ich mir auch ständig stellte.
Mein Blick glitt über den See, zu den Wäldern und den Spitzen des Schlosses.
Dort oben hatte ich Nathaniel ein Versprechen zu geben. Das Versprechen zu bleiben, egal was Collin mir heute erzählen würde. Es hatte ihn gequält, so sehr, dass er es nicht einmal laut aussprechen konnte.
"Glaubst du es könnte mehr dahinter stecken, als die einfache Tatsache, dass er?"
Ich spürte Collins Augen auf mir, doch erwiderte seinen Blick nicht.
"Du stellst die richtigen Fragen, gioia mia."
"Und gibst du die richtigen Antworten?"
Für einen Moment herrschte Stille. Eine leichte Brise war aufgezogen, kühlte mich aber nicht ab.
"Ich gebe gar keine Antworten, du musst sie alleine finden. Ich helfe dir nur, dabei nicht verletzt zu werden."
"Zumindest körperlich."
"Ich kann auch auf dein Herz aufpassen, wenn du es mir überlässt." Ohne hinzusehen, wusste ich, dass er grinste.
"Und du denkst, bei dir wäre es in besseren Händen?"
"Nein. Aber ich mag dich, ich würde also trotzdem darauf aufpassen."
Langsam fanden meine Augen seine. Die Sonne erstrahlte in ihnen, sie waren Blauer als alles, was meine Augen vorher gesehen hatten.
"Was tun wir jetzt? Was erzähle ich Nathaniel? Wo fange ich an zu suchen?"
Er nahm meine Hand, und ich ließ es zu. Nicht, weil es sich romantisch anfühlte, sondern verstanden. Es war kein Kribbeln, kein Funke, es war Ruhe, die er auf mich übertrug.
"Ich kann dir nicht alles erzählen, aber mehr als Nat. Er wird wissen, dass du es weißt, ohne das du es laut aussprechen musst. Und du musst das Puzzleteil finden, dass mir fehlt. Ich denke nicht, dass mein Bruder aus freien Stücken gehandelt hat. Ich glaube, da ist mehr. Geheimnisse, die er niemandem verrät."
"Nicht einmal mir.", vervollständigte ich seinen Satz.
"Nicht einmal dir.", wiederholte Collin.
"Aber was hat er zu verlieren? Sie würden ihn nicht hinrichten."
Etwas huschte über sein Gesicht.
"Sie würden ihn nicht hinrichten.", wiederholte ich mit Nachdruck. Weil ich es mir nicht vorstellen könnte. Sie stünden vor dem Nichts. Collin war eigentlich ein Calour. Ein reicher adliger auf Reisen.
"Unterschätze unsere Mutter nicht. Oder Osiris. Es gibt Geheimnisse, die sind es Wert mit ihnen unterzugehen." Ein Schauer lief mir über den Rücken, die kleinen Haare auf meinem Nacken stellten sich auf.
Es gibt Geheimnisse, die sind es Wert mit ihnen unterzugehen.
"Ich glaube nicht, dass ich das schaffen kann. Wie - was kann ich tun? Was ist das Ziel, wo ist das Ende? Soll ich Nathaniels Unschuld beweisen? Welche Geheimnisse kann ich aufdecken, ohne dabei selbst mein Leben lassen zu müssen?"
Wieder schwiegen wir, einen Herzschlag, zwei, drei.
"Ich würde sagen, lauf solange du kannst. Aber ich will nicht das du läufst. Weil ich sehe wie Nathaniel dich ansieht. Weil so viel Ungerechtigkeit hinter diesen Mauern lauert. Und weil ich das Gefühl habe, wenn sich mein Bruder jemals einem Menschen gegenüber öffnen würde, dann dir."
"Wenn du netter zu ihm wärst, würde er sich dir auch öffnen."
Collin lachte leise.
"Oh, du hast keine Ahnung, gioia mia."
♕♘♔♙♖♚
Beim Abendbrot starrte ich wieder nur stur auf mein Essen.
Von Nathaniel fehlte jede Spur, nur Cora saß mit uns am Tisch. Morgen stand die nächste Entscheidung an. Und ich wusste, ich musste nicht gehen. Doch zu bleiben machte mir große Angst. Es überstieg alle Grenzen, die ich hatte. Jegliche Moral verblasste hinter diesen Mauern. Ich wollte nicht, dass mich dieses Schloss zu einer Frau machte, die ich nicht sein wollte. Und ich konnte nichts dagegen tun, außer zu zusehen.
Wäre ich an meinem ersten Abend gegangen, so wie ich es gewollt hätte, würde ich jetzt zu Hause ein Buch lesen, den Pinsel über eine Leinwand gleiten lassen. Ich wäre unwissend, und Unwissenheit wäre gerade wirklich ein großer Segen.
Ich stand vor einer verschlossenen Tür, war auf der Suche nach einem Schlüssel.
Ohne genau zu wissen, was hinter dieser Tür warten würde, wenn ich es schaffen sollte sie zu öffnen. Doch war mein Schlüssel die Bibliothek, war es Nat, war es Cora? Wo fand ich diese düsteren Geheimnisse, wer verriet sie mir am ehesten?
Mir wurde übel.
"Entschuldigen Sie mich, ich fühle mich heute nicht sonderlich wohl und werde zu Bett gehen.", sagte ich höflich, schaute dabei Cora genau in die Augen. Immer noch war ich mir unsicher, ob sie wusste, welche Gefahr von mir ausgehen könnte.
Sie nickte mir zu.
"Sie sind entschuldigt. Gute Besserung.", erwiderte sie ebenso höflich.
Schneller als gewollt glitt mein Stuhl über den Boden. Ich raffte mein Kleid, welches ich nach dem Training mit Collin natürlich gewechselt hatte, und verließ das Esszimmer.
Die Flure drehten sich um mich, alles verschwamm vor meinen Augen. Die Gemälde an den Wänden wurden eins. Ich war dankbar, dass meine Beine den Weg mittlerweile im Schlaf beherrschten, denn ich brachte keinen klaren Gedanken mehr zu Stande, konnte nichts mehr fassen außer der Dunkelheit, die sich in meinem Kopf einistete.
Wollte ich weg, wollte ich nach Hause? Könnte ich Nathaniel alleine lassen, mit allem was ich die letzten Woche erfahren hatte? Oder schätzte ich ihn falsch ein, war er einzig und alleine an diesem Mord Schuld?
Für einen Moment musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren. Mein ganzer Körper war überzogen mit Gänsehaut. Ich war immer gut darin, die Wahrheit und die Lüge zu unterscheiden, innerhalb von Sekunden. Doch hier verliefen die Grenzen nicht klar, nichts war eindeutig oder sichtbar.
Ich konnte goldrichtig oder komplett daneben liegen, wenn ich versuchte den zukünftigen König von Dour einzuschätzen. Früher kannte ich ihn besser als mich selbst, doch auch dort hatte er mich enttäuscht, gegen meine Erwartungen gehandelt.
Ich rappelte mich auf, bog um die letzte Ecke zu meinem Schlafgemach. Ich hoffte, meine Zofe würde nicht direkt auftauchen. Sie wollte ihren Job besser als alle anderen machen, doch manchmal kostete mich ihre Anwesenheit sehr viele Nerven und Kraft. Sobald ich mein Zimmer betrat, war sie da. Als würde sie um der Ecke warten, bis sie meine Schritte hören konnte. Und gerade heute brauchte ich einen Moment, um meine Gedanken zu sortieren. Oder sie überhaupt erkennen zu können.
Als ich nur noch wenige Schritte von meinem Zimmer entfernt war, bemerkte ich, dass jemand davor stand. Doch es war nicht meine Zofe.
"Nathaniel?", fragte ich leise. Die Ölkerzen an den Wänden warfen seine Schatten auf den Boden.
Erschrocken fuhr er herum. Als ich sein Gesicht sehen konnte, war jeder Zweifel in meinem Herzen weggewischt.
"Nat.", flüsterte ich erneut. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, er war unglaublich blass.
Sein Haar hing ihm zerzaust und lieblos in die Stirn.
Wie angewurzelt blieb er vor meiner Tür stehen. Ich beschleunigte meine Schritte, wollte so schnell wie möglich bei ihm sein.
"Was ist passiert?", fragte ich vorsichtig, näherte mich ihm mit zwei letzten Schritten.
"Glaubst du, Monster werden als solche geboren, oder zu welchen gemacht, Eadlyn?"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro