♔ Fünfundzwanzig unerwartete Besucher
„Soll ich dich noch zu deinem Gemach bringen?", fragte Nathaniel vorsichtig. Wir hatten getanzt, so lange und so intensiv, dass alles um uns herum verschwommen war. Die meisten Gäste waren schon verschwunden, und auch Olysia konnte ich nirgendwo mehr ausfindig machen. Ich hoffte, dass sie wohlbehalten in ihr Bett gefunden hatte und niemandem aus ihrer Vergangenheit mehr über den Weg gelaufen war.
„Wenn heute nicht die richtige Nacht für Wahrheiten ist, dann nicht, nein."
Ich hielt meine Schuhe in der Hand, stand barfuß auf dem warmen Fußboden. Nach dem ganzen getanzte, schmerzten meine Füße. Und da das hier ein inoffizieller Abend war um unsere Fortschritte zu feiern, sah ich kein Problem darin barfuß zu meinem Schlafgemach zurück zu kehren.
„Eadlyn." Ich hörte das leichte Flehen in seiner Stimme, doch ich würde nicht nachgeben. Ich passte mich an, steckte viel zurück, ich versuchte ruhig zu bleiben und nicht dieses ganze Schloss zu verfluchen. Und am Wichtigsten, ich war immer noch hier. Schon vor langer Zeit wollte ich wieder nach Hause gehen, und auch jetzt war dieser Gedanke immer noch präsent in meinen Gedanken. Doch ich blieb, kämpfte Tag für Tag gegen mich selbst und meine Vorstellungen von diesem Leben. Da war Ehrlichkeit das Mindeste, was ich erwartete.
„Wenn du bis zur nächsten Ausscheidung mit offenen Karten spielst, werde ich freiwillig gehen. Da ich jetzt weiß, dass nicht meine Mutter die Strippen zieht und es nichts wieder gut zu machen gibt, habe ich nichts zu befürchten."
„Tu das nicht." Er streckte seine Hand aus, strich sanft über meinen Handrücken. Doch das reichte nicht aus. Sich zu verlieben reichte nicht aus um meine gesamten moralischen Vorstellungen vom höchsten Turm des Schlosses in die Nacht stürzen zu lassen.
Liebe würde niemals ausreichen, um über all das hier hinweg zu sehen.
„Was soll ich nicht tun? Mich selbst retten, bevor es zu spät ist? Ich werde nicht mit dir untergehen, wenn ich nicht einmal weiß wieso."
„Ich verstehe das. Ich verstehe dich. Doch -."
„Du darfst mir nichts sagen. Das habe ich verstanden. Es sind nur nicht länger die Regeln, nach denen ich spiele. Collin kann es auch. Du wirst einen Weg finden, wenn ich bleiben soll."
Für einen Moment schauten wir uns einfach nur an. Wie schon so oft verwoben sich unsere Blicke, wie schon so oft wurden wir für einen kurzen Moment eins.
Und ich wünschte mir, es würde ausreichen. Das hier. Diese Anziehung, dieses Kribbeln, all das, was ich fühlte, wenn ich ihn nur ansah.
„Guten Nacht, Nathaniel."
Ich unterbrach den Moment, weil ich mich sonst in ihm verloren hätte. Aber ich musste stark bleiben, und er musste dieses Ultimatum erfüllen.
Langsam wurde mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich war ein Springer auf einem leergefegten Schachbrett. Dabei sollte ich die Dame sein, und die Dame hatte Macht. Nicht so viel wie der König, aber ausreichend um ihn trotzdem schlagen zu können.
Und das würde ich zu meinen Gunsten nutzen.
Anstatt Angst zu haben, würde ich zu jemandem werden, vor dem man Angst haben müsste.
Wenn ich mit Osiris vom Brett gefegt werde, wenn ich mit dem König untergehe, dann nicht ohne, dass jedes Königreich vorher seine Geheimnisse erfahren hatte.
♕♘♔♙♖♚
Der schwarze Tee in meiner kleinen Keramiktasse konnte mir heute bei meiner Müdigkeit nicht helfen. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zubekommen, und da das in letzter Zeit nicht die erste Nacht ohne Schlaf gewesen war, nistete sich das Gefühl der Müdigkeit langsam fest in meinem Körper ein.
Olysia sah genauso müde aus wie ich mich fühlte.
„Danke, wegen gestern.", sagte sie leise und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
„Wir sind doch jetzt Freundinnen. Ich würde es jederzeit wieder machen. Auch wenn ich mich Frage, wieso du jemals mit diesem Mann verlobt warst?" Sie ließ ein theatralisches Stöhnen heraus, dann schaute sie mich an.
„Ich erzähle dir diese Geschichte, denn wir sind ja jetzt Freundinnen. Vielleicht können wir den Nachmittag zusammen im Garten verbringen?", fragte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich konnte verstehen, dass sie nicht hier darüber sprechen wollte. Seitdem wir nur noch wenige Frauen waren, herrschte beim Essen meistens Stille.
„Abgemacht.", erwiderte ich, widmete mich wieder meiner Teetasse. Wie viel schwarzen Tee konnte man trinken, bevor das Herz zu flattern begann? Das war genau die Menge, die ich heute brauchen würde.
Plötzlich schwang die große Flügeltür auf. Mein Blick glitt über den Tisch. Wir waren vollzählig, und wurden noch nie beim Essen gestört.
Eine Frau in meinem Alter trat durch die Tür. Sie trug ein wunderschönes, hellblaues Kleid, welches sich in bis zu ihren Knöcheln in sanften Wellen fallen ließ. Ihre Haare waren beinahe weiß, ihre Haut hell wie das Porzellan auf dem Tisch.
Die Königin stand auf, um das fremde Mädchen zu begrüßen.
„Entschuldigen Sie vielmals. Meine Kutsche ist erst mitten in der Nacht angekommen, und meine Zofe hat mich nicht wach bekommen. Es wird nie wieder vorkommen.", entschuldigte sich das Mädchen und knickste leicht. Unbehagen machte sich in mir breit. Wovon sprach sie, und wer war sie? Sie stammte nicht aus unserem Königreich, dass sah man ihr auf den ersten Blick an. Ich würde schätzen, sie kam aus den kalten Regionen, aus dem hohen Norden vielleicht? Aber das war schier unmöglich. Seit dem Krieg durfte niemand mehr in die gegnerischen Königreiche reisen. Mir blieb die Luft weg.
Die Dynamik im Raum hatte sich merklich geändert, jeder betrachtete die schöne Frau im Türrahmen.
„Kein Problem, Liebes. Ich freue mich, dich in unserem Schloss begrüßen zu dürfen. Fühle dich bitte ganz wie zu Hause.", sagte Cora. Ihre Stimmenlange war eine Oktave zu hoch, um noch als normal durchgehen zu können.
„Das ist sehr lieb, ich werde es versuchen. Aber hier ist es so warm." Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Ob ich mich daran gewöhnen kann, weiß ich noch nicht.", sagte sie und lächelte ein bezauberndes Lächeln. Cora drehte sich wieder zu uns um, und bemerkte das wir sie neugierig beobachteten.
„Wo ist mein Anstand? Das hier ist Tuala Nivis." Noch bevor Cora mehr ausgesprochen hatte, verknüpfte mein Kopf ihren Namen mit ihrer Herkunft.
„Sie ist eine Prinzessin aus dem Norden.", beendete sie ihren Satz. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte das Gefühl, jedes Herz in diesem Raum setzte einen Schlag aus.
„Sie wird ebenso für eine Hochzeit mit Nathaniel in Frage kommen. Nur weil sie etwas spät ist, möchte ich Sie trotzdem bitten, in ihr ebenso eine Freundin zu sehen. Sie wird uns von nun an begleiten. Ihre Verabredung mit Nathaniel wird direkt heute nachgeholt, damit sie alle die gleichen Chancen haben."
Ich hätte Stimmengewirr erwartet, lautes Durcheinander sprechen. Aber jeder von uns schwieg. Denn es brauchte niemand auszusprechen, was wir alle dachten. Wie sollte jemand von uns sich gegen eine Prinzessin behaupten können? Und wieso war sie hier? War es ein Friedensangebot? Denn wenn das der Fall war, wusste ich, dass Nathaniel eine Hochzeit mit ihr so gut wie nicht ausschlagen konnten.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass alle meine Karten nichts mehr ausrichten konnten. Ich war soeben von einer Dame zu einem Bauer geworden. Doch auch diese sollte man am besten niemals unterschätzen.
Ich stürmte durch die Flure zu Nathaniels Gemach. Ich hatte genug. Genug Lügen, genug Geheimnisse. Von allem einfach genug.
„Miss, Sie können hier nicht einfach rein!", protestierte eine Wache, doch da hatte ich die Türen zu seinem Schlafgemach schon aufgestoßen.
Er stand mit hochgekrempelten Ärmeln vor einer großen Schale Wasser. Mein Blick fiel auf seine Hände, sie waren voller Blut.
„Nathaniel.", zischte ich. Er drehte sich langsam zu mir um. Außer das Blut an seinen Händen, sah er unversehrt aus.
„Eadlyn?", fragte er ein wenig verwirrt.
„Was ist passiert?" Er schaute von mir auf seine Hände, bevor er leicht mit den Schultern zuckte.
„Nichts von Bedeutung." Ich machte einen Schritt auf ihn zu.
„Wo bist du gewesen, wessen Blut ist das?" Denn Blut an seinen Händen war nicht einfach nicht von Bedeutung.
„Ich war in der Stadt heute Morgen. Dort ist mir Benjamin über den Weg gelaufen. Ich würde sagen, unsere Meinungsverschiedenheit hat nicht gut geendet. Für ihn."
Er sagte es locker, als wäre es nichts.
„Was hast du mit ihm gemacht?" Ich schluckte schwer. Nathaniel drehte sich um, wusch sie das Blut von seinen Händen. Es vermischte sich mit dem Wasser, färbte es rosa.
„Deswegen bist du doch mit Sicherheit nicht hier, nehme ich an. Benjamin hat bekommen, was er verdient hat. Dabei würde ich es gerne belassen."
Die Gefühle in meinem Bauch rangen miteinander. Das eine Gefühl war glücklich, dass er sich so für mich einsetzte. Das andere Gefühl schrie laut, dass er zu Sachen fähig war, von denen ich nicht gedacht hatte, dass er zu ihnen fähig war. Sie schrien laut nach dem Tod seines Bruders.
„Weswegen bist du hier, Eadlyn?", fragte er erneut, als ich eine Weile kein Wort zu Stande bekam. Hatte er ihn umgebracht, oder nur verletzt? Und wollte ich es überhaupt wissen?
„Ich habe soeben Tuala kennengelernt." Sein Rücken spannte sich sichtlich an, als der Name der Prinzessin über meine Lippen kam. Doch er drehte sich nicht zu mir um.
„Dann hast du sie vor mir kennengelernt.", war das Einzige, was er dazu sagte. Motorisch wusch er sich weiter seine Hände, obwohl ich kein Blut mehr an ihnen erkennen konnte.
„Du hast es also gewusst? Wieso bin ich sowieso schon davon ausgegangen? Wie viele Sachen willst du mir noch verheimlichen, Nathaniel?"
Für einen Moment schwieg er.
„Es lag nicht in meiner Verantwortung, euch davon zu erzählen. Es war die Entscheidung meines Vaters, nicht meine."
„Wirst du sie heiraten?" Der Satz kam unüberlegt über meine Lippen, doch das war es, dass mich seit dem Frühstück durchgehend beschäftigte. Die Frage, ob er sie heiraten würde. Ob er sie heiraten müsste. Vielleicht taten Cora und Osiris auch nur so, als hätten wir weiterhin eine Chance. Als würde Tuala nicht hereinspazieren und jeder wusste, dass unsere Chancen davongefegt waren.
Nathaniel beantwortete meine Frage nicht. Er trocknete sich die Hände mit einem weißen Tuch und rollte dann seine Ärmel wieder hinunter.
Als er sich zu mir umdrehte, wirkten seine Augen beinahe schwarz.
„Ich weiß es nicht.", sagte er, und die Distanz zwischen uns fühlte sich wieder so groß an wie am ersten Tag.
„Du weißt es nicht?", wiederholte ich. Ich weiß nicht, welche Antwort ich erwartet hatte, aber diese war es offensichtlich nicht gewesen.
Er hatte gerade einen Mann für mich zusammengeschlagen, aber spielte augenscheinlich immer noch mit dem Gedanken, eine andere Frau zu heiraten.
„Es liegt nicht mehr nur in meinem Ermessen. Es gleitet mir aus der Hand, Eadlyn. Es geht nicht mehr nur um mich, es geht um mein Königreich. Um unsere Sicherheit, um den Frieden. Tuala ist die beste Chance auf diesen Frieden. Ich muss es wenigstens in Erwägung ziehen. Deswegen ist sie hier, wie ihr alle.", sagte er ruhig.
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen sich mit Tränen füllten. Gestern noch hatte ich mich stark und unbesiegbar gefühlt, und heute zwang mich mein naives Herz wieder in die Knie. Ich war zu sprunghaft, und hatte keinen richtigen Plan. Das musste ich ändern. Und die einzige Person, die mir dabei helfen konnte, wohnte dem Himmel sei Dank ebenso in diesem Schloss. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich auf dem Absatz um. Erst jetzt bemerkte ich die Wache, die in der Tür stand und jedes Wort gehört hatte. Doch sie würden gut bezahlt für ihr schweigen.
„Wo willst du hin?", rief Nathaniel mir hinterher, machte aber keine Anstalten mir auch hinterherzulaufen.
„Zu Collin.", rief ich, ohne mich umzudrehen.
Denn ich wusste, dass ihn kaum etwas wahnsinniger machte, als sein Bruder.
Und vielleicht war genau das mein Schlüssel.
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