XXVIII. Zwei Leichen im Keller
»Silent tears hold the loudest pain.«
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»Der Blaue oder der Rote? Oder doch der Grüne?« Natasha Romanoff kniete über der Reisetasche, in der sich die tickende Bombe befand, die ganz New York in weniger als einer Minute vernichten würde. Angestrengt versuchte sie in dem Labyrinth aus Kabeln, Drähten und Platinen einen Weg zu finden, die tödliche Detonation zu verhindern, während im evakuierten U-Bahnschacht um sie herum gelegentlich die Wände erzitterten, Staub und kleinere Steine von der Decke rieselten und Tonys ununterbrochenes Fluchen durch den Funkkanal des Headsets hallte.
Gerade als der Anführer der maskierten Terroristengruppe Falcon gegen eine Wand schleuderte, rutschte kein Anderer als Clint Barton über den Boden neben die Black Widow und presste sich gegen die Wand, hinter der sie saß; Kugelhagel folgte.
»Genau wie damals in Budapest, weißt du noch?«
Er atmete schwer und spannte seinen Bogen mit einem explosiven Pfeil. »Das in Budapest lief völlig anders, Nat«, rief er ihr noch zu, bevor er den Pfeil abschoss und kurz darauf eine kleinere Explosion zu hören war. Kaum stoppte das Feuer der Gewehre, sprang der Bogenschütze auch schon wieder auf und stürzte sich mitten ins Gefecht.
Romanoff dagegen, warf einen äußerst besorgten Blick auf die roten Zahlen, die immer kleiner wurden. Die Zeit rannte ihr davon. »Banner!«, schrie sie in ihr Headset. »Welcher ist es denn nun?!«
Kurz war die Leitung lediglich von Sams schmerzverzerrtem Stöhnen und Tonys Fluchen erfüllt, bevor ein hektischer Doctor Banner antwortete: »Okay, okay, okay... da muss irgendwo ein isolierter Draht sein, der von den Anderen entfernt ist - der ist es.«
Natasha hielt den weißen Draht in der einen Hand, ein Messer in der Anderen. »Okay und jetzt? Muss ich ihn durchschneiden, verdrehen...«
»Oh Gott bloß nicht!«, rief Bruce panisch und Tasha ließ sofort unschuldig das Messer fallen. »Egal was du tust, verdrehe ihn bloß nicht! Du musst ihn vorsichtig und schnell-«
Ihr Handy klingelte.
Hastig griff sie in ihre Tasche, nahm den Anruf an, klemmte sich ihr Handy zwischen Schulter und Ohr und machte sich mit beiden Händen vorsichtig an dem Weißen Draht zu schaffen. »Ja? Es passt gerade so gar nicht, ich entschärfe gerade-«
»Natasha.« mit einem Ruck riss sie an dem isolierten Draht und starrte kurz fassungslos ins Leere. Die roten Zahlen erloschen, doch alles was den Kopf der Black Widow okkupierte, waren tausend Fragen und Vorwürfe, auf die ihr im Moment nur ein einziger Mensch antworten konnte, nämlich der, der gerade am anderen Ende der Leitung war: Steve Rogers.
Wieso rief er sie an? Wieso jetzt? Sie sollte einfach auflegen; ihn wegdrücken, für das, was er ihr und dem Team mit seinem indirekten Verrat angetan hatte - doch sie konnte nicht. Irgendetwas hielt sie davon ab, ihm diese Chance zu verwehren.
Die rothaarige Frau sagte nichts, aber als Steve sie einen flachen Atemzug nehmen hörte, wusste er, dass es jetzt oder nie hieß. »Natasha«, wiederholte er noch einmal. »Komm sofort nach Moskau.«
Als Tasha ihren Mund öffnete, wusste sie nicht, welche der vielen, vielen Sachen -Anschuldigungen, meistens- sie zuerst sagen würde. Doch als sie die Art hörte, wie er gesprochen hatte, fiel nur ein einziger Satz von ihren Lippen:
»Was ist passiert?«
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Natasha Romanaoff war tough.
Ausgebildet darin, in absolut jeder Situation berechnend, emotionslos und gefasst zu bleiben. Eine eiskalte Killerin ohne den Hauch jeglicher, menschlicher Emotionen. Diese Frau beherrschte die Fähigkeit, in Situationen cool zu bleiben, in denen Andere einen psychischen Zusammenbruch erlitten und nie mehr dieselben gewesen wären.
All das wiederholte die Black Widow immer wieder, wie ein Mantra in ihrem Kopf. Noch während sie den nächsten Flieger nach Moskau nahm, unauffällig aus dem Flughafen eilte und sogleich von einigen Männern in schwarzen Anzügen zu einer schwarzen Limousine geführt wurde.
Tasha starrte leer aus dem getönten Fenster zum grauen Himmel; bald würden die Wolken brechen.
Sie hatte kurz vor ihrem Flug noch ein letztes Mal mit Steve telefoniert - und Erschreckendes erfahren. Jetzt ergab auf einmal alles, was in letzter Zeit passiert war, perfekten Sinn. Rogers und Bogrovicz waren in Russland um Konstantin und Beth Warren's Mörder ausfindig zu machen und dabei -genau wie sie vermutet hatte- war etwas passiert. Sie wusste nicht was, das hatte Steve ihr nicht gesagt, aber es betraf Alisya. Und hatte Romanoff am Anfang noch Zweifel und überaus gute Gründe gehabt, nicht nach Moskau zu kommen, nach Steves gebrochenen letzten Worten hatte sie nur noch gesagt: »Ich bin auf dem Weg.«
»Natasha, wenn du sie noch ein letztes Mal sehen willst, dann jetzt - sie hat nicht mehr viel Zeit.«
♦
Sie erwachte aus ihren monotonen Gedanken, als eine Autotür zugeschlagen, und kurz danach die auf ihrer Seite geöffnet wurde, sodass die Rothaarige aus dem Wagen steigen konnte. Kurz ließ sie ihren Blick über die vornehme Villa schweifen und konnte nicht anders, als sich auszumalen, was Alisya getan haben musste um irgendwie hier zu landen.
Hatte sie mit dem russischen Präsidenten geschlafen?
Sofort als sie die Stufen zur großen Tür hinauf stieg, fiel ihr auf wie schwer bewacht die Villa war; regelmäßig patroullierten schwerbewaffnete Männer vom Spetsnaz des russischen Geheimdienstes GRU das komplette Gelände und beäugten sie durch ihre Skimasken mit demselben Misstrauen, welches ein aggressiver Wolf dem Rivalen zuwirft.
»Miss Romanoff?«
Es sollte wie eine Feststellung klingen, doch die helle Stimme der blonden Frau klang wie eine kleine Maus, doch Natasha hörte den Hoffnungsschimmer in ihrer Stimme heraus. Die Rothaarige beobachtete die junge Frau, die mit in einen Cardigan um den Schultern und geröteten Augen; Tasha erkannte die Russin beinahe nicht wieder, die sie doch schon mehrmals im Fernsehen gesehen hatte, wenn auch nur im Hintergrund, im Schatten ihres Vaters Iwan Yelenov, dem Premierminister Russlands. Die Blondine nickte mit ihrem schmalen Kinn über ihre Schulter, drehte sich um und ging. Tasha folgte ihr. Jetzt war Bogrovicz schon in die Geschäfte der obersten Politiker verwoben.
»Sie... sie hat mich gerettet.« Dominikas Stimme ließ Tasha das Blut in den Venen kurz stocken; sie sagte schlichtweg die Wahrheit. Alisya hatte ausnahmsweise mal jemanden gerettet und nicht kaltblütig ermordet? »Mehrmals. Zuerst Tschetschenien, dann hier in Russland«, sie zog zitternd Luft ein und öffnete die dicke Stahltür, die in den Keller führte, »Und jetzt bezahlt sie dafür.«
Vor der dritten Stahltür blieb Nika stehen.
Als Dominika den fragenden Blick auf sich spürte, senkte sie ihren Kopf und zog den Cardigan noch etwas enger um ihre Schultern, als würde sie sich schämen. »Ich kann da nicht nochmal rein. Ich kann sie nicht nochmal so sehen. E-es ist feige, ich weiß, aber... aber«, sie strich sich ihre Tränen grob weg und drehte sich um, um wieder in die andere Richtung zu verschwinden, »Ya-ya sdelal eto s ney.« die letzten Worte murmelte sie nur noch unter ihrem Atem, während sie mit stürmischen Schritten davon eilte.
Tasha verstand jedes einzelne Wort. Dominika gab sich die Schuld an all dem. Sie öffnete die letzte schwere Tür und das Erste, was sie dahinter sah war Steve Rogers, der gegen eine Wand lehnte und den Kopf müde gegen den Beton gelegt hatte. Dunkle Schatten unter seinen Augen und die fahle Farbe seiner Haut ließen auf mindestens zwei Tage ohne jeglichen Schlaf deuten und Tasha schluckte als sie Steve, den unerschütterlichen Captain America, so sah.
Er sah aus wie der wandelnde Tod.
»Steve...« sie lief langsam auf ihn zu, als er seinen Kopf hob und sie ansah. Beinahe wäre sie zurückgestolpert, doch sie blieb nur perplex stehen und starrte den blonden Mann vor sich an, der mehr Ähnlichkeiten mit einer Leiche, als mit dem glorreichen, amerikanischen Helden hatte.
Er sah sie einfach nur an, bis sie ihren Schock überwand und nicht anders konnte, als über die Gutgläubigkeit und Naivität ihres Freundes den Kopf zu schütteln.
»Was hat sie dir nur angetan...«
Steve wollte müde Lächeln, doch er fand weder die Kraft, noch den Willen dies zu tun. Stattdessen ließ er seinen Kopf sinken, Tasha lehnte sich neben ihn gegen die Wand; starrte geradeaus. »Sie liebt mich«, gab er leise zu, so als könne er es selbst immer noch nicht glauben, doch dann: »Ich meine, hat mich geliebt.«
Tasha biss ihre Zähne zusammen und zwang ihre nächsten Worte über ihre Lippen. »Alles was sie getan hat, ist dich zu manipulieren«, zischte sie. »Diese Frau ist unfähig irgendwelche Emotionen zu empfinden. Sie ist eine eiskalte Mörderin! Sie hat dich nie geliebt, Steve.«
Bevor sie irgendetwas anderes tun konnte, zuckte sie kurz zusammen, als der Beton der Wand unter Steves geballter Faust knackte und eine bröckelige Delle zurückblieb. »Hör auf damit!«
»Oh und wie sie dich mani-«
»NATASHA! Halt einfach die Klappe und hör auf, mir das Einzige in meinem Leben, was mich glücklich gemacht hat, wegreißen zu wollen, wenn es mich sowieso schon an den Rand bringt!«, sie schwieg. Sie hörte zu. Sie erkannte, »Die Frau, die ich so sehr liebe wie sonst nichts auf der Welt, ist nur noch zehn Minuten vom Tod entfernt und liegt hinter dieser Tür wie eine Leiche auf einem Tisch in einem verdammten Keller!«, Steve fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ließ seine Stirn gegen den kalten Beton sinken, »Ich würde alles dafür geben sie noch ein Mal lächeln zu sehen, ihre Stimme zu hören -verdammt!- sie nur noch ein einziges Mal berühren zu können, aber das einzige woran ich denken kann, ist wie sie in meinen Armen gestorben ist! Verstehst du jetzt auch nur annähernd, wie es mir geht?«
Natasha sagte nichts.
Dann sah sie zu ihm. Seine Fingerknöchel waren an einer Hand leicht aufgekratzt.
»Zehn Minuten...«, sie ließ die Worte in der Luft hängen als wögen sie nicht die eigentliche Schwere von Blei, sondern leichter als Luft, »Ich muss sofort zu ihr.«
Ihre Hand zitterte, weswegen sie so schnell und fest nach der Tür griff, dass sie nicht lang darüber nachdenken konnte.
Die Russin erstarrte, kaum dass sie einen Fuß in den Raum gesetzt hatte und Steve, der hinter ihr stand, musste nach dem Türrahmen greifen um sich abzustützten.
Da lag sie. Alisya. Amalia. Natashas Schwester. Ihre Haare so rabenschwarz und ihre Haut so blass, dass sogar Bilosnischka vor Neid erblasst wäre, wären Alisyas Lippen nicht so bleich und leblos. Der Verband um ihren Bauch war leicht mit Blut getränkt und Tasha konnte ihre Augen nicht von der Frau nehmen, die nun schon die zweite Leiche im Keller des russischen Präsidenten war.
Kalte Tränen liefen über ihre Wangen, doch Natasha blieb reglos stehen. »Sestra... nein.« die Rothaarige lief mit stockenden Schritten auf die Ukrainerin zu, doch ihre Beine knickten ein, sodass Tasha sich nur noch an der Kante des kalten Metalltisches halten konnte und mit tränenverschleierter Sicht auf das Gesicht der Frau sah, die ihr einst alles bedeutete.
Und in diesem Moment -jetzt, da sie ihr genommen wurde- realisierte Natasha Romanoff, dass es noch immer so war.
Als ihre zitternde Hand Alisyas eiskalte Wange berührte, durchfuhr die Black Widow ein Schmerz, den ihr keine Waffe der Welt hätte zufügen können. Dieser Schmerz war anders. Er würde ihr Niedergang sein.
»Amalia... nein. Bitte-« sie brach ab. Ihre Kehle war wie zugeschnürt; nur noch Schluchzen kam heraus. Ihre Tränen tropften von ihrem Kinn und trafen auf die aschfahle Haut der Ukrainerin, liefen von dort aus über deren Wangen weiter. Natasha vergrub ihr Gesicht an Alisyas Schulter, hielt ihre sterbende Schwester so eng bei sich wie sie nur konnte und presste ihr Ohr gegen ihre Brust. Ihr Herzschlag würde jede Sekunde erlöschen.
Thum-thum. Eine Minute nichts, vielleicht auch länger. Thum-thum. Thum-thum. Thum.
Es war totenstill. Man hörte nichts. Weder Steves Atem, noch Natashas Weinen.
Nicht einmal Alisyas Herzschlag.
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What's yer favourite fairytale, guys?
Mine is definitely Dracula. But the real story...😉
~May&Bae
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