ONE
Zwei Jahre später
Leo
„Meine Partnerin ist leider krank geworden - Sie hat Brechdurchfall, falls das jemanden in diesem Kurs interessieren sollte. Und da sie euch eigentlich die ersten zwanzig Minuten langweilen sollte, und ich nicht im Geringsten über ihren Referatsteil informiert worden bin, werde ich jetzt ein bisschen improvisieren. Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich das Thema einfach abartig finde und mir die Relevanz der Präsentation maximal fragwürdig erscheint. Sie sollten mir also dankbar sein, dass ich als Opfer des Schulsystems trotzdem das Bedürfnis habe, angepasst zu wirken, um meinen Notendurchschnitt auf einem angemessenen Niveau zu halten.", begann Skyla ihren Vortrag pünktlich um acht Uhr dreißig an diesem Montag morgen.
„Außerdem möchte ich zusätzlich darauf hinweisen, dass dieser künstlich hervorgerufene Zwang, sich endlos Lange mit Sinnlosigkeiten zu beschäftigen, absolut kontraproduktive Auswirkungen auf jedes Immunsystem haben kann. Leo ist das perfekte Beispiel dafür. Sehen Sie, er sieht so aus, als würde er gleich den Löffel abgeben."
Ich schreckte hoch und blinzelte. „Was?" Verwirrte Worte verließen meinen Mund. „Ich gebe überhaupt nichts ab!"
„Miss Black.", wurde Skyla von Mrs. Lewis unterbrochen, deren Gesichtsausdruck aus einer Mischung von Belustigung und Achtung gleichzeitig zu bestehen schien. „Nach dieser äußerst interessanten Darstellung ihres Gemütszustandes, würde ich es doch sehr begrüßen Ihren Vortrag über unsere Träume und ihre Deutung nun endlich zu Ohren zu bekommen. Der Kurs platzt förmlich vor Spannung."
Ich rieb mir über die Augen und sah mich um. Der Typ vor mir tippte unter dem Tisch auf seinem Handy herum, am Fenster lackierte eine blasse Blondine ihre viel zu langen Nägel feuerrot und hinter mir konnte ich eindeutig das Kauen von Kartoffelchips lokalisieren. Das Geräusch von knisterndem Plastik jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Hier platzte garantiert keiner vor Spannung. Höchstens der oberste Knopf von Mrs. Lewis' geblümter Bluse. Aber die spannte wohl schon seit sie Lehrerin geworden war.
Mein Magen knurrte und ich bereute jetzt schon, auf mein Frühstück verzichtet und mir heute morgen lieber eine extra Runde Schlaf gegönnt zu haben.
„Beginnen Sie einfach mit Ihrem Thema. Miss Brown wird in den kommenden Tagen sicherlich noch die Möglichkeit haben, ihren Teil vorzutragen." Mrs. Lewis warf Skyla einen aufmunternden Blick zu, indem sogar ich ablesen konnte, mit welch einer Sorge und Vorsicht sie meine Zwillingsschwester eigentlich zu behandeln versuchte. Ich hätte die Augen verdrehen sollen, doch stattdessen musterte ich Mrs. Lewis genau.
Es war nämlich nicht derselbe Blick, mit dem uns auch die anderen Lehrer in ihren Kursen ansahen. Es war nicht der Blick, der uns signalisierte, dass wir unter keinen Umständen auffallen sollten oder uns um unsere Noten Gedanken machen mussten. Es war kein skeptischer Blick, indem vielleicht auch etwas Überforderung und Unsicherheit lag. Und kein Blick, dem Skyla und ich immer und immer wieder auszuweichen versuchten.
Denn Mrs. Lewis wirkte authentisch. Mit minimal zusammengekniffenen Augen und leicht erhobenen Augenbrauen, schien sie zu jeder Zeit genau zu verstehen, was Skyla und ich die letzten zwei Jahre durchgemacht hatten. Und vor allem schien sie zu wissen, was sich in den letzten zwei Jahren so radikal verändert hatte.
Zwei Jahre, in denen uns nicht nur unsere Lehrer schräg ansahen, sondern auch die gesamte Schülerschaft so tat, als wollte sie uns für Warrens Tod verantwortlich machen. Für den Tod an dem blonden Surferboy, den ich und Jaden acht Jahre unseres Lebens als unseren besten Freund bezeichnen konnten.
Zwei Jahre, seit kaltblütige Killer meine Eltern und eben diesen einen besten Freund ermordet hatten. Zwei Jahre, seit diese Leute im Gefängnis saßen. Zwei Jahre, seid Skyla ihre große Liebe verloren hatte. Und zwei Jahre, seit wir beide Tag für Tag um diese drei Menschen trauerten.
Während meine Schwester redeten, starrte ich auf das schwarze Lederarmband an ihrem Handgelenk, an dem sie unbewusst herumspielte. Es war Warrens. Das wusste ich ganz genau. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er es jemals ausgezogen hatte. Nicht zum duschen nach dem Sport und auch nicht für unsere gemeinsamen Golf-Sessions. Ich ziehe es aus wenn ich sterbe, hatte er immer gerufen. Meine Augen verkniffen sich. Ja, ich vermisste ihn, das stand fest.
Zäher Applaus holte mich auf einmal aus meinen ernüchternden Gedanken. Ich sah Skyla dabei zu, wie sie einen USB-Stick aus dem Laptop zog und sich für ihre Verhältnisse zufrieden auf ihren Platz setzte. Am liebsten hätte ich mir eine Ohrfeige gegeben, weil ich als großer Bruder nicht aufgepasst hatte. Doch ich war mir sicher, Skyla würde es verstehen.
~
„Skyla? Denkst du wieder an ihn?", fragte ich sie nach dem Unterricht, als wir uns gemeinsam durch den großen Korridor an den Schließfächern vorbei auf den Weg in die nächsten Stunde machten.
„Was glaubst du?"
„Ich weiß nicht. Du siehst traurig aus." Ich betrachtete sie von der Seite. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung.
„Ich bin nicht traurig."
Natürlich nicht. Was hatte ich auch anderes erwartet?
Seit exakt zwei Jahren hatte sie kein einziges Mal geweint. Keine einzige Träne verließ ihre strahlend blauen Augen, kein grauer Schleier zierte ihr Gesicht und kein einziges Mal hingen ihr die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare ins Gesicht.
Seit exakt zwei Jahren sah sie jede einzelne Sekunde perfekt aus. Perfekt und bezaubernd. Ich seufzte. Wie konnte dieses Mädchen nur so zerbrechen?
„Skyla?"
„Ja Leo?"
„Denkst du an ihn?", fragte ich sie wieder.
Es herrschte Stille. Ich beobachtete sie, doch ihr Gesicht blieb unverändert. Ihre Augen verdunkelten sich nicht, sie begannen auch nicht zu strahlen, alles blieb einfach genauso wie es auch vor wenigen Augenblicken war. Es machte mich wahnsinnig nicht zu wissen, was in ihr vorging. Früher konnte ich innerhalb von Sekunden herausfinden, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten. Ich konnte ihr helfen, ihr zur Seite stehen, auch wenn sie nicht mit mir redete, doch mittlerweile war ich machtlos.
Alles was ich tun konnte, war auf ihre Worte zu vertrauen und glauben, dass sie mir in gleichem Maße vertraut.
„Ja vielleicht.", antwortete sie schließlich und schaute direkt in meine Augen. Es schien, als könnte sie bis in meine Seele blicken und ganz tief in meinem Innersten Dinge anstellen, die mich sämtliche Stunden von diesem einen Tag nochmal erleben ließen.
„Schau mich bitte nicht so an, Prinzessin.", sagte ich sanft, den Kopf schräg gelegt. Skyla kniff die Augen zusammen, zeigte ansonsten aber keinerlei Reaktionen.
„Wie schaue ich denn?"
Du schaust so, als wüsstest du nicht mehr wo oben und unten ist. So, als würde dein Kopf Karussell fahren. So, als hättest du ihn nie hergeben wollen. Und so, als wäre dir ganz und gar nicht egal wie deine Zukunft ohne ihn aussieht.
All das behielt ich aber für mich. Diese Gedanken spukten seit dem Tag nach Warrens Tod in meinem Kopf umher, doch ich wollte Skyla selbst überlassen, was sie fühlte oder was sie vorgab zu fühlen. Sie war eine Künstlerin wenn es darum ging ihre Gefühle zu verbergen und ich mir ziemlich sicher, dass deshalb keiner wusste, was eigentlich in ihr vorging.
„Willst du es tun?", fragte ich sie schließlich, anstatt eine Antwort zu geben.
„Nein, ich denke nicht. Nicht an meinem Geburtstag. Nicht an unserem Geburtstag."
Ich atmete aus. Sie wollte sonst immer zu ihm.
Wann immer sie in den letzten zwei Jahren an ihn gedacht hat, haben wir jedes Mal aufs Neue das Gleiche getan.
Wir saßen Woche für Woche, Tag für Tag, Stunde für Stunde in seinem Zimmer auf dem Bett oder auf dem nackten Fußboden, manchmal machten wir das stundenlang, ohne ein Wort zu wechseln.
Sie saß einfach nur da, starrte die Wand an, jonglierte seinen Golfball in ihren Händen, oder fuhr mir dem Zeigefinger über die staubigen Möbel.
Doch nie zeigte sie Gefühle. Sie war nicht traurig, sie war nicht fröhlich oder glücklich, sie weinte nicht, sie lachte nicht, sie war nicht wütend oder hatte Angst, wie es weiter gehen würde. Sie tat einfach nichts. Sie saß einfach nur da.
Seit jenem Tag vor zwei Jahren hatte sich dieses Nichts, diese nicht zu verdrängende Gleichgültigkeit in ihr breit gemacht und ich spürte es genau.
Ich spürte es mit jeder einzelnen Zelle meines Körpers.
Ihr Herz war gebrochen.
Mit seinem Tod brach es in tausend Stücke.
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