19 - Bern und Zürich - Schweiz
Es ist ein Sommer, der seinen Namen nicht verdient. Jeden Tag prasseln bereits am Vormittag Gewitter nieder, die Temperatur stagniert um die zwanzig Grad. Der Fachbegriff lautet eben nicht 'Klimaerwärmung' sondern Klimaveränderung.
Kathrin Zürcher sitzt in einem Sechserabteil der ersten Klasse im Schnellzug von Zürich nach Bern. Sie hat ihren Laptop vor sich auf dem Tisch stehen, das Mobiltelefon liegt gleich daneben. Das Büro auf Schienen erinnert sie an die gepanzerten Präsidentenzüge Stalins in Russland, von denen man ab und zu in Filmen oder Büchern hört.
Die Verlegerin hat von Selina den Auftrag erhalten, sich in Bern umzuhören und die Stimmung bei den Bundespolitikern in Erfahrung zu bringen. Einmal mehr gibt dieser Auftrag Kathrin die Gelegenheit, sich mit ihrem langjährigen Freund, Nationalrat und Anwalt Fritz Berlinger zu treffen. Sie freut sich darauf, den großen Mann, der eine steile Karriere gemacht hat, wiederzusehen.
Im Internet liest Kathrin die neuesten Nachrichten aus Westafrika. In Côte d'Ivoire stehen Neuwahlen an. Einer der Kandidaten ist ein Wirtschaftsboss mit zwielichtigem Hintergrund. Laurent Djue, sie kennt den Namen nicht und ruft Google auf. Ein Bild zeigt einen übergewichtigen Mann in einem wichtig scheinenden Anzug. Kathrin erfährt nicht viel, außer dass der Mann offensichtlich einflussreich ist und einen Teil der Armee hinter sich hat. Offenbar werden ihm die größten Wahlchancen eingeräumt. Kathrin schüttelt den Kopf. Das Land ist offensichtlich im Begriff den gleichen Fehler zu begehen wie alle Länder mit ähnlichen Despoten an der Macht.
Auf ihrer Recherche stößt sie auf einen interessanten Artikel einer Tageszeitung aus Ghana. Darin werden Bilder von Kindern gezeigt, wie sie mit Macheten auf Kakaoplantagen arbeiten müssen. Der Journalist beruft sich auf einen Arzt, der von schlimmen Verletzungen und Verstümmelungen berichtet, welche sich Kinder im Umgang mit den scharfen Messern zuführen können. Der Arzt bemängelt das internationale Interesse an diesem Missstand. Kathrin kann ihm nur beipflichten.
Ihr Mailprogramm meldet sich mit einem sanften 'Plopp'. Kathrin öffnet die soeben erhaltene Mail und stellt erfreut fest, dass sie von Selina ist. Ihre Lebenspartnerin fehlt ihr. Obwohl sie weiß, dass Selina durchaus auf sich selbst aufpassen kann, so kennt sie die Journalistin gut genug um sich Sorgen zu machen. "In welchen Schwierigkeiten steckst du nun wieder, mein Herzblatt?", murmelt sie und liest die Mail.
Betreff: Beweise
Mein Schatz
Wir sind unterdessen in Ghana angekommen. Wir haben bisher einige Kakaofarmen besichtigen können und wurden, zumindest sicher auf einer davon, auch schon angelogen. Es ist wahr, es gibt die Kinderarbeit und sie wird selbst vor Ort totgeschwiegen.
Ich habe einen Blog eingerichtet, auf welchem ich unsere Reise dokumentiere. www.bittersueß.org, das ist die Adresse. Dort findest du sämtliche relevanten Informationen, wenn du sie brauchen solltest.
Java und ich fahren für die nächsten Tage nach Côte d'Ivoire. Wir folgen einem Bus, der vermutlich entführte Kinder transportiert.
Viel Erfolg bei deinen Nachforschungen in Bundesbern. Ich liebe dich - bis zum nächsten Mal.
Selina
"Bitte nicht! Folgt nicht diesem Bus!" Kathrin macht sich echte Sorgen. Sie beschließt, sich am Abend bei Elena zu melden und nachzufragen, wie sie die Situation einschätzt.
Der Zug fährt in den Bahnhof Bern ein. Kathrin packt ihr Büro zusammen und eilt zum Ausgang. Vom Bahnhof Bern ist es nicht weit bis zum Bundeshaus. Kathrin geht zu Fuß, sieht sich die Schaufenster des Loeb an und genießt die geschäftige Gemächlichkeit dieser Stadt, die so komplett anders tickt als das erfolgsorientierte, hektische Zürich.
Berlinger erwartet seine Freundin vom Studium in einem kleinen Presseraum im Bundeshaus. Vor dem Gebäude bleibt Kathrin etwas ehrfürchtig stehen. Sie betrachtet die grünliche Fassade, welche in jedem Dezember als Leinwand für ein Laser-Licht-Spektakel mit Musik herhalten muss. Der Bau repräsentiert alles, was die Schweiz ausmacht, überlegt sie sich. Bescheidenheit bei gleichzeitiger Erhabenheit, Reichtum ohne Prunk, Zurückhaltung und Offenheit. Mit einem leichten Schmunzeln erinnert sie sich an den Mani Matter Song, in welchem ein Mann versucht, das Gebäude mit Dynamit zu sprengen; dann passiert sie die Sicherheitskontrolle beim Besuchereingang.
Berlinger wartet bereits auf der anderen Seite. Sie begrüßen sich mit den typisch schweizerischen drei Wangenküsschen.
"Kathrin, schön dich zu sehen. Willkommen in der Schaltzentrale unseres Landes."
"Du verwechselst das mit der Chefetage unserer Banken oder der Pharmaindustrie, mein lieber Fritz. Das hier ist doch bloß Nostalgie und vielleicht noch ein wenig Repräsentation für die Touristen." Kathrin liebt es, ihren Politiker-Freund damit aufzuziehen, dass die Schweiz schon längst nicht mehr vom freien Willen regiert wird.
Der große Mann lacht laut. "Das ist meine Kathrin! Komm, wir haben einen Raum im ersten Stock." Berlinger führt Kathrin über die Granittreppe nach oben, dann rechts durch einen Seitengang zum Büro. "Dieser Raum wird normalerweise für kleine Pressekonferenzen gebraucht. Hier sind wir ungestört."
"Danke, lieber Fritz. Ich war noch nie so privat im Bundeshaus. Es ist schön hier."
"Du weißt, dass ich dir das alles in einer privaten Führung zeigen dürfte. Du musst dich bloß melden."
"Darauf komme ich bestimmt gerne einmal zurück. Für heute jedoch ist Arbeit angesagt."
Sie setzen sich an einen mächtigen Eichentisch, der in der Mitte des Raumes steht. Bis etwa auf einen Meter Höhe ist der Raum mit einer dunklen Holzlamperie ausgekleidet, wie man es früher gemacht hat, an der Decke sind Stuckaturen sichtbar, die Beleuchtung hingegen ist neu.
"In welchem Schlamassel steckst du diesmal?", fragt Berlinger. Er redet nie lange um den heißen Brei herum.
"Ich weiß es noch nicht, Fritz. Ich habe dir doch von Umbigwe erzählt."
"Dem sensationellen Koch in Italien? Ja - und du schuldest mir noch immer ein Essen bei ihm."
"Das werden wir bestimmt nachholen, ich habe es nicht vergessen. Genau der. Man hat seinen Bruder ermordet, im Kongo."
"Was hat das mit der Schweiz zu tun?" Berlinger kann den Zusammenhang nicht sehen.
"Warte - es ist kompliziert. Dieser tote Bruder hatte eine Kakaofarm. Wir haben erfahren, dass die Mörder in Entführungen von Kindern verwickelt sind, die sie dann zur Kinderarbeit zwingen; in Ghana und in Côte d'Ivoire."
"Das ist zwar traurig und illegal, aber ich kann noch immer keinen Zusammenhang erkennen."
"Nun, wir haben Papiere, die belegen, dass eine große Schokoladenfirma aus der Schweiz von dieser illegalen Kinderarbeit profitiert."
Es entsteht eine kurze Pause. Berlinger ist sichtlich schockiert. "Autsch! Wenn das stimmt, dann haben wir tatsächlich ein brisantes Problem. Um welche Firma geht es, wenn ich fragen darf?"
"Blanchet, aus Villeneuve."
Fritz Berlinger stützt sich auf dem Tisch auf, legt sein Gesicht in die großen Hände. "Blanchet! Ausgerechnet der Platzhirsch. Ich sehe eine Armee von sehr guten Anwälten, welche sich dir gegenüberstellen, meine Liebe. - 'Too big to fail', sagt dir das etwas?"
"Ja. Das erinnert mich an zwei Banken ungefähr zu der Zeit, als ihr Politiker die nationale Fluggesellschaft habt fallen lassen."
"Schon gut, lassen wir das. Wir wissen beide, dass dieses Kapitel keine Sternstunde der Demokratie war. Aber Blanchet! Kathrin, das bedeutet nicht nur Schokolade. Das ist auch Babynahrung, Milchpulver und vor allem Wasser. Blanchet beherrscht den weltweiten Wassermarkt wie kein anderer Konzern aus Europa."
"Aber im Schokoladengeschäft verstößt er gegen internationales Recht und gegen jede Moral."
Berlinger schüttelt den Kopf. "Da steckt Selina dahinter, habe ich recht?"
"Ja, du hast recht, aber das spielt keine Rolle. Verbrechen ist Verbrechen, egal wer es aufdeckt. Und diese Sache stinkt zum Himmel."
"Wenn du gegen Blanchet vorgehen willst, brauchst du erstens wasserfeste, bombensichere Beweise. Unanfechtbar und original, dass kein Anwalt etwas dagegen unternehmen kann - und trotzdem werden sie es versuchen. Sie werden dich und deinen Verlag zerreißen, sie werden jeden vernichten, der mit dir zu tun hat. Zudem brauchst du sehr viel Geld. Ist es das wert?"
Kathrin legt ihre Hände auf seine; sie blickt ihm direkt in die Augen. "Fritz! Das sind Kinder! Ihnen geschieht Unrecht und ein Schweizer Konzern profitiert davon. Hier geht es nicht um Geld, verdammt nochmal. Hier geht es um Moral!"
"Es geht immer um Geld, meine Liebe. Glaube mir. Ich bin lange genug in der Politik, um das zu wissen. Letztendlich geht es immer um Geld und es gewinnt immer die Seite, die mehr davon hat. David und Goliath funktioniert nur im Märchen."
Kathrin lacht. "Ja, und der große böse Wolf sitzt in einem kleinen Kaff an der Zürcher Goldküste und scheffelt seine Moneten, ich weiß. - Aber, im Ernst: Was weißt du? Was munkelt man hier?"
"Du weißt, dass eine Kommission geschaffen wurde, um die Situation rund um Kinderarbeit zu untersuchen?"
"Ja, mich interessiert, wie die Politik darauf reagiert."
"Ich würde sagen, wie immer: Die Linke ist empört, dass es soziale Unterschiede gibt und die Rechte ist empört, dass ein soziales Gleichgewicht etwas kostet."
"Was heißt das im Klartext?"
"Die Lobbyisten sind am Ruder. Momentan haben die Linken etwas Auftrieb. Man fordert, dass die Schweizer Schokoladenhersteller ihre Lieferanten offenlegen und beweisen müssen, dass ihr Kakao ohne Kinderarbeit produziert wird. Diese Forderung wird als Einmischung in die freie Marktwirtschaft von rechts torpediert. Ich würde sagen, der Tanz beginnt erst."
Kathrin wundert sich. "Und das neue Gesetz? Die Beweise, die sie liefern müssen? Die Gütesiegel? Was ist damit?"
"Hm, ein Label kannst du kaufen wie damals einen negativen Corona-Bescheid. Alles eine Frage der 'Spende'. Es stehen Wahlen an, vergiss das nicht."
"Lieber Fritz, das ist nicht Italien, ..."
"Aber es ist auch nicht weit weg. Wir sind Nachbarn."
"Also gut: Hör dich bitte um. Ich möchte wissen, wenn etwas in Richtung Blanchet ermittelt oder diskutiert wird. Machst du das für mich?"
"Umhören und berichten geht in Ordnung. Mehr werde ich aber nicht tun. Blanchet ist mir eine Nummer zu groß, meine Liebe. Übrigens muss der junge Blanchet, Serge, nächste Woche vor der Kommission erscheinen und Stellung nehmen."
"Ich kenne dich rebellischer, aber das geht in Ordnung. Vielen Dank für die Info über Serge. Da werde ich dranbleiben. Danke, dass du für mich Zeit hattest."
"Schon gut. Versprich mir eines, Kathrin. Lehnt euch nicht zu weit aus dem Fenster. Ich würde dich ungern fallen sehen. Versprochen?"
Wenig später schlendert Kathrin wieder zum Bahnhof. Sie hat relativ wenig und doch genug erfahren um zu wissen, dranbleiben zu müssen. Sie bemerkt den Mann nicht, der scheinbar den gleichen Weg hat und doch immer einige Meter hinter ihr geht, selbst wenn sie stehenbleibt.
Am Bahnhof kauft sich Kathrin ein Kaffee-Eis, denn es ist trotz der Kälte immer noch Sommer. Sie wartet auf ihren Zug. Ein Mann links hinter ihr liest die Tageszeitung, einige Menschen rauchen innerhalb der vorgesehenen Zone am Bahnsteig. Der Zug fährt ein.
Kathrin setzt sich wieder in ein leeres Sechserabteil. Sie mag diese Wagen, die für Business-Reisende reserviert sind. Keine quengelnden Kinder, keine rülpsenden Besoffenen, keine Teenager mit überlauter Musik. Einfach nur ruhige Plätze der ersten Klasse. Sie nimmt das neueste Manuskript von Marco aus der Tasche, und beginnt mit der Lektüre. Diesmal ist es kein Roman. Diesmal berichtet er über die mafiösen Strukturen in Süditalien und das Leben seiner Schwieger-Großmutter Maria, ihren Aufstieg und ihr Wirken. Es ist eine Art Biografie, etwas Neues für den romantischen Autor, aber durchaus mit Herz geschrieben. Kathrin schmunzelt.
Zürich begrüßt die Einheimische mit seinem überbordenden Stress. Jeder rennt, jeder telefoniert, niemand kümmert sich um die anderen, die bloß im Weg scheinen. Mit mulmigem Gefühl steht Kathrin an der Ampel, an welcher ihre Lebenspartnerin vor einigen Jahren einst beinah durch einen Unfall getötet wurde. Sie wartet mit vielen anderen Menschen auf das grüne Männchen um die Straße gefahrlos überqueren zu können. Sie spürt eine Hand in ihrem Rücken.
"Ein kleiner Schubser nur und dich gibt's nicht mehr, Schlampe. Kümmere dich um deinen Scheiß, hörst du? Sonst landest du womöglich unter dem nächsten Tram."
Die tiefe und heisere Stimme eines Mannes, verbunden mit schlechtem Atem und dem Geruch nach Schweiß dringt in ihr Ohr. Als sie sich umdreht ist keiner da. Ein Typ in einem grünen Hoodie erinnert sie an einen Kerl, den sie schon am Bahnhof in Bern gesehen hat, doch sie wird sich irren. Was war das eben? Eine Warnung?
Kathrin beeilt sich, ihr Büro zu erreichen. Sie schließt auf, donnert die Türe hinter sich zu und lehnt sich an die Wand. Sie atmet stoßweise, hektisch, als hätte sie soeben einen Halbmarathon absolviert. Eine Warnung? Von wem?
Als sie sich etwas beruhigt hat, rügt sie sich auch schon dafür, sich nicht schneller umgedreht zu haben. Aber sie war schockiert, gelähmt vom Geschehen des Unwirklichen.
***
Serge Blanchet sieht eine eintreffende Nachricht auf seinem Mobiltelefon, während er auf seine Zugverbindung wartet.
"Verlegerin aus Zürich stellt unbequeme Fragen. Vorschläge?"
"Was für Fragen?"
"Ghana."
"Gefährlich?"
"Ja. Verbindung zur Journalistin in Afrika."
"Ruf mich an."
Wenig später klingelt das Gerät, Serge nimmt den Anruf entgegen. "Was sagst du da? Woher weißt du das?"
"Sie war heute im Bundeshaus; hat sich mit einem Nationalrat getroffen."
"Hat er geplaudert?" Serge wird unruhig.
"Nein, er weiß nichts. Wir sind dran, wir haben schon viele auf unserer Seite. Die Linke können wir vergessen, aber eine Mehrheit wird es wohl geben. Ich denke, die Untersuchungen werden eingestellt."
"Was kostet das?"
"Einige Großaufträge, vielleicht eine Bewilligung für eine neue Bahnverbindung am Genfersee - nichts Weltbewegendes."
"Gut. Können wir die Aufträge noch als soziales Engagement abbuchen?"
"Serge! Mein lieber Serge, jetzt wirst du unverschämt. - Natürlich können wir das. Ich mag dich!"
"Was machen wir mit der Verlegerin?"
"Wir haben sie vorgewarnt und behalten sie im Auge. Es wäre nicht der erste Verkehrsunfall in Zürich."
"Aber ohne meinen Namen, hörst du?"
"Wie immer. Habe ich dich jemals enttäuscht?"
"Nein", doch die Verbindung wurde bereits unterbrochen.
Serge starrt noch einige Sekunden auf das Mobiltelefon, dann besteigt er die einzige U-Bahn der Schweiz und fährt in Richtung Lausanne Ouchy-Olympique davon.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro