Sandra
Der Druck auf den Schläfen nimmt stetig zu. Dumpf ist das Gefühl über der Stirn verteilt. Fast so, als hätte man Sandra eins übergebraten. Verkrampft umklammert sie die Tasse. Bei ihrem Gegenüber hätte ihr Lieblingsstück sicherlich nicht lange überlebt, zu viel Kraft hat sich Jae antrainiert. Sein Feingefühl und seine Art, schlechte Neuigkeiten schonend zu servieren, blieben zum Glück erhalten. Seine Gestik zum Urteilen spricht er offen und ehrlich.
Jaes Vision klingt plausibel und nicht erfunden. In Hendrik steckten schon immer viel Wut und große Verlustängste. Und doch will es nicht in Sandras Kopf, dass sich ihr Partner gegen Jae stellte. Schließlich waren Hendrik und Jae beste Freunde, und zu dritt war die Welt heile und schön. Eine in ihren Augen unzertrennliche Freundschaft, die aus heiterem Himmel auseinanderbrach, weil Sandra blind durch die Welt lief. Hendrik machte nie einen verliebten Eindruck auf sie. Sein Trost kam wie gerufen. Aufrichtig und ehrlich, wie sie glaubte. Auch bevor Jae sich von ihnen abwandte, wirkte Hendrik, als wolle er sich nur dankbar für all ihre Hilfe und Unterstützung zeigen, weil Sandra ihm durch das Leben half und ihn nie aufgab, wie all die anderen. Hendrik war ihr gegenüber nett. Weniger bissig als zum Rest der Welt. Er spielte den großen Beschützer und glaubt bis heute, noch Probleme mit den Fäusten zu lösen. Nicht mehr ganz so schlimm wie zu Beginn ihrer Freundschaft und doch ist seine Toleranzgrenze nie sehr hoch. Hendrik hat viel Temperament. So wie Mandy.
In der Schulzeit fühlte sich Hendrik in einem verbalen Gefecht schnell unterlegen. Besonders gegenüber Jae. Trotz Freundschaft stürzte er sich auf seinen Freund. Nicht immer musste Sandra eingreifen, denn Jae konnte Hendrik ebenfalls schnell beruhigen, indem er ihn daran erinnerte, dass er nicht der Feind ist. Etwas, was Hendrik gern vergaß, aber sich für Kleinigkeiten immer angegriffen fühlte. Auch heute noch. Sollte sich Jaes Aussage über die Erpressung bewahrheiten, dann hat Hendrik eine Grenze überschritten, wo eine Entschuldigung nicht ausreicht. Sandra will sich die Szene gar nicht ausmalen, über den Überfall vor einigen Jahren. Was muss Jae sich gefürchtet haben, allein am Boden zu liegen, umgeben von Hendrik und seinen Schlägerfreunden, die Sandra nie gutheißen konnte.
Das Umfeld hat ihn vergiftet - wäre eine zu einfache Aussage, um Hendriks Taten zu rechtfertigen. Denn am Ende traf Hendrik eine Entscheidung aus freien Stücken, die ihn zu einem schlechten Menschen gemacht hat. Immer hielt Sandra ihm vor Augen, wie stark Hendrik doch sei und dass er seine Fäuste nicht zum Machtmissbrauch und Eigennutz einsetzen soll, sondern zum Schutz der Schwachen. Hendrik machte damals den Eindruck, als teile er diese Überzeugung und nun stellt sich eventuell heraus, wie sehr sich Sandra in dem Punkt irrte. Jae wurde zum Opfer und verlor an jenen Abend etwas, das er händeringend beschützen wollte, aber nicht konnte, weil er Hendrik körperlich unterlegen war. Daher der Wandel in seinem Leben und doch fürchtet Sandra, dass Jae noch immer etwas verschweigt und Geheimnisse hegt.
Einsichtig erkennt Sandra, dass sie sich Jae gegenüber nicht fair verhielt. Zu tief saß der Schmerz, als er sie verstieß. Für ein reines Gewissen beschließt Sandra daher, sich aufrichtig zu entschuldigen.
„Verzeih mir, Jae. Mein Herz lag zerbrochen auf dem Boden und ich wusste nicht, wie ich in Zukunft mit dir und dem Thema umspringen sollte. Zu meinem Bedauern habe ich mich oft im Ton vergriffen, ohne dich vorher richtig anzuhören. Aber du musst zugeben, dass du es mir mit deiner Geheimniskrämerei nie leicht gemacht hast."
Ein Nicken seinerseits. Zu mehr ist ihr Gesprächspartner nicht in der Lage. Woraufhin Sandra sich vorbeugt und ihn vorwurfsvoll betrachtet.
„Aber es enttäuscht mich, dass du wieder allein versuchst, Probleme zu lösen. Ich dachte immer, wir wären ein Team. Warum kommst du nie zu mir? Auch damals. Hendrik mag dir zwar gedroht haben, aber das hätte dich nie daran hindern sollen, die Karten offen zu legen."
Jae meidet den Blickkontakt. Seine Lippen beben, als er den Mund zur Antwort öffnet und doch fährt er sich mit glasigem Blick durch die Haare.
„Auf die Gefahr hin, dass ihm die Hand auch bei dir ausrutscht? Wir beide wissen, wie er mit Verlustängsten und Zorn umgeht. Die Sorge war zu groß, dass er tobt und du in seinem Strudel aus Zorn und Wahn gezogen wirst. Außerdem konnte ich dir noch kaum in die Augen blicken, denn ich war zu jenem Zeitpunkt schwach und erbärmlich. Ich konnte mein Spiegelbild selbst kaum noch ertragen. Auch heute schäme ich mich und bin nie wirklich zufrieden mit mir selbst. Aber am meisten fürchte ich mich davor, dass mein Training nie ausreichen würde, um dich im Ernstfall zu beschützen."
Schutz. Nun nimmt Jae dieses Wort ebenfalls in den Mund. So wie es Hendrik immer tat. Sandra konnte es bei Hendrik immer belächeln und runterspielen. Sie behandelte ihn bewusst wie ein kleines Kind und freute sich gespielt. Weil sie wusste, dass Hendrik diese Aufmerksamkeit brauchte, um die Dunkelheit abzulegen und zu wachsen. Aber auch Jae litt still und heimlich. Hinter seinem Lächeln versteckte sich so viel Traurigkeit und Einsamkeit. Kaum jemand nahm wahr, was sich wirklich in ihm abspielte. Niemand kannte ihn richtig, weil sich kaum jemand mit ihm beschäftigte. Jae ertrank in Erwartungen, denen er nur gerecht wurde, wenn er sich selbst aufgab und das Leben so lebte, wie man es von ihm erwartet hat. Sein Herz musste er dafür verschließen. Sandra hat gehofft, dass er dieses Leben abgelegt hat, aber der Mann ihr Gegenüber erinnert sie an die Zeit, wo sie ihn kennen lernte. Eine Marionette, die kurz ihre Freiheit wiedererlangte, aber erneut eingefangen wurde, um die gerissenen Fäden zu ersetzen.
„Ich brauche deinen Schutz nicht, Jae."
Es klingt undankbar. Selbst, wenn es der Wahrheit entspricht, und Jae Mut fasste, um ihr offen über seine Gefühle zu reden. Sollte Jae sie nicht ernstnehmen, weil sie noch vor wenigen Stunden ängstlich vor dem Wolfsrudel gezittert hat, wie ein in die Enge gedrängte Hase, dann könnte sie es ebenfalls verstehen. Hinzukommt, dass es sich anfühlt, als benachteilige sie Jae. Schließlich erhielt Hendrik ganz andere Reaktionen auf solch noble Worte. Obwohl es ihr immer aus den Ohren raushing und sie schauspielern musste.
„Siehe dieses Training als etwas, was du für dich absolviert hast und nicht für mich."
Ihr Gegenüber setzt zum Lächeln an. Mild und einem lauten Seufzen, als liege die Enttäuschung schwer im Magen.
„Ich ahnte, dass du so etwas von dir gibst. Dabei bist du meine Motivation. Für dich stehe ich immer aufs Neue auf."
Eine Aussage, die sie damals ungemein glücklich gemacht hat. Nun aber fühlt es sich Negativ an. Wie eine Ausrede für ein Verbrechen. Daher bevorzugt Sandra das Schweigen.
Jaes Version wurde angehört, jetzt fehlt nur noch Hendrik Sicht. Auch wenn in Sandra Zorn und Enttäuschung kocht, sollte ihm ebenfalls das Recht zu stehen, sich zu erklären. Aber noch fehlt jede Spur von ihm.
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