Hendrik
Schallend und voller Boshaftigkeit ist das Gelächter am Ende des Gangs. Wie Hyänen. Schon eine Weile ist die Haltung von dem Groenendael namens Remy angespannt. Kein wachsames Verhalten, es erinnert Hendrik eher an Einschüchterung.
„Was lauert am Ende?", mag Hendrik in Erfahrung bringen.
Remy läut stur weiter und macht zuerst nicht den Anschein, zu antworten, doch dann dreht er tatsächlich den Kopf zu ihm rüber.
Idioten! Nichts weiter als ein paar Typen, denen die Macht zu Kopf gestiegen ist und die auf anderen herumhacken. Ihr dummer Zeitvertreib.
Hendrik runzelt die Stirn. „Stellen die eine Gefahr dar?"
Nein. Sie dürfen dir nichts tun. Befehl vom Boss.
Das klingt einerseits beruhigend. Anderseits bedeutet dies, die Chancen zur Flucht schmälern sich gewaltig.
Remys Ohren sinken hinab, woraufhin er Hendriks Aufmerksamkeit hat.
Ganz leise fügt der stolze Hund hinzu: Außerdem stehst du unter meinem Schutz.
Worte, die an Niedlichkeit nicht zu übertreffen sind. Hendrik kann nicht anders, als den großen Hund für diesen süßen Beschützerinstinkt zu verwöhnen. Am Anfang wert sich der stolze Vierbeiner, aber mit Lob und Streicheleinheiten sind Hunde schnell besänftigt. Wie gern würde Hendrik solch ein schönes Exemplar einfach mit sich nehmen und ihn als seinen neuen Mitbewohner vorstellen. Nur ist Sandra ein wahrer Angsthase. Es muss nur ein großer Hund auf dem gleichen Gehweg entlanglaufen und seine Süße sucht direkt panisch nach einer Ausweichmöglichkeit. Dabei mag Hendrik Hunde und einer seiner Urbexerfreunde läuft tatsächlich mit einem großen Rottweiler durch die Lost Places. In Hendriks Kopf entsteht ein kleiner Film, dort stellt er sich einige Abenteuer in der Urbexer-Szene mit Remy vor. Kein schlechter Gedanke. Nur kann er Sandra solch eine Zukunft nicht abverlangen.
Tageslicht dringt ins Innere der Höhle. Dankbar stöhnt Hendrik und knipst alles an Lichter aus. In Ausnahme der Kamera. Die Silhouetten am Ausgang bleiben nicht verborgen. Hendrik zählt fünf Wölfe, die noch immer schallend lachen und sich wie besoffene Menschen unterhalten. Welch bizarres Bild. Für Hendrik fast nostalgisch. Es weckt schmerzhafte Erinnerungen an seine Kindheit. Sein arbeitsloser Vater mit seinen idiotenhaften Freunden. Ehrenlos und einfach nur Abschaum. Seine Mutter– ein Opfer der Vergewaltigung. Gepeinigt und in den Selbstmord getrieben. Hendrik wuchs ohne Elternliebe auf. Lebte im Dreck und war ein Opfer der Unterhaltung auf Kosten seines Vaters und seiner seltsamen Sippe. Jeden Tag aufs Neue wurde er als Nichtsnutz beschimpft und seine Träume ausgelacht. Narben von ausgedrückten Zigaretten erinnern ihn immer wieder an die schmerzhafte Vergangenheit. Jae und Sandra waren sein wahres Zuhause. Sein Zufluchtsort. Sie behandelten ihn vorurteilsfrei. Anders, als die anderen Kinder in der Schule. Sandra nahm er seit der ersten Begegnung als einen strahlenden Engel wahr, der die helfende Hand nach ihm ausstreckte und sein Herz im Sturm eroberte. Obwohl Jae zu seinem besten Freund wurde, ertrug Hendrik es einfach nicht, dass beide Jungs gleiche Gefühle für Sandra hegten.
Jae hatte von Anfang an die besseren Chancen. Er war charmant, klug und brachte nicht mal halb so vielen Ärger mit sich, als Hendrik es immer tat. Jae war gut erzogen und nicht annähernd so temperamentvoll als Hendrik. Der Kampf um Sandras Herz war vergebens, aber Hendrik konnte seine Niederlage nie eingestehen. Sie zu verlieren, hätte ihn zurück in das dreckige Loch geschleudert, wo er mit Mühe und Not rausgeklettert ist. Das Seil, das ihn seine beiden Freunde reichten, hat zu viel durchgemacht, um der Rettungsaktion länger standzuhalten. Ihr Freund wäre ihnen verloren gegangen, denn sie hätten nur Augen für die Liebe und keinen Platz für das dritte Rad.
Ich war alles bereit zu opfern. Alles, nur um aus diesem Drecksloch zu entkommen und um Sarah nicht zu verlieren!
Alles gut?
Remy schaut beunruhigt zurück. Seine Sorge ist zuckersüß, aber der Schrecken der Vergangenheit sitzt tief in den Knochen und das andauernde Gelächter, das durch die Höhle hallt, greift Hendriks Psyche an. Es fühlt sich an, als begebe er sich geradewegs zurück ins dreckige Apartment seines Vaters. Voll von Müll und Unrat. Überall, wohin das Auge reicht, stehen und liegen leergesoffene Bierflaschen. Er bildet sich sogar ein, den schimmligen Geruch wahrzunehmen. Die vertraute Furcht kehrt heim. Das starke Zittern in Anbetracht der Schläge und anderen Gewaltdelikten, die ihn zuhause erwartet haben. Alles in ihm weigert sich, auch nur einen Fuß nach vorne zu setzen. Immer dann, wenn er kurz vor seinem Ziel ist.
„Feigling! Du bist ein am Boden kauerndes Würmchen! Mehr und nicht weniger! Aus dir wird später nie ein richtiger Mann!"
Worte des Erzeugers, die ihn prägten und ihn immer dann aufsuchten, wenn er kalte Füße bekommt. Worte, die seine Meinung ändern und den Kampfeswillen entzünden. Erneut. Auch in Anbetracht der sabbernden und hungrigen Wölfe, die ihn wie Beute betrachten.
Ahhhh! Frischfleisch, Jungs!
Der braune Wolf tritt vor. Seine Züge sind wachsam und voller Bosheit. Wie bei Remy dringt seine Stimme telepathisch und vor allem gewaltsam in Hendriks Kopf ein. Ein winziger Teil von Hendrik erkennt die Gefahr von dem Rudel an, sein Wesen hingegen ist voller Neugier und Abenteuerlust.
Wann hat er mal die Chance, Wölfe aus nächster Nähe zu betrachten?
Und doch sind seine Schritte langsam und mit Bedacht gewählt. Ein grauer Wolf beobachtet ihn neugierig. Sein Funkeln wirkt anerkennend.
Oh, der hat Mut! Gefällt mir!
Aber der Braune will Hendrik diesen Bonus nicht gönnen und springt bedrohlich nach vorn. Ganz nah an den Menschen. Aus Reflex weicht Hendrik zurück und zuckt sogar sein Messer zur Verteidigung. Damit endet der Ruhm und Graue lacht höhnisch.
Was will der mit dem Zahnstocher? Uns die Zähne reinigen?
Instinktiv bleckt Hendrik die Zähne. Ein jedes Tier hat zu viel gemeinsam mit den Leuten, die in Hendriks alter Bude hockten und sich das Hirn weggesoffen haben. Mit stolzen Wölfen hat dies nicht zu tun, es sind wahrlich nichts anders als dumme Hyänen. Hungrig und getrieben von Spielereien.
Knurrend schiebt sich Remy vor Hendriks Füße und fordert den Braunen zu einem Blickduell auf.
Die halbe Portion spielt sich auf wie ein König! – tönt es aus dem Hintergrund.
Das Gelächter wird lauter. Ohrenbetäubender, woraufhin sich Hendriks Laune verschlechtert. Seine Halsschlagader schwillt an und er fühlt das Blut in sich pulsieren. Sein Griff um das Messer wird fester. Erneut spielt er mit dem Gedanken, einfach zuzustechen und die Runde auf ewig zum Schweigen zu bringen. Aber dann wäre er keinen Deut besser wie sein Erzeuger.
Du wagst es, dumme Thöle! Geh mir aus dem Weg und lass mich unseren Neuen angemessen begrüßen!
Aber Remy schüttelt sich, als wolle er sich von Nässe befreien.
Nein! Mir allein wurde die Aufgabe zur Eskorte übertragen!
Das Knurren seines Gegenübers wird lauter und verstärkt mit einem bedrohlichen Zähnefletschen.
Und du hast deinen Job erledigt! Hier ist deine Ablöse! Alles andere übersteigt deine Grenzen! Geh und verkrieche dich in dein Loch, Skinwalker!
Das Zittern und der eingezogene Schwanz zeigen, dass Remy an seine Grenzen stößt. Er wird einknicken. Ganz sicher. Die Frage ist nur, wann er Hendrik im Stich lässt. Daher besteht sofortiger Handlungsbedarf.
Fakt ist: Remy ist ihm ein angenehmer Zeitgenosse als die Runde vor ihm.
„Aus dem Weg, Wölfe! Ihr nervt!"
Hendrik baut sich auf und nimmt ebenfalls eine aggressive Haltung an. Mit geballten Fäusten macht er große Schritte auf das Wolfsrudel zu. Vorbei an Remy. Der Braune fletscht die Zähne und deutet einen Sprung an, aber Hendrik blickt ihm streitlustig in die Augen. Lebensmüde vertraut er darauf, dass Remy wahr spricht und das Rudel ihm nichts antun darf. Tatsächlich weicht der Anführer dieser kleinen Gesellschaft zurück und lässt ihn sogar passieren. Daher wendet sich Hendrik um und winkt. Nur ist Remy wie erstarrt, daher pfeift Hendrik.
„Komm schon, mein Großer. Du wolltest mir den Weg zeigen."
Sein Plan fruchtet, der Groenendael setzt sich in Bewegung. Freudig und schwanzwedelnd holt er auf und läuft im Schritttempo neben Hendrik her. Der Morgensonne entgegen. Hendrik behält die Wölfe zwar im Auge, aber er genießt vielmehr den Tannengeruch und das Sonnenlicht. Die Natur begrüßt ihn mit offenen Armen und endlich kann Hendrik aufatmen. Er befindet sich nicht länger Untertage und hat die Kreaturen in der Dunkelheit hinter sich gelassen. Das gibt ihm Hoffnung!
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