15. Magische Worte II
„Ich will dieses Fahrrad haben", forderte Anton.
„Mit den Worten „Ich will" bekommst du kein neues Fahrrad", sagte ich zu Anton.
Es war immer das Gleiche. Er forderte alles, was kein Wunder war. Bei seinen leiblichen Eltern durfte und bekam er alles. Seit 2 Jahren war er bei meiner Frau und mir. Seine Eltern waren beide im Gefängnis, weil sie mehrere Hunderttausende Euros unterschlagen hatten. Noch 6 Jahre muss er bei uns leben. Er ist aufbrausend und es muss nach seinem Willen gehen. In der Schule gibt es deswegen immer wieder Ärger.
Wütend verließ Anton mit mir den Fahrradmarkt. Man merkte seine Wut. Eine Cola-Dose, welche auf den Fußweg lag, kickte er über den Gehweg und traf eine Fensterscheibe. Der Inhaber des Ladens kam sofort heraus und ich forderte Anton auf, sich zu entschuldigen. Seine Antwort war: „Reg dich mal ab, Alter! Es ist nichts passiert. Die Scheibe ist nicht kaputt!"
Er ließ mich sowie den Geschäftsinhaber stehen und ging weiter. Ich redete noch einen kurzen Moment mit dem Ladenbesitzer und folgte ihm.
Zwei Tage später musste ich bei der Klassenlehrerin von Anton erscheinen. Er hatte einer Mitschülerin ihre langen Haare teilweise abgeschnitten, einer anderen Schülerin hatte er Klebstoff in die Haare geschmiert und einem weiteren Mädchen ein blaues Auge geschlagen, weil sie ihm nicht ihr Pausenbrot gab und einer Fachlehrerin warf er den nassen Tafelschwamm an den Hinterkopf. Frauen und Mädchen akzeptierte er nicht. Das bekam meine Ehefrau ständig zu spüren. Meine Frau war am Verzweifeln.
Immer wieder hatten wir solche Gespräche und es wurde nicht besser mit ihm. Schon zwei Jahre ging das so, ohne eine Veränderung.
Das Telefon klingelte und es meldete sich das städtische Krankenhaus. Anton war eingeliefert worden und lag in der Notaufnahme. Ich machte mich sofort auf den Weg und in der Notaufnahme saß er. Er hatte überall blaue Flecke, Kratzer, eine Platzwunde an der Stirn, die Nase war blutig und ein blaues Auge. Ein Arm war in Gips. Wie mir der Arzt sagte, sei er von der Feuerwehr gebracht worden. Man habe ihn im Park aufgefunden.
Im Krankenzimmer erzählte mir Anton Folgendes:
Er war mit Sophia, einem Mädchen aus seiner Klasse, im Park verabredet gewesen. Das Mädchen kam nicht, sondern hatte ihren Bruder geschickt, weil Anton sie ständig ärgerte. Nach einer hitzigen Diskussion hatte Anton eine ordentliche Abreibung bekommen. Immer wieder habe der andere Junge gesagt, dass er nur zwei magische Worte für seine Schwester hören wollte. Erst dann würde er ihn in Ruhe lassen. Anton blieb stur und bezog noch mehr Prügel von dem Jungen, bis er auf dem Boden lag.
Am nächsten Tag war ich bei ihm, als es an der Tür klopfte.
Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, ca. 11 Jahre alt, betrat das Krankenzimmer. Sie stellte sich an das Fußende des Krankenbettes und sah Anton grinsend an.
„Du siehst etwas mitgenommen aus. Hast du mir etwas zu sagen, Anton?", fragte sie ihn.
„Entschuldige bitte, dass ich dich geärgert habe. Es tut mir leid, Sophia", sagte Anton kleinlaut.
„Ich wusste, dass du die magischen Worte „Entschuldige bitte und es tut mir leid" kennst. Du scheinst gelernt zu haben, Anton! Ich wusste, dass mein Bruder dich auf den richtigen Weg bringt. Jetzt können wir uns treffen und sehen, was es wird", antwortete das Mädchen und setzte sich zu Anton ans Bett.
Leider sind heute viele magische Worte, wie „Bitte", „Danke", „Verzeihung", „Entschuldigung" und „Tut mir leid" in Vergessenheit geraten. Hoffen wir, dass diese Worte bald wieder zum alltäglichen Sprachgebrauch gehören.
568 Worte
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