Ein merkwürdiges Mädchen [Edward Cullen]
Was fand sie nur an diesem Mädchen?
Sie war ein einfaches Menschenkind, ohne besondere Gabe oder irgendetwas anderes, ansehnliches. Einfach nichts. Und ausgerechnet meine Schwester musste sich an sie ketten. Es reichte ja nicht aus, dass ich die Gedanken dieses Mädchens nicht lesen konnte, nein, sie musste noch eines drauf setzen. Verbarg ihre Gedanken vor meinen, so gut, dass es mich bald in den Wahnsinn treiben würde. Ich verstand absolut nicht, wohin das alles führen sollte. Alice war nicht fehlerfrei, so wie wir alle. Was, wenn sie außer Kontrolle geraten und uns um unser Geheimnis bringen würde? Es würde uns nicht nur unsere jetzige Lebenslage kosten, das stand fest …
Und alles nur wegen eines einfachen Mädchens.
Die Bäume um mich herum wirkten trist und langweilig. Es waren doch immer wieder dieselben. Genauso wie es immer dieselben Tiere waren, die ich jagte.
Ich glaubte, dass das, was ich zu mir genommen hatte, mehr als ausreichend war. Ich war wortwörtlich übervoll, in meiner Magengegend rumorte es. Doch so unangenehm es sich anfühlte, zu viel Tierblut in sich zu tragen, ich musste diese Sicherheitsvorkehrungen treffen. Einerseits war da das Versprechen, das ich Alice gegeben hatte. Ich würde sorgsam darauf achten, dem Mädchen nichts zu tun. Der Gedanke an ihren köstlichen Duft und daran, um wie vieles schmackhafter ihr Blut schmecken mochte, wie es sich wohl anfühlte, wenn die zarte Flüssigkeit meinen Hals hinunter rann … Ich durfte es mir nicht einmal vorstellen. Andererseits wollte ich keine Menschen töten. Diese Phase der „Selbstfindung“ hatte ich schon seit Jahren überwunden und ich wusste, dass ich derjenige sein würde, der mir einen solchen Ausrutscher am allerwenigsten verzeihen könnte.
Das merkwürdige war jedoch, dass ich einen dritten kleinen Teil in mir zu spüren glaubte, der aus wesentlich anderen Gründen wollte, dass dieses Mädchen am Leben blieb. Ich kannte kein Argument und keine Erklärung, ich wusste nur, dass es so sein musste. Und damit gab ich mich zufrieden.
Ich begab mich auf den Weg nach Hause, ließ die Bäume an mir vorbei zischen und den Wind gegen meinen Körper flattern. Als ich das Haus erreicht hatte, sah ich Carlisles Wagen in der Auffahrt stehen.
„Hallo Carlisle“, begrüßte ich ihn, als ich in die große Eingangshalle trat.
Hallo Edward, dachte er und nickte mir zu. Wieso ist Alice so aufgebracht?
Er hatte ihren Stimmungswechsel also schon bemerkt. Ich schnaubte. „Lange Geschichte.“
Du müsstest eigentlich wissen, dass ich genug Zeit habe, scherzte er.
Aber ich machte nur eine wegwerfende Handbewegung und ließ es darauf beruhen. Ich war nicht wirklich in der Verfassung, dieses Chaos noch einmal wiederzugeben. Carlisle hatte also keine andere Wahl, als das hinzunehmen.
Vielleicht wird es mir Alice erzählen, sinnierte er. Ich könnte sie gleich fragen.
Ich zuckte nur die Achseln und ging hinauf in mein Zimmer. Als ich die Musikanlage einschaltete und mir die Noten von Debussys ‚Clair de Lune‘ durch die Gedanken kreisten, schien ich mich ein wenig zu beruhigen. Eigentlich waren Alices mentale Schreie kaum zu überhören, aber ich wiederstand ihnen und blendete sie aus. Mir kam die Idee herumzuhorchen, was die anderen zu den merkwürdigen Begebenheiten zu sagen hatten.
Zuerst widmete ich mich Rosalies Gedanken. Welch Überraschung, es ging um sie selbst.
Diese Bluse steht mir ausgezeichnet, dachte sie überzeugt und ich sah sie förmlich vor mir, wie sie sich selbst im Spiegel anschmachtete. Sie trug eine weinrote Rüschenbluse, deren Ärmel von ihren Armen bis zu ihren Händen hin immer weiter wurden, kegelförmig, die Rüschen immer kräuselnder. Die zwei obersten Knöpfe waren offen, sodass ein weiter V-Ausschnitt ihr blasses Dekolleté freigab. Ein größeres Kompliment konnte man ihrem Körper nicht machen, musste ich mir selbst eingestehen, doch das war ich von ihr gewohnt. Aufreizend und übertrieben, so war sie.
Es war gut, sie zu kaufen, dachte sie weiter. Vielleicht kann ich nochmal mit Alice shoppen gehen, ich brauche noch einen passenden Rock … Ach nein, sie hängt ja lieber mit diesem seltsamen Mädchen rum. Wie war ihr Name nochmal? Bel … Ah ja, Bella.
Jetzt wurde es interessant.
Sie nervt wirklich. Kaum einen Tag ist sie hier und hat schon Alices vollkommene Aufmerksamkeit. Das gefällt mir nicht. Und dabei ist sie nichts weiter als ein langweiliges Menschlein. Wenn sie wenigstens schön wäre, so wie ich …
Wenn sie wenigstens schön wäre. Darüber dachte ich nach.
Das erste Mal, als ich sie bewusst angesehen hatte, in den Blick ihrer schokoladenbraunen Augen gesogen wurde, hatte ich auch diesen Eindruck gehabt: durchschnittlich. Nichts Besonderes. Aber dann, im Klassenzimmer, hatte sie mich gefangen. Mit ihrem Duft, so verlockend, hinreißend und köstlich. Zum anbeißen. Doch auch ihr Blick hatte mich gefesselt. So als wollte sie mir etwas sagen und würde ich es nicht verstehen, würde sie sterben. Als müsste sie, damit sie leben konnte, all ihre Gefühle in diese tiefen Augen packen. Das hatte mich verwirrt. Die ganze Zeit fragte ich mich, was sie mir hatte sagen wollen. Und dann diese Aktion im Krankenzimmer. Beinahe hätte ich meine seit Jahrzehnten gehütete Maske in diesem stickigen kleinen Raum verloren, als sich ihr Geruch allmählich durch die Luft geschlängelt und um meine Nase gelegt hatte. Noch immer konnte ich ihn auf der Zunge spüren und das Gift schmecken, das mir in den Mund geschossen war, jedes Mal, wenn ich einen heftigen Atemzug genommen hatte.
Das schlimmste jedoch war die Art gewesen, wie sie Alice und mich beobachtet hatte. Alle Gefühle, die in diesem Moment durch ihre Adern fluteten, konnte ich in den Weiten ihrer Augen ablesen; sie war traurig gewesen, hatte schrecklich verzweifelt und niedergeschlagen gewirkt. Immer dann, wenn ich sie angesehen hatte, hatte sich zwischen ihren Augen eine tiefe Falte gebildet. Manchmal, wenn sie geschmunzelt hatte, waren ihre Augen von einem Blitzen erleuchtet worden, es hatte nur einen kurzen Moment angedauert, doch dann hatten sie wie Diamanten in der Sonne geglommen. Und in diesen endlosen Minuten, da ich mit ihr und Alice in diesem kleinen Zimmer gewesen war, hatte sie keine Angst gehabt. Nur ein einziges Mal, aber nicht, weil sie das fürchtete was wir waren, sondern weil sie sich um uns sorgte. Wie lächerlich. Aber das war irgendwie … liebenswert. Ich rief mir ihr Gesicht zurück ins Gedächtnis und betrachtete es genauer.
Zwei schokoladenbraune, merkwürdig tiefe Augen sahen mich nachdenklich an, so gut lesbar und doch so geheimnisvoll. Ihr gesamtes Gesicht war mehr interessant als hübsch. Unsymmetrisch, deswegen anschaulich. Unter ihren Augen war eine kleine Stupsnase, die zierlich und ein wenig verloren aussah zwischen den anderen Extremen ihres Gesichtes, dem Kontrast zwischen ihrer hellen Haut und ihren dunklen Haaren; ihr schmales Kinn passte nicht zu ihren breiten Wangenknochen. Und doch war sie schön … irgendwie, auf ihre Art und Weise.
Das wohl ärgerlichste an ihr – für mich – war die Stummheit ihrer Gedanken. Egal wann ich versucht hatte, ihre mentale Stimme ausfindig zu machen, es gelang mir nicht. Es war so, als würde niemand anwesend sein, wenn ich mich nur auf sie konzentrierte. Als würde ich versuchen, die Gedanken eines Baums oder Steins zu lesen. Unmöglich. Was war nur anders an ihr? Sie musste eine Mauer oder einen Schutzwall um sich haben, etwas undurchdringliches, unkaputtbares, das mich von ihr trennte. Noch dazu gefiel es mir gar nicht, dass Alices Fähigkeiten nicht von ihr eingeschränkt wurden, auch nicht die von Jasper. Stimmte etwas nicht mit mir?
Blödsinn, redete ich mir ein. Sonst klappte es auch, sie tanzte einfach nur aus der Reihe, das war alles. Nichts von Belang.
Ohne es zu merken, hatte sich meine Miene verfinstert, und so schüttelte ich den Kopf, um meine eigenen Gedankengänge frei von diesem Mädchen zu bekommen und konzentrierte mich auf die der anderen. Auf einmal war Alices mentale Stimme ungewöhnlich nahe. Sie stand vor meinem Zimmer. Ungeduldig und genervt schritt ich zur Tür, öffnete sie und meine Annahme bestätigte sich: die Hände hinter dem Rücken gefaltet, den Blick wütend auf mich gerichtet stand sie da und wartete.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie.
Als Antwort ging ich zurück und setzte mich auf die Couch. Sie lief hinter mir her und blieb schließlich vor mir stehen.
Wieso bist du so verdammt sauer?, dachte sie verärgert.
Dumme Frage. „Als ob du das nicht selbst wüsstest“, antwortete ich ihr.
Sie verdrehte die Augen. Ich habe mir das auch nicht ausgesucht, glaub mir, meinte sie in Gedanken.
„Aber du scheinst gut damit klar zu kommen.“
Mag sein.
Ihr Gedankenbild verwirrte mich. Es zeigte mir einen leeren Raum, ohne Licht, ohne Tür, einfach nur weiße Wände. Sie verbarg etwas vor mir, das war offensichtlich.
„Jetzt sind es schon zwei“, stöhnte ich und ließ mich tiefer in die Kissen sinken.
Ich brauche eben meine Privatsphäre. Und Bella sicher auch, sie könnte ihre Wünsche nie so gut verstecken wie ich es tue.
„Sie hat auch noch Wünsche. Das ich darauf nicht selbst komme“, brummte ich vor mich hin. Ich war hin und hergerissen. Wollte ich wissen, was sie wollte, oder war es besser, wenn ich es nicht tat?
Was dachtest du denn?, fragte sie. Der Raum wackelte, und beinahe dachte ich, ihr würde etwas entgleiten, doch schon nach dem Bruchteil einer Sekunde war er wieder klar und deutlich zu erkennen. Sie wollte mich in den Wahnsinn treiben, kein Zweifel.
„Und wie ich dich kenne wirst du mir keinen einzigen dieser Wünsche sagen, habe ich Recht?“
Das hast du immer. Naja, in solchen Dingen.
Sie schmunzelte. Es trieb mich fast zur Weißglut. Irgendwann, das schwor ich mir, würde ich es nicht mehr aushalten und ihr irgendetwas antun, ich würde sie … Ich dachte nicht zu Ende, sondern funkelte sie weiterhin böse an.
„Beantworte mir nur eine Frage, ja?“, und mit einem Seufzer fügte ich kleinlaut hinzu: „Bitte.“
Kommt drauf an.
Na schön, wir werden ja sehen.
„Was genau hindert dich daran, mir alles zu erzählen? Ist es dieses … ich meine, ist es Bella? Oder geht es hier nur um dich? Vielleicht auch um mich?“
Lange sagte sie nichts, und ich erschrak ein wenig, als ich den Klang ihrer Stimme hörte und nicht den ihrer bloßen Gedanken
„Ich würde sagen, es ist … etwas von allen drei Dingen.“ Sie wartete auf meine Reaktion, auf meine nächste Frage.
„Du wirst mir aber keines dieser drei Dinge genauer erklären“, mutmaßte ich.
Sie nickte. Wieder das Wackeln des dunklen Zimmers, jetzt stärker, doch sie hielt dem Druck stand.
Wieder seufzte ich. „Du mit deiner Privatsphäre. Früher war es so einfach, und jetzt?“ Ich machte eine Handbewegung zu ihr, während ich verständnislos meinen Kopf schüttelte.
Du würdest mich umbringen, würde mir auch nur für einen winzigen Augenblick auch nur ein einziges Bild entweichen.
So schlimm war es also. Gut zu wissen, dachte ich grimmig. Das konnte ja noch heiter werden …
„Ich werde auf den Tag warten, an dem das passiert. Und wenn ich dich dann nicht umbringe, erinnere mich bitte daran.“
Das kannst du vergessen.
Ich merkte, wie das Eis, das sich seit dem Aufenthalt in dem Krankenzimmer gebildet hatte, zwischen uns brach, und es fühlte sich gut an. Vielleicht kriegte ich sie ja so, mit Vertrauen und Nettigkeit, dazu mir mehr zu erzählen.
Ich lächelte, nicht überlegen oder mit bestimmten Hintergedanken. Ich lächelte einfach nur. „Und wenn ich selbst eine Erkenntnis getroffen habe und sie mit dir besprechen möchte, wirst du mir dann die Wahrheit sagen?“
„Ja.“
„Und wenn ich nur ungefähr bescheid weiß, wirst du mir dann auf die Sprünge zur richtigen Antwort helfen?“
„Ja.“
„Und egal was ich dann tue, wenn ich all das weiß, was ihr wisst, wirst du mich trotzdem nicht verabscheuen oder hassen? Wenn es meine Entscheidung ist?“
„Ja.“
Für einen kurzen Augenblick wackelte der Raum in ihren Gedanken wieder, Siegesmut stieg in mir auf, doch nichts passierte, es entwischte ihr nichts.
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Na gut. Ich würde es nicht vergessen …
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