Kapitel 9
Zurück in der Zelle wurde Felicia von ihren neuen Schwestern begrüßt. Elin lächelte sie an. Felicia liebte es, wenn Elin das tat. Jedes Mal war es dann so, als würde die Sonne aufgehen. Ihre großen, Bernsteinfarbenen Augen tanzten dabei immer. Elin war sowieso eine elegante Erscheinung. Sie hatte hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn und pechschwarze Locken die ihr bis zur Hüfte reichten.
„Wie war's?" Sie legte Felicia einen Arm um die Schultern und brachte sie zu ihrer Matratze. Wie immer, wenn es etwas zu erzählen gab, setzten sich die anderen um sie herum.
„Sie wissen meinen vollen Namen. Nur wegen einem Auftritt!" Sie erzählte jedes Detail ihres Verhörs.
Ramona Drajea, die Frau eines Pastors und die Älteste, der Gefangenen Frauen, schüttelte den Kopf. „Scheint so, als hätte dein Talent nicht nur Vorteile, Kind."
Felicia stütze seufzend das Kinn auf ihre Hände. „Was soll ich denn jetzt machen?"
„Du? Du kannst nichts machen, Felicia. Der Heilige Geist hat zu deinem Herzen gesprochen und dir gesagt, dass du schweigen sollst. Das hast du getan. Jetzt liegt es an Jesus, was daraus wird. Sei dir sicher, dass es gut sein wird."
Felicia schaute in die zuversichtlichen, gütigen Augen ihrer Glaubensschwester. „Ja, das will ich tun. Gott wird es wohl machen."
Kurz herrschte schweigen. „Ich vermisse die Sonne und die Natur. Lasst sie uns in unsere Herzen holen." Stirnrunzelnd sahen alle Melina an. „Ja, wir wollen von ihr singen. Ich schlage das Lied Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte von Carl Boberg, vor."
Felicia lachte. „Ein guter Vorschlag. Der Wärter wird sich freuen mal wieder einen Aufstand in der Frauenzelle zu unterbinden."
Die Frauen grinsten. Felicia kannte das Lied aus einem der Gottesdienste und begann nun zu singen. Früher hätte sie nie geglaubt wie ermutigend ein Lied sein konnte, doch jetzt waren Lieder fast zu ihrem einzigen Trost geworden. Nach der zweiten Strophe war der Gesang so laut, dass er durch die Zellentür hinaus auf den Flur geriet. Der Wärter schloss zornig die Tür auf und brüllte: „Ruhe!"
Doch die Antwort war: Dann jauchzt mein Herz dir großer Herrscher zu. Wie groß bist du! Wie groß bist du!
„Ruhe!"
Doch die Frauen hörten nicht auf ihn. Sie sangen weiter. Unschlüssig stand der Mann da und begann dann die am nächsten Sitzende zu schlagen. Doch diese ignorierte ihn geflissentlich und sang weiter. Frustriert über seinen Misserfolg verlies der Wärter die Zelle wieder. Diesem Lied folgten noch viele andere. Ein Lied davon gefiel Felicia ganz besonders. Laut Melina kam es von einem Mann namens Ernst Carl Magaret. Es hieß: Fürchtet ihr des Feindes wilde Übermacht. Das Lied war so erquickend und die Sonne, die besonders im Refrain thematisiert wurde, schien auch in ihrem Herzen und den Herzen, der anderen Sängerinnen aufzugehen.
Elin
Das Medikamentenfläschchen wurde nicht nur von Melina gebraucht. Auch viele andere der Frauen brauchten die Medizin. Bei Melina verlor es immer mehr an Wirkung. Elin musste gequält dabei zusehen, wie ihre Freundin immer dünner wurde.
Was kann ich nur für sie tun? Irgendwie müssen wir sie doch wieder aufpäppeln. Sie braucht einen Arzt.
Als der Wärter das nächste Mal das Essen brachte bat Elin ihn: „Wir brauchen einen Arzt. Bitte holen Sie einen oder bringen Sie meine Freundin zu ihm."
„Was denkst du dir eigentlich? Ihr Frauen macht mehr umstände als ihr es wert seid."
„Jeder Mensch ist gleich viel wert und ich bitte Sie eindringlich etwas für meine Freundin zu tun."
„Ich habe euch Medikamente besorgt. Mehr kann ich nicht tun."
„Aber sie stirbt sonst!"
„Das hast du beim letzten Mal auch gesagt und wie ich sehe lebt deine Freundin noch. Zudem sieht sie doch ganz gesund aus."
„Haben Sie Tomaten auf den Augen?", zischte Elin leise, damit niemand außer er es hörte. „Sie ist so dünn, dass eine Brise sie wegwehen könnte."
„Das ist nicht mein Problem. Geh jetzt bitte einen Schritt zurück oder ich klemme dich hier in der Tür ein."
„Bitte, bitte..."
„Nichts, werde ich tun. Hör auf mich ständig um Dinge zu bitten die nicht in meiner Macht stehen."
„Aber Sie müssen doch etwas tun!"
„Muss ich nicht und jetzt halte deinen Mund." Er gab ihr einen kräftigen Schubs, so dass Elin das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Hart kam sie auf dem Boden auf. Der Wärter zog die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
„Elin, ist alles in Ordnung mit dir?" Felicia beugte sich über sie.
„Abgesehen davon, dass ich hier auf dem dreckigen Boden liege, mein Rücken schmerzt und ich diesen Mann vor Wut in der Luft zerreißen könnte, geht es mir prächtig." Sie lächelte ironisch zu ihrer Freundin auf.
„Na dann bleib mal liegen." Felicia machte eine wegwerfende Handbewegung und tat so, als würde sie gehen wollen. Doch dann drehte sie sich lachend um. „Oder willst du doch aufstehen?"
„Wenn's dir keine Mühe macht mir aufzuhelfen, dann gerne." Sie grinste schief.
Felicia streckte ihr die Hand hin, Elin zog sich daran hoch und die beiden gingen zu den anderen, um zu essen.
„Bitte hör auf dich immer für mich in Gefahr zu begeben, Elin."
„Melli, ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit." Die anderen sahen sich vielsagend an und es war Elin, als würden sie ihr etwas verheimlichen.
„Ich brauche keinen Arzt, Elin. Bitte mach nicht noch alles schlimmer als es schon ist."
Enttäuscht sah Elin Melina an. Hatte sie wirklich alles nur noch schlimmer gemacht? „Tut mir leid, Melli."
„Es nützt nichts, dass du dir unnötige Schmerzen zufügst. Ich schätze es sehr, dass du so altruistisch bist, aber bitte... Es wird alles gut werden, ok?" Melina nahm ihre Hand und drückte sie. Elin schaute ihr tief in die Augen. Irgendetwas verheimlichen sie und die anderen mir. Nur was? Ich werde schon noch herausfinden.
In der nächsten Woche wurden überraschend ihre Essensrationen gekürzt. Sie bekamen so wenig, dass selbst ein Kind nicht davon satt werden würde. Die Frauen versuchten alles, um dagegen anzukämpfen schwach zu werden. Jeden Morgen machten sie Übungen, die sie stärkten.
Die Zeit schleppte sich dahin. Jede Stunde kam ihnen so lang wie ein ganzer Tag vor. Die einzige Abwechslung war es, wenn jemand zum Verhör gerufen wurde. Danach gab es immer Geschichten zu erzählen und die Zeit verging schneller. Immer öfter jedoch kamen die Frauen geschlagen und Blutverschmiert zurück. Sonia war sogar bewusstlos, als man sie in die Zelle warf. Ihre Finger waren in der Daumenschraube gewesen und waren nun ganz zerquetscht. Elin konnte den Anblick kaum ertragen.
Immer, wenn sich die Zellentür aufs neue öffnete, wappnete sich Elin für ein neues Verhör, doch immer wurde jemand anderes rausgerufen.
Je näher das Jahresende rückte, desto feuchter und kälter wurde es in der Zelle. Die Gefangenen hatten jedes Zeitgefühl verloren, aber es musste ungefähr im zweiten Monat von Elins Gefangenschaft gewesen sein, als man Melina zum Verhör rief. Sie war ganz abgemagert und konnte kaum alleine stehen geschweige denn gehen. Zum Glück packte der Polizist sie wie immer am Arm, sonst wäre Melli direkt vor der Zelle zusammengebrochen.
Wenn er noch fester zupackt, bricht er ihr den Arm.
Kaum war die Tür wieder verschlossen, stellten sich die Gefangenen auf die Knie und beteten. Elin bat Gott darum, dass er Melina half zu schweigen und ihm treu zu bleiben und dass er ihr den Vers, den sie heute Morgen bei der Andacht zitiert hatte, ins Gedächtnis rief. Nämlich den dreiundzwanzigsten Vers aus 1. Korinther Kapitel 9. Ich tue aber alles um des Evangeliums willen, um an ihm Anteil zu bekommen. „Hilf ihr jetzt für dein Evangelium einzustehen, Herr. Gib ihr die himmlische Kraft. Lass sie den guten Kampf kämpfen, Jesus."
Die Minuten vergingen und zogen sich endlos in die Länge. War nicht schon eine Stunde vergangen? Wie lange dauerte das Verhör denn noch? Wurde sie gefoltert? Hatte sie Jesus verleugnet und war jetzt frei? Elin wollte erst gar nicht daran denken.
Zum Abend hin wurden die Frauen immer unruhiger. Inzwischen war auch Ramona Drajea zum Verhör gerufen worden und war auch schon wieder zurückgekehrt.
„Vielleicht hat man sie ja auch in eine Einzelzelle gesperrt." Elin hoffte, dass Felicia recht hatte.
Am nächsten Morgen war Melina immer noch nicht da. Der Morgen verging und der Nachmittag kam. Der Wärter brachte das Essen und Elin riskierte es ihn nach Melina zu Fragen.
„Entschuldigung?"
„Was willst du denn schon wieder? Hör auf mich zu nerven. Ich kann keinen Arzt für deine Freundin besorgen." Er wollte die Zellentür wieder schließen, doch Elin drückte die Tür wieder auf.
„Das ist es nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas von ihrem Aufenthalt wissen."
„Von wessen?" Er sah sie genervt an.
„Sie heißt Melina Stan und sie wurde gestern zum Verhör gerufen. Von dem ist sie nicht zurückgekommen und wir machen uns Sorgen um sie. Hat man sie in eine andere Zelle gebracht?"
„Nicht das ich wüsste. Wäre dem so, dann wüsste ich es. Ich kann ja mal nachfragen."
Elins Herz machte einen Freudensprung. Gott hatte das Herz dieses Mannes weich gemacht. Jedenfalls so weich, dass er ihnen half. „Dankeschön. Haben sie vielen Dank."
„Jaja." Er verschwand wieder und dann begann eine schier endlose Wartezeit.
Die Frauen waren von der Warterei schon ganz aufgekratzt, als der Wärter endlich die Tür öffnete. Elin musste lächeln. Zum ersten Mal wurde diese Tür nicht geöffnet um Essen zu bringen oder zu holen, oder um einen Menschen zum Verhör zu rufen oder von einem wiederzubringen, sondern um eine Nachricht zu überbringen.
„Und? Haben Sie etwas in Erfahrung bringen können?" Elin nahm Felicias Hand. Sie brauchte etwas um sich daran festzuhalten.
„Ja, das habe ich." Er blieb in der Tür stehen. „Melina Stan ist gestern durch die Eiserne Jungfrau gestorben." Neunzehn Augenpaare starrten ihn an. „Sie hat nicht sprechen wollen du da hat der Richter das befohlen." Er zuckte teilnahmslos mit den Achseln und wollte gehen, doch Ramona hielt ihn durch eine Frage zurück. „Hat man sie beerdigt?"
Er drehte sich zu ihnen um und zuckte wieder mit den Achseln. „Entweder sie werden sie in den nächsten Tagen verbrennen oder haben es schon getan, oder sie warten auf die nächste Hinrichtung und dann kommt sie mit den anderen in das Massengrab."
Elin wurde speiübel. Ihre geliebte Freundin war tot und man würde sie vielleicht verbrennen oder achtlos in ein Massengrab werfen. Nie würde jemand ihr Grab besuchen. Die Ehre, die ihr gebührte würde ihr nie zu Teil werden.
Der Wärter schien sich langsam überflüssig zu fühlen und ging wieder. Zurück ließ er trauernde und erschütterte Herzen.
„Lasst uns das Lied Ich bin ja nur ein Gast auf Erden singen. Es passt zu diesem Anlass und Melli hat es gemocht", schlug Sonia vor.
Mit zittriger Stimme stieg Elin in den Gesang ein. Melina schwebte vor ihren Augen. Ihr zartes eingefallenes Gesicht und die hohlen Augen, die ein Geheimnis bargen. Dieses liebe Gesicht würde Elin nie wieder sehen. Die sanfte Stimme ihrer Freundin würde nie wieder auf dieser Welt erklingen. Und dann war da noch die quälende Frage: Welches Geheimnis hatte Melli mit in den Tod genommen?
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