Kapitel 11
Felicia
Innbrünstig flehten die Frauen zu Gott um Gnade und Kraft für Elin. Felicia, die der Tür am nächsten saß, hörte, wie der Schlüssel ins Schloss geschoben wurde und sprang auf.
„Sie kommt!"
Sofort erhoben sich auch die anderen von ihren Knien und bildeten eine Mauer, wie sie es in letzter Zeit zu tun pflegten, um die Tür. Die Frauen wurden nämlich regelrecht in die Zelle geworfen und konnten sich dadurch unnötige Schmerzen zuziehen. Um das zu verhindern, standen sie jetzt bereit, um Elin aufzufangen.
Die Tür öffnete sich gewaltsam und Elin wurde hineingeschleudert. Wie ein Sack, prallte Elin auf den Boden, noch bevor die Frauen sie auffangen konnten.
„Elin!", riefen fast alle Frauen wie aus einem Munde.
Felicia sank neben ihrer Freundin auf die Knie und zog ihren Oberkörper auf ihren Schoss. Der Wärter machte ein verächtliches Geräusch und murmelte etwas wie: „Das hat man eben davon, wenn man so stur ist." Felicia funkelte ihn wütend an.
Beschwichtigend legte Ramona ihr eine Hand auf die Schultern. „Ganz ruhig, Lici. Ignorier ihn." Der Wärter schloss die Zellentür wieder.
„Schwachkopf", schimpfte Felicia.
„Felicia! Hör auf sowas zu sagen!"
„Es ist doch wahr."
„Nein ist es nicht. Er hat einen, von Gott gegebenen, Verstand. Wenn du Jesus liebst, musst du auch ihn lieben."
Beschämt senkte Felicia den Kopf. „Entschuldigung."
„Entschuldige dich nicht bei mir." Ramonas Stimme wurde wieder etwas weicher und sie hockte sich neben Felicia und strich eine Strähne aus Elins Gesicht. „Was haben sie nur mit ihr gemacht?"
Sonia trat neben die beiden. „Wir sollten sie auf ihre Matratze legen und uns um ihre Finger kümmern."
Felicias Augen weiteten sich, als sie Elins Daumen sah. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Finger sahen ganz zerquetscht aus und waren grün, blau und an einigen Stellen sogar schwarz angelaufen.
Sonia behielt trotzdem, wie immer, einen kühlen Kopf. „Wir müssen sie auf ihre Matratze legen", ordnete sie wieder an und half Ramona und Felicia die Ohnmächtige auf ihr Lager zu betten. „Taucht Taschentücher in den Wassereimer und betupft damit ihr Gesicht."
Felicia tat wie ihr geheißen. Die Serviette, die von ihrer Mahlzeit stammte und unbenutzt war, sog sich mit Wasser voll, als sie es in den Eimer hielt, in dem die Wasserration für diesen Tag war. Wie Hunde müssen wir aus diesem Eimer trinken, Herr. Wir sind als Nichts geachtet. Elin haben sie wie einen Kartoffelsack hier reingeworfen. Bitte, mach sie wieder gesund, Herr. Auch wenn es wohl keinen Unterschied macht, ob sie jetzt oder später... stirbt.
„Schlag keine Wurzeln, Lici." Die sanft tadelnde Stimme von Sonia riss Felicia aus ihren Gedanken.
„Tut mir leid." Sie beugte sich zu Elin runter und wischte ihr vorsichtig, mit dem kalten Tuch, das Gesicht ab. Auf der anderen Seite der Zelle hatten sich inzwischen die anderen Frauen zum Gebet für Elins Gesundheit versammelt. Bitte, Herr, bitte sei bei Elin. Mach sie gesund. Und so schwer es ihr auch fiel fügte Felicia noch hinzu: Wenn es dein Wille ist. Sie nahm Elins Hand und betupfte weiterhin ihr Gesicht während sie leise ihren Namen rief. „Elin, Elin wach bitte auf."
Eine fast unmerkliche Bewegung ging durch Elins Körper. Sie verzog das Gesicht als hätte sie Schmerzen. „Elin, hörst du mich? Oh Gott, bitte, bitte lass sie aufwachen", betete Lici laut, ohne es zu merken.
Ramona drückte ihre Schulter und rief ebenfalls nach Elin. „Elin hörst du uns?"
„Mama?"
Elins leise Frage schnitt Felicia ins Herz und machten es unglaublich schwer. Sie schloss gequält die Augen, als Tränen in ihr hochstiegen. Wenn wir ihr doch nur sagen könnten, dass wir ihre Mutter wären. Wenn wir doch nur alle in Freiheit wären... „Wir sind es, Elin. Felicia und Ramona."
Elin öffnete langsam die Augen. „Mama ist nicht hier?" Schon diese wenigen Worte hatten sie erschöpft. Sie holte japsend Luft.
„Du bist im Gefängnis, Elin. Deine Mutter ist nicht hier. Sie ist in Freiheit."
Ein leichtes Lächeln spielte um Elins Mundwinkel. „In Freiheit", hauchte sie und ein weiterer Schmerz riss an Felicias Herz.
„Wie fühlst du dich, Elin?"
Elin biss sich auf die Lippen. „Ganz schrecklich."
Felicias Schultern sackten nach unten, aber dann straffte sie sie wieder. „Kannst du dich daran erinnern was passiert ist?"
Elin schüttelte langsam den Kopf.
„Lasst sie jetzt. Sie ist bestimmt müde und muss sich ausruhen", meinte Sonia und scheuchte Ramona und Felicia zu den betenden Frauen. Felicia wollte sich beschweren, doch Sonia lächelte sie beruhigend an. „Ich bleibe bei ihr und kümmere mich um sie. Geh zu den anderen und bete."
Elin
Wie durch einen Nebel sah Elin die vertrauten Gesichter von Sonia, Ramona und Felicia. Mama war nicht hier? Wo war sie dann? Warum war sie, Elin, denn noch mal im Gefängnis? Warum gingen Ramona und Felicia jetzt beten und Soni blieb bei ihr? Wieso war ihr Gesicht so nass? Und warum schmerzten ihre Daumen so sehr? Warum pochte ihr ganzer Kopf? Sie war ganz verwirrt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Konzentrier dich, Elin, rief sie sich zur Vernunft. Was ist das Letzte woran du dich erinnern kannst? Sie runzelte die Stirn als sie darüber nachdachte.
„Was ist los Elin? Hast du schmerzen?" Sonias liebes Gesicht beugte sich über sie.
„Ja und... und ich weiß nichts... gar nichts mehr... Wo bin ich? Was ist passiert?" Es war unglaublich anstrengend zu sprechen und ihre Lungen schrien nach Luft. Warum war sie so schwach?
„Schh... Nicht sprechen. Du bist sehr schwach."
„Warum?" Elin verstand gar nichts mehr. Mama war doch gerade noch bei ihr gewesen. Sie hatten doch zusammen an einem tiefblauen See gestanden und hatten dabei zugesehen wie die Kleinen getauft wurden. Aber warum wurden sie alle gleichzeitig getauft? Da stimmte doch was nicht... Tränen der Verzweiflung und des Frustes brannten in ihren Augen und liefen ihr die Wangen hinunter als sie sagte: „Ich weiß... gar nichts... mehr." Sie japste nach Luft und weinte. Ihre Stimme hörte sich in ihren Ohren so fremd an. Sie hörte noch wie Sonia irgendetwas zu ihr sagte, aber sie verstand nichts davon. Stattdessen verschwand der Schmerz und es fühlte sich an, als wenn sie in eine andere Welt getragen würde.
Mama und sie standen an einem herrlichen See und sahen zu wie Cosmina, Damian und Fabia ins kristallblaue Wasser wateten. Papa stand mit anderen Brüdern aus der Gemeinde im Wasser und sie warteten mit ausgestreckten Armen auf die Kinder.
„Wo ist Gabi, Mama?" Elin sah sich nach ihrer Schwester um. Wo steckte sie bloß?
Mama nahm ihre Hand. „Gabi wird nicht getauft."
Elin sah in die sanften Augen ihrer Mutter und las Schmerz darin. „Aber warum?"
Mama wandte den Blick ab und richtete ihn wieder auf ihre Kinder, die reglos im Wasser standen und zu ihnen hinübersahen. Zögern und Unentschlossenheit standen in ihren Gesichtern. „Weil sie nicht dazugehören kann- und will."
„Aber-"
„Sei still, Elin." Ihre Mutter drückte ihre Hand und legte sich dann beide Trichterförmig um den Mund. Laut rief sie ihren Kindern zu: „Geht weiter Kinder! Lasst euch taufen!" Die Drei gehorchten.
Jetzt zogen Bilder, wie ein Film an ihr vorbei und sie sah ihre eigene Taufe vor sich. In einem weißen Kleid stand sie im Wasser, dass in der Sonne glitzerte. Sie sah ihr strahlendes Gesicht, ihre Hände, die sie auf ihrer Brust gekreuzt hielt und hörte, wie ihr Vater sie fragte: „Schwester Elin, glaubst du, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist?"
Und ihre Antwort: „Ja, ich glaube!"
„Versprichst du ihm mit einem reinen Gewissen zu dienen?"
„Ja, ich verspreche."
„Auf deinem Glauben taufe ich dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen."
Und dann wurde sie untergetaucht. Das Wasser war so erfrischend und fühlte sich weich und unwirklich leicht an. Es war, als würden die Wasserfluten ihr altes Leben wegschwemmen und sie würde ein ganz neuer Mensch. Ihre Augen leuchteten so hell wie die Sonne, als sie wieder zum Vorschein kam.
Der Film brach abrupt ab. Elin sah nun wieder ihre drei Geschwister und wie sie, einer nach dem anderen, untergetaucht wurden. Jetzt dachte Elin wieder an ihre kleine Schwester. „Wo ist Gabi?" Panik ergriff sie und sie nahm die Hände ihrer Mutter in die Ihrigen. Verzweifelt schrie sie ihr ins Gesicht: "Wo ist Gabi?" Mama schüttelte nur weinend den Kopf. "Dreh dich um, Elin. Deine Geschwister werden jetzt getauft. Schau zu."
"Aber, Gabi... Sie ist immer noch nicht hier!"
„Elin, Elin hörst du mich? Bitte, lieber Gott, bitte mach doch, dass sie endlich wach wird. Bitte, bitte."
Wer war das? Elin kramte in ihrem Gedächtnis. Mama? Nein. Papa? Nein, es war eine Frauenstimme. Cosi? Nein. Auch keine ihrer anderen Schwestern. Vielleicht eine Freundin?
„Elin, Elin hörst du mich? Ich bins Felicia."
Felicia? Wer war denn noch mal Felicia? Sie runzelte die Stirn und als könne das Mädchen ihre Gedanken lesen sagte sie jetzt. „Felicia Matei. Deine Freundin aus dem Gefängnis. Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr, Elin?"
Tränen schossen aus Elins Augen und sie schüttelte den Kopf.
„Mach die Augen auf, Elin." Elin tat es. Das Gesicht wackelte etwas, aber dann glätteten sich die Wogen vor ihren Augen und das Bild blieb stehen. Immer besser konnte sie die Konturen einer jungen Frau erkennen. Einer wunderschönen Frau. „Erkennst du mich, Elin?"
„Felicia?" Ein strahlendes Lächeln erhellte das Gesicht der jungen Frau. „Ja. Oh, Gott sei Dank, dass du endlich wach bist. Du hast vor zwei Tagen das letzte Mal die Augen auf gemacht. Wir haben schon deine Daumen verbunden und sie heilen ganz gut. Ich bin so froh, Elin." Felicia umarmte sie stürmisch, während bei Elin eine endlose Reihe von Fragezeichen entstanden.
„Kannst du mir erzählen was mit mir los ist, Felicia? Ich kann mich an nichts erinnern." Ein heftig pochender Schmerz meldete sich in ihren Daumen und in ihrem Kopf. Felicia ließ sie los und erzählte ihr eine unglaubliche Geschichte. Sie erzählte wie sie gefangen genommen und hierhergebracht wurde, dass sie schon zwei Mal verhört worden wurde und von einer Melina Stan, die gestorben war. Langsam kamen Bilder und Erinnerungen wieder in Elin hoch und sie wusste langsam wieder wer und wo sie war. Was geschehen war.
„Erinnerst du dich, Elin...", fragte Felicia immer wieder und mal schüttelte Elin den Kopf, mal nickte sie.
Irgendwann ergab die Geschichte von Felicia Sinn und Elin konnte sich an etwas erinnern. „Ich wurde verhört und gefoltert."
„Richtig. Anscheinend hast du Bekanntschaft mit der Daumenschraube gemacht, du ärmste." Elin hörte Mitleid aus Felicias Stimme.
Jetzt sah Elin es wieder deutlich vor sich. Das höhnische Grinsen, des Polizisten und den Hass, des Richters. Sie wusste wieder, wie das Verhör abgelaufen war und dann war alles weg. Nein, nicht alles. Sie hatte geträumt. Ihr Herz schlug heftig, als sie sich an ihren Traum erinnerte und sie schlug die Hände über ihr Gesicht zusammen. Sie ignorierte den stechenden Schmerz in ihren Fingern und weinte bitterlich.
„Elin, was ist los?" Felicia legte eine Hand auf ihren Arm.
Elin schüttelte den Kopf. „Das darf nicht wahr sein! Das darf einfach nicht wahr sein... Oh Gott! Erbarme dich!" Sie weinte so stark, dass sie gar nicht Felicias verzweifelte Fragen hörte. Elin war ganz aufgelöst. Das durfte nicht wahr sein! Ach, wenn sie doch nie wach geworden wäre! Dann hätte sie sich nicht der Wahrheit stellen müssen. Dieser schrecklichen Wahrheit.
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