40 | schwere Stille
| Harry |
Ich war schlecht darin, Stille auszuhalten. Vielleicht lag es also an mir, doch ich war mir sicher, dass mich diese Ruhe im Wagen jeden Moment erdrücken konnte.
Ich hatte mich nur mit Mühe durchsetzen und Emma dazu bewegen können, sich in meinen Wagen zu setzen. Emma hätte ich nur ungern das Steuer überlassen wollen. Bei ihrer Laune hatte ich ernsthafte Sorge, sie könnte uns direkt um den nächsten Baum wickeln — obwohl mir das bei der momentanen Stimmung in diesem Wagen als gar keine üble Alternative erschien.
Emma versuchte, gedankenverloren zu wirken und starrte aus dem Beifahrerfenster. Ihr angespannter Kiefer verriet sie allerdings. Sie war keineswegs gedankenverloren, stattdessen jagte sie gerade sämtlichen Geistern hinterher.
„Kannst du für die paar Stunden vergessen, dass du mich hasst?", sagte ich das Erste, das mir durch den Kopf schoss. Zum einen, weil mich diese Frage tatsächlich umtrieb, zum anderen, um endlich diese Stille zu durchbrechen.
„Wahrscheinlich hast du Glück. Immerhin kann ich nicht alle gleichzeitig hassen", erwiderte Emma missmutig. Das war nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, doch immerhin kein Nein. Allerdings hatte sich die erdrückende Stille sofort wieder ausgebreitet.
Sie war ohnehin schon mies gelaunt. Mir hingegen kam immer wieder der Gedanke, dass ich wohl kaum mehr etwas zu verlieren hatte. Es gab hier keine richtigen Fragen, entsprechend gab es auch keine falschen. Somit konnte ich all das aussprechen, was mir im Kopf herumgeisterte.
„Was ist denn mit deiner Mum passiert, wenn ich fragen darf?"
Ich spürte, dass Emma einen kurzen Blick zur Seite warf, um mich prüfend anzusehen. Sie wusste selbst nicht, wie sie zu mir stand. Das fühlte ich.
„Sie ist tot", antwortete sie knapp, mit einem Unterton, der deutlich machte, dass ihr bewusst war, dass ich das längst geahnt hatte.
„Und woran ist sie gestorben?"
Wieder sah sie mich zwiegespalten an, entschied sich aber einmal mehr dazu, mir zu antworten.
„Am Telefon sagte man etwas von Organversagen. Aber simpel gesagt, war es wohl eben einfach ihr Lebensstil."
Verstehend nickte ich. Auch das überraschte mich nicht. Zu gerne hätte ich gefragt, wie es ihr damit geht, doch das wusste Emma bestimmt selbst nicht.
„Und du bist also die Einzige —"
Dieses Mal fiel sie mir sogar wutgeladen ins Wort.
„Die Einzige, die dumm genug war, Spuren zu hinterlassen, die mich mit ihr in Verbindung bringen, ja. Und deswegen sitze ich jetzt schon wieder hier neben dir in diesem drecks Schlitten und fahr zu diesem gottverdammten Haus."
Ich behaupte gerne, dass ich ein geduldiger Mensch bin. Doch sobald Emma wieder still und diese erdrückende Ruhe wieder eingekehrt war, hörte ich meinen Geduldsfaden laut und deutlich reißen.
Ich konnte ihre Aggressionen nicht länger aushalten. Nicht, wenn ich sie abbekam, obwohl ich ausnahmsweise nicht das Geringste damit zu tun hatte, dass Emma gerade kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Abrupt lenkte ich den Wagen also in die nächste ruhige Seitenstraße und kam dort am Straßenrand zum Stehen.
„Was soll das denn? Ich weiß, eure Hoheit bewegt sich selten in dieser Gegend, aber wir sind noch nicht —"
„Herrgott, ich weiß, Emma. Wir sind noch ein paar Blocks entfernt, aber dir wird es bestimmt nicht schaden, ein kleines Stück zu laufen. Dann kannst du vielleicht endlich Mal tief Luft holen."
Mit diesen Worten hievte ich mich aus dem Wagen und warf die Tür hinter mir zu.
Die Straße, in der ich mein Auto abgestellt hatte, gehörte ebenfalls schon zu der Gegend, aus der Emma stammte. Ob ich meinen Wagen je wiedersehen würde, bezweifelte ich, doch auf kleinstem Raum Emmas Wut zu ertragen, war unmöglich.
„Bist du hier gerade sauer?", hörte ich schon wieder ihre aufgebrachte Stimme. Über das Autodach hinweg funkelte sie mich an. „Denkst du wirklich, du wärst in der Position dazu?"
„Nein, das denke ich nicht", antwortete ich ehrlich. „Aber ich weiß auch, dass ich hier gerade nicht das wirkliche Problem bin."
Augenrollend donnerte Emma die Autotür zu, als sie bemerkte, dass ich mich von dem Fahrzeug entfernte.
„Natürlich. Du bist ja nie das Problem", hörte ich sie noch meckern, als sie mir mit verschränkten Armen hinterhereilte. „Und die Sachen aus dem Haus sollen wir dann den ganzen Weg hierher schleppen?"
„Zur Not lass' ich dir einen Moment für dich, lauf' hierher zurück und hol den Wagen. Lass das einfach mal meine Sorge sein", gab ich zurück. Den ersten Teil ihrer Beschwerden ließ ich lieber unkommentiert.
Schnellen Schrittes holte Emma auf und stiefelte an mir vorbei.
„Das ist so dermaßen dämlich. Ich hoffe, er wird gestohlen", raunte sie vor sich hin, als wäre sie ein bockiges Kind.
Ich für meinen Teil konnte nur hoffen, dass diese Wut bald verrauchen würde.
Ich konnte nicht im Geringsten einschätzen, ob meine Aktionen in der Vergangenheit zu ihrem derzeitigen Zustand beigetragen hatten, oder ob es hier gerade tatsächlich ausschließlich um ihre Mutter ging. Früher oder später würde es aber gewiss aus ihr herausbrechen. Das hatte es bisher immer getan. Und ich war bereit, auch wenn ich dieses Mal keinen Boxsack oder ein Fitnessstudio parat hatte.
„Hättest du heute eigentlich nichts anderes zu tun?", hörte ich sie nach einigen Minuten des Schweigens und sturem Laufens fragen.
„Ich habe mir den Tag für dich freigehalten. Also nein", antwortete ich ehrlich — auch wenn Jeff das vermutlich anders sehen würde.
„Den ganzen Tag? Aber wir wollten uns doch nur kurz wegen der Bilder treffen."
„Ich wusste und habe wohl auch gehofft, dass es etwas länger dauern würde. Auch wenn ich das hier nicht habe kommen sehen und die Umstände schöner sein könnten, bin ich gerne hier."
„Hm", brummte Emma vor sich hin und nickte.
Es war kaum zu glauben, dass sie immer noch Zweifel daran hatte, wieviel sie mir bedeutete.
Stumm stapfte sie neben mir her und hing wohl wieder ihren Gedanken nach.
Kurz bevor das Haus ihrer Mutter in Sichtweite rückte, brach ich noch einmal die Stille.
„Sag mal, Emma... Willst du überhaupt irgendwelche Erinnerungen aus diesem Haus haben?"
Ohne mich anzusehen, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, zuckte sie mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Aber ich... ach. Nein, nein, eigentlich nicht", brummte sie vor sich hin.
Ich kannte diese Tonlage. Sie stand kurz vor einem Gefühlsausbruch. Nun galt es bloß, ihn in die richtige Richtung zu lenken — und das bedeutete alles, bloß nicht in meine Richtung.
„Sag's schon", bohrte ich vorsichtig nach. Doch das war ohnehin kaum nötig. Emma sah mich bereits mit leeren Augen an.
„Ich hoffe, dass ich dadurch irgendetwas fühle. Ich sollte doch irgendetwas fühlen, oder? Meine Mutter ist tot und ich bin einfach nur genervt davon."
„Nach eurer Vorgeschichte kann man wohl auch nicht erwarten, dass du direkt in Tränen ausbrichst. Aber bestimmt kommt das noch. Du brauchst eben, bis du deine Emotionen zulassen kannst. Das war..." Kurz stockte ich, doch nun gab es kein Zurück mehr. „Das war damals bei uns doch genauso."
Skeptisch warf sie mir einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts mehr dazu. Immerhin standen wir inzwischen beinahe vor der Bruchbude, in der wir vor einigen Monaten noch Emmas Mutter besucht hatten.
Es hatte schon damals gewirkt, als wäre es unbewohnt. Doch dieses Mal war es tatsächlich verlassen.
Ich ahnte nicht, wie sich Emma gerade fühlen musste. Kurz vor dem Grundstück blieb sie jedoch abrupt stehen. Als ich mich ihr zuwandte, ahnte ich, dass sich sehr wohl etwas in ihr zusammenbraute.
„Ich korrigiere. Ich bin doch nicht nur genervt vom Tod meiner Mutter. Ich bin auch — Ich bin so verdammt wütend, Harry. Warum bin ich denn so wütend?", gestand sie, ehe sie ihre Lippen fest aufeinanderpresste. Tatsächlich standen ihr vor Wut sogar Tränen in den Augen.
Endlich war sie an dem Punkt, an dem sie ihre Gefühle so an ihre Grenzen brachten, dass sie nicht mehr ausweichen konnte.
„Ich glaube, das weißt du selbst."
„Ja, natürlich weiß ich das!", erwiderte sie pampig. „Weil ich immer die dumme Hoffnung hatte, dass sie irgendwann doch noch Mutterinstinkte entwickelt und vielleicht doch noch zu einer Mutter wird. Und jetzt hat sie sich einfach so totgesoffen und... Sie hat es noch nicht mal versucht!"
Ohne lange darüber nachzudenken, legte ich sanft meine Hand an ihren Rücken.
„Weißt du... ein Gedanke, der mir immer hilft, ist der: Jeder Mensch tut immer sein Bestmögliches — ausnahmlos. Selbst deine Mutter hat immer das Bestmögliche getan."
„Willst du mich verarschen? Das war nichts. Sie hat nichts getan", entgegnete Emma und wischte sich die Wuttränen aus dem Augenwinkel.
„Vielleicht hast du das so empfunden, aber sie konnte eben nicht anders. Sie war die beste Mutter, die sie sein konnte. Sie wollte bestimmt nicht so sein und schon gar nicht, dass du dich alleine fühlst. Sie hat das getan, was sie tun konnte und so solltest du sie in Erinnerung behalten."
Erschöpft sah sie mich an, während ich ihr ein Taschentuch reichte.
„Ich hasse es, wenn du diese Momente hast und was Sinnvolles von dir gibst", raunte sie und rollte mit den Augen, als sie es entgegennahm. „Und seltsamerweise bin ich trotzdem froh, dass du hier bist. Ausgerechnet du. Seltsam, nicht?"
„Ich finde das gar nicht seltsam. Glaub mir, dass dir niemals jemand bewusst schaden wollte. Weder deine Familie noch ich. Ich wusste es auch einfach nicht besser", räumte ich offen ein. Ich wusste, dass das hier nicht der Moment war, um über diese ganze Sache mit Camille zu sprechen, doch ich musste ihr immerhin halbwegs mitteilen, dass ich immer für sie da sein wollte.
Vielleicht war es die furcheinflößende Ausstrahlung, die dieses Haus auf Emma hatte, doch wie durch ein Wunder spürte ich plötzlich ihre Hand an meiner.
„Immerhin heute hast du alles richtig gemacht", hörte ich sie leise seufzen, ehe sie sich langsam in Bewegung setze, um das Haus zu betreten und in Erinnerungen zu stöbern, die sie so lange nur verdrängen wollte.
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