20 | spontane Pläne
| Emma |
Toronto war Harrys letzte Show, in der sein erstes Soloalbum im Fokus stand. Die Secret Shows waren ein voller Erfolg gewesen. Die Fans hatten ständig wachsam auf der Lauer gelegen, da niemand wusste, wann kurzfristig die nächste Show stattfinden würde. Harry überraschte seine Fans und machte ihnen eine Freude mit seinen - zumindest für sie - spontanen und verhältnismäßig kleinen Konzerten.
Dieses Mal war Harry der Letzte, der in der Halle ankam und ließ auf sich warten. Er war sehr knapp aus London angereist, nachdem er dort noch einige wichtige Treffen gehabt hatte, wie man mir sagte.
„Man könnte fast meinen, Harry hätte auch nichts von diesem Konzert gewusst", lachte Jessica, als wir backstage auf ihn warteten. Sie kannte seine Tagesplanungen besser als jeder andere und konnte manchmal nur den Kopf schütteln. Deshalb war sie nun auch hier, während sich Harry noch auf dem Weg befand.
„Solltest du ihm als persönliche Assistentin nicht kaum von der Seite weichen?", fragte ich nach, während wir durch die Gänge schlenderten, auf der Suche nach Kaffee. Ohne Harry fehlte uns einfach beiden die Arbeit, obwohl ich bisher schon die ganze Crew fotografiert hatte.
Seufzend winkte Jessica ab.
„Er sagte, wir sollten uns hier an der Halle treffen. Er hat in London viel geschrieben und an neuen Songs gearbeitet, da kann er mich nicht brauchen. Rückblickend hätte ich wohl darauf bestehen sollen, ihn höchstpersönlich ins Flugzeug zu setzen. Aber am Ende tut er eh, was er will."
Ich lächelte. Dass Harry seine persönliche Assistentin nicht 24 Stunden am Tag bei sich haben wollte, hatte ich geahnt. Sie hatte vermutlich einen ebenso merkwürdigen Job wie ich, doch bestimmt schenkte ihr Harry auch ein unheimlich angenehmes Arbeitsumfeld. Schon an meinem ersten Tag war mir ihr lockerer Umgang miteinander aufgefallen. Es war wohl Harrys Art, sich um all die Menschen um ihn herum, zu kümmern - genauso, wie er es bei mir getan hatte.
„War es seine Idee, diese Secret Shows zu veranstalten?", fragte ich dann, was Jessica sofort lachend abnickte.
„Ich bin ja nie bei diesen ganzen Meetings dabei, aber er hat mir jedes Mal davon erzählt. Immer wieder haben sie ihm vorgerechnet, dass größere, angekündigte Shows mehr Geld bringen würden, aber Harry war überzeugt von diesem Konzept. Er überrascht die Leute eben gerne und der Erfolg gibt ihm Recht."
Wieder stand mir ein breites Lächeln im Gesicht. Auch das konnte ich mir vorstellen.
„Und am Ende haben sie eingewilligt?"
„Natürlich, es ist seine Karriere", antwortete Jessica. „Er könnte sich all diese Meetings jedes Mal sparen und direkt machen, was er will. Aber er hofft eben doch immer wieder, dass sein Team ihn irgendwann verstehen könnte. Ich sage es ihm jedes Mal. Er sitzt dort immer mit der Wirtschaft am Tisch, aber Harry steckt voll Kreativität und sitzt dort immer mit dem Herz in der Hand. Aber ich glaube, niemand dort schätzt das. Ich wünschte, der Junge hätte mal Leute an seiner Seite, die etwas mehr sind wie er."
Dieses Mal lächelte ich nicht. Genau deshalb hatte mich Harry vermutlich ins Boot geholt. Ich sollte diese „Leute an seiner Seite" sein.
„Aber er arbeitet doch auch mit Künstlern zusammen", wandte ich ein, doch Jessica winkte wieder seufzend ab.
„Ach, aber doch bloß in der Musik. Deswegen läuft seine Schreiberei auch jedes Mal hervorragend. Aber all das drumherum ist Wirtschaft und Marketing. Ich rede oft und viel mit Harry. Er will das alles als einheitliches Kunstwerk und ich hoffe, dass man ihn dort irgendwann nicht mehr versucht auszubremsen."
Jessica beeindruckte mich. Sie schien Harry gut zu kennen und auch wirklich das Beste für ihn zu wollen.
„Aber wie gesagt", setzte sie dann wieder ihr Lachen auf. „Am Ende macht er ohnehin, was er will. Er würde sich nur jedes Mal einige Umwege sparen."
Nur kurz darauf rauschte Harry an uns vorbei, auf dem Weg zu einem Turbo-Soundcheck, wie ihn selbst Jessica nach eigener Aussage selten erlebt hat. Alles an diesem Tag ging verdammt schnell. Ich bekam Harry kaum zu Gesicht, dafür aber vor dir Linse, was mir auch reichte. Auf den Bildern war keine Spur von Hektik oder Stress. Harry lächelte wie immer, wenn er auf der Bühne stand, war höflich den Mitarbeitern gegenüber und versprühte seinen Charme.
Ich hatte wirklich noch nie einen Menschen wie ihn getroffen.
Erst als er sich nach der Show müde neben mich auf das Sofa im Aufenhaltsraum warf, sah mich Harry zum ersten Mal bewusst an. Ich saß dort, hatte den Laptop auf den Beinen abgelegt und war darin vertieft, die Bilder durchzusehen und zu bearbeiten, als mich Harry aus meiner Arbeit riss.
„Hi, schön dich zu sehen", sagte er lächelnd und trocknete sich das Gesicht nochmal mit dem kleinen Handtuch in seinen Händen ab.
Kurz war ich unsicher, ob er denn noch von der Bühne verschwitzt war, oder doch frisch geduscht. Der Duftwolke zufolge war Letzteres der Fall.
„Auch schön, dich zu sehen", gab ich zurück. „Hast du's genossen? Das Ende einer Ära."
Interessiert sah ich ihn an. Immerhin war es heute das letzte Mal, dass er vorwiegend mit Songs seines ersten Soloalbums auf der Bühne stand.
„Ich glaube, ich habe HS1 gebührend verabschiedet", nickte er stolz. „Jetzt wird es Zeit für Neues. Und es ist kein Ende einer Ära, es ist ein fließender Übergang. Ich freue mich so sehr auf die neuen Songs. Ich liebe sie schon jetzt."
„Hast du denn schon Einiges?"
„Ja!", freute sich Harry. „Wir schreiben schon eine Weile und langsam nimmt es Gestalt an. Aber ich freue mich auch schon auf das ganze drumherum, was mich zu dir bringt."
Strahlend sah er mich an. „Was hältst du davon, wenn du mit nach Malibu kommst? Wir treffen uns dort mit einigen Leuten, brainstormen, finden Ideen und bauen uns unsere neue Ära, und auch gleich unsere neue Welt zusammen."
„Nach Malibu?"
Erstaunt sah ich Harry an. Es war nicht das erste Mal, dass ich seinetwegen Reisen sollte, aber zum ersten Mal sollte ich nicht zu einer seiner Shows fliegen, um ihn zu fotografieren, sondern um an dem Konzept zu arbeiten. Ein Job, von dem ich noch mehr bezweifelte, dafür qualifiziert zu sein, als dafür, seine Konzerte fotografisch zu begleiten.
Und noch dazu nach Malibu. Es lag nicht nur am anderen Ende der USA, es war auch tatsächlich der exakte Gegensatz zu dem, was ich bisher kannte - noch dazu Harrys Malibu. Noch gegensätzlicher könnte eine Welt gewiss nicht sein, verglichen mit der Bronx.
„Ja, ganz entspannt", erzählte Harry weiter. „Es ist ein großes Haus und es werden nicht allzu viele Leute dort sein. Bloß ein paar aus dem Kreativteam - und ich. Niemand wird dir dort auf die Nerven gehen. Wenn du Ruhe brauchst, hast du Ruhe. Einfach die Seele baumeln lassen, dann kommen die Ideen ganz von alleine."
Es war nicht nötig, mir diese Erfahrung schmackhaft zu machen, ich hatte innerlich längst zugesagt.
„Klar, gern", nickte ich. Ich wusste, dass ich mitkommen wollte, doch trotzdem graute mir bereits vor so vielem Neuen. Aber wie bereits bei meinem Job als Fotografin, hatte Harry etwas Beruhigendes an sich. Für niemanden und mit niemandem sonst wäre ich lieber über meinen Schatten gesprungen.
„Wann?"
„Ich bleibe noch zwei Tage hier, danach flieg ich nach LA. Ab dann werde ich dort sein. Du kannst zu uns stoßen, wann immer du willst. Sag Jessica Bescheid, sie kümmert sich um Flug, Fahrer und Sonstiges", antwortete Harry locker.
Das war verdammt bald. Ich sollte morgen früh zurück nach New York fliegen, müsste dort dann sofort meine Sachen packen und in zwei Tagen schon wieder nach LA fliegen. Für meinen ökologischen Fußabdruck hatte die Arbeit mit Harry wirklich nichts getan. Aber auf diese Weise hatte ich immerhin weniger Zeit, mich in diese kommende Zeit in Malibu hineinzusteigern.
„Das ist ziemlich spontan, aber ja", nickte ich einwilligend. „Gerne."
„So spontan kommt das nicht. Ich sag' dir schon die ganze Zeit, dass ich will, dass du mitarbeitest", grinste Harry breit. „Und dass du deinen Kellnerjob kündigen sollst, damit du für solche Ausflüge allzeit bereit bist."
„Na, dann hab ich ja alles richtig gemacht", erwiderte ich müde, aber lächelnd. Ich fragte mich, ob ich in seinem Team eine Sonderstellung haben würde, oder ob er mit jedem so umging. Immerhin hatten alle anderen, die mit uns in Malibu sein würden, vermutlich vorher davon gewusst und waren offiziell dorthin einbestellt worden. Ich bezweifelte, dass Harry jeden persönlich auf dem Sofa in einem Nebensatz dorthin eingeladen hatte.
„Genau wie ich", grinste Harry genauso breit und schwang sich schnell wieder auf die Beine. Bestimmt kam sein Wagen jeden Moment oder vielleicht war er sogar längst vor der Türe. Ich würde erst später mit dem Taxi wieder in mein Hotel fahren. Doch dann blieb Harry auf seinem Weg zur Tür noch einmal stehen.
„Geht's dir denn besser?", fragte er plötzlich Ich wusste auf der Stelle, wovon er sprach und worauf er hinauswollte - auf meine schlechte Laune in London, wegen der Nachricht meiner Mutter.
„Ja, ich hab' mich wieder beruhigt", antwortete ich ehrlich. Ich wusste, dass das Thema noch nicht vorbei war und ich mein Zuhause nicht einfach so abhaken konnte, doch derzeit schob ich das noch weit weg.
„Du warst also in der Zwischenzeit nicht bei deiner Mutter?", fragte Harry weiter.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Niemals wäre ich einfach so zu meiner Mutter gefahren. Jedes Mal war ich Tage vorher und noch Wochen nachher ein emotionales Wrack, wutgeladen und noch leichter reizbar als ohnehin schon, wenn ich diesen Schritt wagte. Aber trotzdem war ich immer wieder dort aufgetaucht, in der Hoffnung es würde sich etwas in meiner Familie ändern.
„Nein, bestimmt nicht", schüttelte ich stur den Kopf. Erstmal wollte ich mich auf anderes konzentrieren.
Interessiert nickte Harry.
„Das kommt bestimmt in Malibu nochmal hoch", sprach er seine Vermutung dann direkt aus und zuckte neutral mit den Schultern.
Ehe ich darauf reagieren konnte, war Harry bereits durch die Türe verschwunden. Perplex saß ich da und starrte wieder auf die Bilder auf meinem Laptop.
Selbst in diesen kurzen Begegnungen wusste Harry mein Leben über den Haufen zu werfen. Aber dieses Mal sollte ich ihn ohnehin schon bald wiedersehen. In wenigen Tagen in Malibu.
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