Unverabschiedbar (1)
Siobhan saß in der Badewanne. Das Wasser dampfte und der beruhigende Geruch nach Lavendel umwaberte sie. Sie zählte die Knubbel an ihrem Körper. Nach ihren ersten Gästen waren sie aufgetaucht. Erst bei ihrem fünften Gast waren sie ihr aufgefallen. Auch jetzt dachte sie noch gern an den verkannten Piratenkapitän zurück, der sie auf den Knubbel am Hals regelrecht gestoßen hatte, weil er mit seinem Messer reinpikste. Seitdem zählte sie jeden neuen Knubbel und alle in ihrer Gesamtheit bei den seltenen Momenten, wenn sie sich ein Bad gönnte. Es beruhigte sie an all die zu denken, für die sie ein Fels in der Brandung gewesen war. All jenen, denen sie helfen konnte, weiterzuziehen.
Siobhan seufzte. Ihr Traum war irgendwie in Erfüllung gegangen, dennoch war und blieb sie einsam. Isoliert. Nur mit der Gewissheit, dass sie nicht verschwinden würde. Nie sie. Niemals sie. Dafür all die anderen. Das Einzige, das von ihnen blieb. Knubbel. Erinnerungen. Knubbel und Erinnerungen waren so wenig im Vergleich zu all dem, was ihr ihre Gäste gegeben hatten. Aber besser als nichts. Sie tauchte unter. Blubberblasen stiegen auf. Als die Wasseroberfläche wieder still über ihr lag, schloss sie die Augen. Nun war alles dumpf. Das Wasser drückte auf ihre Ohren und ließ die Welt auf ganz eigene Weise verstummen. Ihren Herzschlag spürte sie mehr, als dass sie ihn hörte. Warum hatte sie nie darüber nachgedacht, wie seltsam es war, ein schlagendes Herz unter Toten zu haben? Irgendjemand ging draußen vor dem Bad vorbei, sie hörte die Schritte dröhnen. Ihre Lungen wurden eng und sie tauchte auf. Schnappte gierig nach Luft.
Das Wasser lief in plötzlich kühlen Sturzbächen über ihr Gesicht. Sie strich sich die Haare nach hinten aus dem Gesicht.
„Host do önö Mönotö?"
Überrascht schrie sie auf und schaute zu Roderick, der kaum einen Sprung weit entfernt von ihrer Badewanne stand. Er presste die wissenschaftliche Arbeit an seine Brust. Doch darunter blitzte seine beste – eine gelb-blau gepunktete- Fliege hervor. Oh, sie konnte sich denken, worauf er hinauswollte.
„Gib mir eine Minute. Ich zieh mir was Trockenes an."
„Goot, dö ondörön wortön ooch schon."
Es war also wirklich an der Zeit. Ihr Herz zog sich zusammen und ihr Magen krampfte. Die einzige Erleichterung, Roderick hatte die Nachricht schon den anderen mitgeteilt. Sie musste in dem Fall nicht mehr Mittlerin spielen. Siobhan stieg aus der Wanne, ließ das Wasser aus. Roderick drehte sich um und hüpfte aus dem Bad, während sie sich abtrocknete und ihren Flauschbademantel anzog. Ihre kurzen Haare ließ sie nach einem kurzen Trockenrubbeln in ihrer Naturform von ihrem Kopf abstehen.
Als sie aus der Badezimmertür hinaustrat, warteten die anderen Gäste schon auf sie. Roderick stand von allen umringt in der Mitte der Leb-Bar. Boris umklammerte einen Packen loser Zettel. Er hielt sie so fest, dass sie in der Mitte knickten. Kri hatte ihr Schwert dabei und balancierte es locker auf ihrer Schulter. Dir schwebte leicht über dem Boden. Würde er nicht „Roderick weg. Dir da. Roderick weg, Dir da" flüstern, hätte er wie ein unbeteiligter Schatten ausgesehen. Siobhan schluckte und schniefte in den Bademantelärmel. Egal wie oft sie schon eine Abschiedprozedur erlebt hatte, es wurde nie leichter.
„Sind alle bereit?", fragte sie zuerst in die Runde. Boris nickte, auch wenn seine Augen in Tränen schwammen. Kri und Dir verzogen keine Miene.
Dann wandte sie sich an den Magenbrüterfrosch. „Du bist bereit?"
Er quakte: „Jo." und übergab ihr den wissenschaftlichen Bericht. Der Grund, weshalb er weiterziehen konnte.
„Du bist dir sicher?", hakte sie nach. Er nickte und sie nahm ihm die Arbeit ab. „Dann gehen wir hinters Haus."
Siobhan führte diese kleine Abschiedsparade an, obwohl sie viel lieber als Letzte gegangen wär, um sich das Bild von ihnen allen zusammen, einprägen zu können. Sobald Roderick weitergezogen war, würden sie nie wieder in dieser Konstellation zusammen sein.
„Das weißt du. Das denkst du dir jedes Mal. Ja, wir werden nie wieder so beisammen sein, aber es kommen Neue nach und die würdest du sonst nicht so kennenlernen können, würde sich nichts ändern", sagte sie sich. Die Leb-Bar war für alle immer nur ein temporärer Verbleib und das war gut so. Für sie und die anderen, denn würden hier nicht ihre Gäste durchziehen und sich ändern, wäre das schlimmer als ihre Krankheitstage. Denn sie würde in diesem Raum ohne Veränderung auf ewig feststecken, ohne die Aussicht, irgendwann sterben zu können. Siobhan seufzte und schaute über die Schulter zu Roderick.
Der Magenbrüterfrosch überreichte gerade Boris die Fliege, die er um den Hals getragen hatte. Das war seine zweitliebste gewesen. Er hatte immer gesagt, das Grün und die dunklen Gräser erinnerten ihn an seine Heimat. Kri trug auch eine Fliege als Haarreif. Das war die orangene mit den pinken Fliegen. „Eine Fliege aus Fliegen", amüsierte sich Siobhan.
Sie verließen die Leb-Bar durch die Eingangstür. Siobhans Brust zog sich bei diesem Anblick immer zusammen in einer Mischung aus Sehnsucht und Unwohlsein. Die unendliche Weite des Gerstenfeldes bedrückte und befreite sie. Egal wann sie hinausging, stand es immer in voller Ähre und wogte in Wellen. Eine unsichtbare Sonne warf ihr goldenes Licht auf die Gräser und gab ihnen einen Schimmer, der nur durch das Graublau des Himmels verstärkt wurde. Wolkenlos lag er auch jetzt vor ihnen. Das einzige Geräusch war das ferne Rauschen des Lebenswasserfalls. Auf dieses steuerten sie nun auch zu, als die Truppe sich nach links wandte und einen Trampelpfad ums Haus folgte.
Roderick hüpfte neben sie. „Öch hobö och wos för döch."
Er zog die Fliege, die er unter seinem Maul trug, aus und reichte sie ihr. Es war sein liebstes Modell. Das tiefe Violett war seine Lieblingsfarbe, seit er sie zum ersten Mal bei ihr in der Leb-Bar erblickt hatte. Damals war Steffi, das Stiefmütterchen für einige Zeit ihr Gast gewesen. Ihr Blütenkleid hatte eben diese Farbe gehabt. Mit fahrigen Fingern nahm sie die Fliege an. Ihre Augen tränten und sie schniefte. Selbst wenn sie Worte gefunden hätte, wäre ihre Kehle zu eng gewesen, um sie auszusprechen. Sie nickte und drückte die Fliege an ihre Brust. Roderick nickte auch, seine Augen ebenso feucht. Dann hüpfte er voraus. So nackt, wie er damals in ihre Bar gestolpert war.
Der Lebenswasserfall tauchte vor ihnen auf. Bis auf das Tosen des Wassers, das in unendlichem Graublau verschwand, war nichts zu hören. Selbst ihre Gedanken verstummten vor dieser gewaltigen Übernaturgewalt. Roderick war bis zu einem der zwei riesigen Felsen, die den Lebenswasserfall sein Tor in die nächste Etappe bildeten, gehüpft. Er klammerte sich an dem nassen Stein fest und drehte sich zu ihnen um. Obwohl das Wasser so laut donnerte, spritzte die Gischt sie nicht nass. Als hätte der Tod zwar verstanden, wie laut Wassermassen sein können, doch dass die Nässe das Ausschlaggebende war.
Eine klamme Hand schlüpfte in ihre und sie sah hinunter. Boris war neben sie getreten und drückte ihre Hand, als hinge sein Nachleben davon ab. Sie drückte zurück. Er wedelte mit einem Stück Papier, das er vorhin schon an sich gedrückt hatte, vor ihrem Gesicht. Sie zog die Augenbrauen zusammen und nickte zu dem Papier. Hoffentlich verstand er ihre unausgesprochene Frage.
Tat er nicht, denn im nächsten Moment löste er sich von ihr und lief zu Roderick. Keine gute Idee. Wenn es auch nicht glitschig war, so war der Sog des Lebenswasserfalls dennoch sehr stark. Schließlich wollte die unerklärliche Magie darin, dass die Toten auch wirklich tot waren. Deshalb kam sie immer nur her, wenn jemand bereit war, weiterzuziehen. Die anderen begleiteten zwar, um Abschied zu nehmen, aber hielten sich normalerweise fern vom Sog. Vielleicht weil sie ihn spürten, aber es sich nicht richtig anfühlte, ihm nachzugeben. Siobhan wusste es nicht und hatte auch noch nie gefragt.
Doch Boris brach nun diese unausgesprochene Regel. Er rannte auf Roderick zu. Hatte ihn schon fast erreicht, als ... Siobhan sah den Moment, als der Sog ihn erwischte. Gerade noch trieben ihn seine Füße an, im nächsten wurden sie ihm unter seinem Körper gerissen. Der Schrei entfloh ungehört seinen Lippen, als er auf den Abgrund zutrudelte. Roderick sprang vor. Er bekam ihn an der Brust zu fassen, quetschte seine Beine zwischen sich und Boris. Dann drückte er den kleinen Körper mit aller Kraft von sich. Er wollte ihn in Sicherheit katapultieren!
Siobhan hechtete vor. Das Tosen war nun so laut, es vibrierte in ihrem Innersten. Boris fiel ihr entgegen und sie streckte ihre Arme aus. Doch der Sog hatte ihn noch nicht freigegeben und zog ihn bereits wieder zurück. Siobhan warf sich vor und bekam einen Ärmel zu fassen. Sie zog und riss, bis aus dem Ärmel ein Oberarm und schließlich Boris' gesamter Körper wurde. Ihre Beine rutschten, doch sie stand noch und als sie rückwärtsging, bemerkte sie die Schatten. Dir umschlang ihre Mitte und ein weiterer Blick nach hinten verriet ihr, dass Kri ihr Schwert in den Boden gerammt und Dir auch darum Schatten gewunden hatte. Ihre Gäste stellten sicher, dass keiner zu früh den Lebenswasserfall hinunterfiel.
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