Finn: "Remember and Forget" von thetasteoftears2022
Es geht in die leicht vom Steampunk angehauchte Welt des 20. Jahrhunderts und in die des Professors James Relish. Entführerin des Tages ist thetasteoftears2022. Dann los geht es.
1. Die Äußerlichkeiten (5/100)
Titel (2/2)
Ich muss gestehen, ich war nach dem Titel erst einmal überrascht, was für eine Geschichte mich erwartet hat. Nur basierend darauf hätte ich eine Art Liebes- oder Selbstfindungsdrama erwartet. Das war nicht der Fall, das würde ich dir aber auch nicht als Kritik auslegen. Da du dich allerdings thematisch doch eher in einem ernsthaften, erwachsenen Genre bewegst, würde ich dir tatsächlich tendenziell einen deutschen Titel nahelegen. Englische Titel sind vor allem gängig in Jugendliteratur oder im Romanzenbereich. Aber das mag auch eher persönlicher Eindruck sein, dafür ziehe ich dir unter keinen Umständen Punkte ab.
Klappentext (2/3)
An sich gefällt mir dein Klappentext gut. Du fängst die Atmosphäre in deinem Buch gekonnt ein und auch das, worum es geht, ohne zu sehr zu spoilern. Allerdings gibt es zwei kleine Sachen, die mich stören. Erstens: Die exzessiven Gedankenstriche. Die armen Dinger sind keine Rudeltiere. An der Stelle würden es auch Auslassungspunkte oder ein Absatz tun. Zweitens: Nach hinten rutschst du etwas mehr in die Nacherzählung, und das auch in einem sehr langen Satz. Hier würde ich mir an deiner Stelle überlegen, ob es vielleicht gut wäre, hier etwas zu kürzen - sei es inhaltlich oder zumindest die Sätze.
2. Das Gerüst (12/15)
Struktur (4/5): Deine Geschichte war in einer Hinsicht eine Premiere: Sie ist ein Briefroman. Definitiv eine spannende Entscheidung und wirklich gut umgesetzt. In dem Zusammenhang könntest du für mein Empfinden allerdings darüber nachdenken, wie realistisch es ist, Dialoge eins zu eins wiederzugeben. An der Stelle ist das aber eher Geschmackssache. Du hast mir am Anfang gesagt, dass du dich manchmal in langen Sätzen verstrickst. Das ist mir tatsächlich auch aufgefallen - aber es nimmt bei weitem keine Überhand, von daher nur das eine kleine Pünktchen Abzug an dieser Stelle. Wenn du das weiterhin im Auge hast, bin ich mir sicher, dass du es bald "in den Griff" bekommen wirst.
Rechtschreibung (5/5): Hier mache ich es kurz. Keinerlei Beschwerden, kleine Tippfehler passieren echt jedem.
Schreibliches Handwerkzeug (3/5): An der Stelle halte ich normalerweise gerne einen kleinen Monolog über Show-don't-Tell. In deinem Fall sind aber natürlich die Bedingungen etwas anders, weil es so gesehen in einem Briefroman per Definition nur Telling gibt. Also konzentrieren wir uns auf James' Emotionen und darauf, wie du sie herübergebracht hast. Du beschreibst hier ausführlich bis ausschweifend (zumindest stellenweise). Und an der Stelle würde ich gerne über Pacing sprechen. Ausführliche Beschreibungen sind sehr häufig Geschmackssache, aber sie werden problematisch, wenn sie das Pacing klauen. Das ist dir gelegentlich passiert. Natürlich trauert James am Anfang um seine Frau und natürlich ermordet er Lord Fernsby nicht leichtfertig. Aber wenn die Gedanken sich dann über mehrere Absätze ziehen, kann es passieren, dass man sie irgendwann nur noch überfliegt, um wieder zu dem Handlungspart zu kommen. Von daher würde ich dir an der Stelle raten, noch einmal genau über deine Geschichte zu gehen und dir ganz konkret überlegen, wann die Handlung stressgeladen oder zügig passiert. An diesen Stellen könntest du dann auch das Erzähltempo etwas steigern.
3. Der Antrieb (23/40)
Prämisse (8/10): An der Stelle würde ich gerne zwischen zwei Prämissenbestandteilen unterscheiden. Prämisse 1: Aus dem Nichts taucht ein Vulkan in der Mitte von James' Heimatdorf auf, zerstört es und tötet seine Frau, nachdem der herrschende Lord in der Gegend entschieden hat, dass das Dorf ihm nichts einbringt. Prämisse 2: Nachdem James seine Lebensgrundlage und seine geliebte Frau verloren hat, muss er sich allein durch dei Welt schlagen, was ihm nicht im Geringsten leichtfällt.
Die zweite Prämisse finde ich großartig, das habe ich so noch nicht oft gelesen und es bietet sehr viel Entwicklungspotential. Die erste Prämisse finde ich ehrlich gesagt ... nicht so gut. Dazu gleich in der Handlungslogik mehr. Aber tendenziell finde ich die zweite Prämisse bedeutsamer, weil sie mehr bestimmt, wie es weitergeht und die Geschicht prägt. Deswegen würde ich dir in der Kategorie acht Punkte geben. Die Idee ist ungewöhnlich und sie ist spannend, da hast du dir auch die Punkte dafür verdient.
Handlungslogik (7/20): Hier kommen wir zu dem größten Kritikpunkt an deiner Geschichte. Ich habe es eben bei den zwei Prämissen schon einmal angesprochen, aber insbesondere am Anfang habe ich mit deiner Geschichte so einige Glaubwürdigkeitsprobleme.
1. Das ist nicht, wie Vulkanausbrüche funktionieren. So viel mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen, aber ... nein. Nein. Außerdem, und das ist vielleicht ein eher nebensächlicher Punkt, passt es für mich nicht so sehr in den Ton deiner Geschichte. Die Geschehnisse sind sehr klein, sehr persönlich, aber dafür intensiv. Da passt es für mein Empfinden nicht, das erste Kapitel mit etwas so Großem, Epischem wie einem Vulkanausbruch zu beginnen. Insbesondere, da der als solcher im späteren Verlauf eigentlich keine Konsequenz mehr hat.
2. Stellenweise war ich mir nicht sicher, in welcher Zeit du deine Geschichte platzieren möchtest. Hier solltest du dich glaube ich entscheiden oder, wie du in einer Nachricht an mich geschrieben hast, die Handlung einfach abseits unserer Welt spielen lassen, um dich hier nicht in Widersprüchen zu verstricken. Ich glaube aber, dass dir dieser Punkt ohnehin schon bewusst ist, deswegen möchte ich eigentlich nicht weiter darauf eingehen.
2. Ich fand James' Rachetrip gegenüber Lord Fernsby an sich glaubwürdig. Was mich ein wenig gestört hat, war die Umsetzung. Ein Adeliger hat keine Wachen an seiner Tür, jeder darf einfach hineinspazieren. Und trotzdem ruft er erst einmal nach einer Wache, als er sich mit James konfrontiert sieht? Dazu kommt noch, dass ich die Beschreibung der Art und Weise, wie James ihn letztendlich umbringt, mich dann doch irritiert hat. Ich würde behaupten, ein Brustkorb ist dann doch so stabil, dass man nicht mehr oder weniger aus Versehen eine Klinge hineinstoßen kann. Schon gar nicht, ohne auszuholen.
3. Es gibt dann doch viele Personen, die sich so verhalten oder so auftauchen, wie es für deine Geschichte von nutzen ist. Dazu zählt einmal derjenige, der den Anschlag auf Edevan Industries verübt. Dort lässt er, zufällig oder absichtlich, eine Visitenkarte fallen? Ganz unabhängig davon, dass ich das für die Zeit nicht ganz passend finde ... warum? Und das ist doch sehr passend, dass ausgerechnet James sie findet, der Mann, der sowieso schon gezeigt hat, dass er zu morden bereit ist. Mein Hauptkritikpunkt ist aber nicht diese Stelle, sondern Mister Edevan selbst. Er weiß immer, wo James zu finden ist. Er taucht immer genau zum richtigen Moment auf, ohne dass jemals reflektiert wird, woher sein Wissen kommt. Das macht es zu dem Zeitpunkt für mich leider unglaubwürdig.
Ganz im Allgemeinen habe ich das Gefühl, dass du es James handlungstechnisch etwas zu leicht machst. Mir gefällt, wohin seine Entwicklung geht (dazu weiter unten mehr), nur das Wie lässt meiner Meinung noch Raum nach oben. Es passiert immer genau das, was ihn zum nächsten Punkt bringt, und er bekommt genau die richtigen Weichen gestellt. Bitte versteh mich nicht falsch, ich weiß, dass er nicht der aktive Charakter ist, aber es läuft für mich dann doch zu flüssig. Die Ereignisse reihen sich sehr aneinander, ohnen dass ein anderes ernsthafte Konsequenzen hat.
Spannungsbogen (8/10): Wie du vielleicht gemerkt hast, habe ich hier gegenüber meinem normalen Muster weniger Punkte auf den Spannungsbogen und dafür mehr auf die Logik gesetzt. Der Grund dafür ist, dass ich finde, dass ein klassischer Spannungsbogen auf deine Geschichte nicht wirklich anwendbar ist. James verfolgt keine Mission, es gibt keinen übergreifenden Bösewicht (außer vielleicht ihm selbst) oder einen zentralen externen Konflikt - was hier aber absolut keine Kritik ist. Es geht um James selbst, um seine Abwärtsspirale und die Menschen, die trotz allem versuchen, ihn da herauszuhalten. Und dieser Aufbau funktioniert für mein Empfinden durchaus, ich habe festgestellt, dass ich immer auf der virtuellen Kante meines Stuhls saß, weil ich Angst hatte, dass James das nächste Mal austickt. Die zwei Pünktchen Abzug an der Stelle greifen eigentlich mit meinen anderen Anmerkungen in diesem Abschnitt wieder auf: Dadurch, dass die einzelnen Abschnitte für mich bisher keine erkennbaren langfristigen Konsequenzen hatten bzw. Mister Edevan immer aufgetaucht ist, um James aus der Misere zu helfen, ist das richtige Gefühl der Bedrohung nicht aufgekommen.
4. Die Seele (31/40)
Charakterisierung (16/20)
Hier möchte ich zuerst einmal deine Fähigkeit lobend hervorheben, in kürzester Zeit (Neben-)Figuren zu charakterisieren und ein Bild vor den Augen deiner Leser entstehen zu lassen. Da denke ich beispielsweise an das Nicken von Miss Dalory. Wenn ich mir sonst nichts über sie gemerkt hätte - an dem Nicken hätte ich sie wiedererkannt. Und das gilt für viele Nebencharaktere, also ganz großes "gut gemacht" an der Stelle.
Kommen wir also auf James zu sprechen. Ich bin bei ihm ein wenig hin und her gerissen. In der Hinsicht - und das ist unbedeutend für die Kritik als solche - hätte ich aber eine Frage: Ist es geplant, dass man ihn als Leser nicht ausstehen kann? Falls ja, hast du zumindest für mich eine großartige Arbeit geleistet. Er ist selbstgerecht, opportunistisch und stellenweise grausam, dabei aber immer noch so selbstmitleidig, dass er es selbst gar nicht merkt. Wenn man eine gelungene Charakterisierung daran festmacht, dass du bei Lesern Emotionen zu deinem Charakter hervorrufst - das hast du zumindest bei mir geschafft. Und klare Eigenschaften, größtenteils schlechte, kann man ihm auch zuschreiben.
Nur teilweise wünschte ich mir noch, James etwas besser verstehen zu können. Ich weiß nicht, wie er tatsächlich über seine Arbeit bei Mister Edevan denkt, ob er sich stellenweise Schuldgefühlen ausgesetzt sieht, ob er irgendwelche Ziele im Leben hat. Er akzeptiert einfach immer, was ist. Aber für mich wird nicht klar, ob das passiert, weil er die Sinnhaftigkeit darin, sich über etwas Gedanken zu machen, nicht sieht, oder weil er resigniert ist. Dann stellst du ihn teilweise als sehr intelligenten Menschen dar, immerhin ist er Professor, andererseits hat er Sorgen wie dass er sich wieder einen Arm brechen könnte, sollte er zum wiederholten Male versuchen, sich umzubringen. Ich glaube, an solchen Stellen könntest du dich trauen, noch etwas mehr in die Tiefe zu gehen - sei es, indem du mehr über James beschreibst, oder indem du dir über diese Punkte erst einmal Gedanken machst.
Grundsätzlich ist er aber auf jeden Fall ein spannender, ungewöhnlicher Charakter, dessen Reise faszinierend zu verfolgen ist.
Charakterlogik (15/20)
Hauptthema hier ist einmal mehr Mister Edevan. Wir erfahren später, dass er James hilft, weil (SPOILER ANFANG) er ihn an verloren gegangene Familie erinnert (SPOILER ENDE). Das an sich finde ich eine spannende und auch plausible Motivation, allerdings wird sie für mein Empfinden dann doch recht schnell recht dünn. Mister Edevan weiß, dass James mehrfach gemordet hat, dass er versucht hat, sich umzubringen, aber er steht so unerschütterlich an seiner Seite, als würde die beiden eine jahrelange Freundschaft verbinden. Hilfsbereitschaft ist eine Sache, Aufopferung und Risikobereitschaft für eine Person die andere. Hier müsstest du meiner Meinung nach noch einmal tiefer greifen (vielleicht passiert das ja noch in von mir nicht gelesenen Kapiteln) und Mister Edevans Motivationen näher erklären.
Hier über James etwas zu schreiben fällt mir aus den oben genannnten Gründen schwer. Ich bin mir zwar sicher, dass ich ihn nicht leiden kann, aber ich bin mir nicht sicher, ob seine Entscheidungen und Handlungen im Einklang mit seiner Charakterisierung sind, weil er kaum Entscheidungen trifft. Es fällt mir schwer, seine Gründe nachzuvollziehen, weswegen ich auch schwer sagen kann, ob sie einer Logik folgen - und sei es der Prämisse, dass James langsam wahnsinnig wird und deswegen keine schlüssigen Entscheidungen mehr treffen kann. Hier könnte die Charakterisierung einfach noch etwas mehr Klarheit vertragen.
Aber, bei aller Kritik: Ich kann sehen, dass du dir Gedanken über die Charaktere und ihre Motivationen gemacht hast. Das tritt auch zutage und das, was ich in diesem Abschnitt anmerke, ist schon Kritik auf hohem Niveau. Ich möchte nur, dass du auch nachvollziehen kannst, woher die Punktabzüge kommen.
Fazit (71/100)
Grundsätzlich muss ich sagen: Ich ziehe meinen virtuellen Hut vor dir. Du bist 14. Ich weiß, das klingt jetzt altklug, aber das ist wahnsinnig jung, um schon so gut zu schreiben, wie du das tust. Ich habe schon diverse Geschichten von 14-jährigen gelesen und die meisten bleiben weit hinter deinem Niveau zurück, stilistisch und insbesondere thematisch. Sehe ich insbesondere im logischen Bereich noch etwas Verbesserungsbedarf? Ja, schon. Aber du schreibst wirklich sehr fortgeschritten für dein Alter - bleib da unbedingt dran.
Und sonst - alles weitere verlegen wir in die Kommentare. Oder noch besser, schaut einfach mal bei Remember and Forget vorbei und schreibt dann eure Meinung in die Kommentare.
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