Z W Ö L F
Ich werde schließlich wach, weil irgendjemand schnarcht. Laut. Sehr laut.
Langsam öffne ich die Augen und blinzele dem Licht des Laptops entgegen. Ein paar Mal reibe ich mir die Augen, bis sie sich schließlich an die Helligkeit gewöhnt haben. Erst dann fällt mir auf, dass mein Kopf auf etwas liegt. Und es ist garantiert nicht das Bett. Als ich eingeschlafen bin, muss mein Kopf auf Henrys Schulter gefallen sein, denn genau dort befindet er sich jetzt. Henry selbst schläft auch tief und fest, das Schnarchen geht von ihm aus. Zuerst will ich mich so schnell wie möglich aufsetzen, so tun, als wäre das gerade nicht passiert.
Was ist dein verdammtes Problem, Olivia? Ihr seid beide eingeschlafen, dabei habt ihr irgendwie ungewollt gekuschelt. Ist doch gar kein Ding, bei guten Freunden ist sowas doch völlig normal.
Meine innere Stimme hat ausnahmsweise mal recht. Hier, in dieser Welt, nimmt Henry wohl die Rolle meines besten Freundes ein.
Hör auf, dich selbst zu belügen, er nimmt nicht einfach nur eine Rolle ein. Du magst ihn wirklich, er ist wirklich dein bester Freund, egal in welcher Welt.
Dieses Mal möchte ich die Stimme zum Schweigen bringen, aber wenn ich tief in mich hineinhorche, weiß ich, dass sie ins Schwarze getroffen hat. Alles, was ich für Henry empfinde, ist tiefste, reinste Zuneigung. In so kurzer Zeit, obwohl ich weiß, dass er nicht real ist.
Aber er fühlt sich so echt an, mein Kopf auf seiner Schulter wirkt so... wirklich. Eigentlich möchte ich das auch nicht hinterfragen, viel mehr einfach hinnehmen, dass er in dieser aussichtslosen Situation mein Anker ist, denn auf Lydia kann ich nicht zählen. Meiner Meinung nach passt sie viel besser in dieses Geschehen, als Henry.
Wie kann es sein, dass ein fiktiver Charakter sich echter anfühlt, als meine reale beste Freundin? Es ist, als hätte sie die echte Realität irgendwie vergessen...
Henry regt sich lautstark, dann entzieht er mir blitzartig die Schulter und landet auf der Seite. Ich kann gerade noch so den Laptop vorm Runterfallen bewahren. Nachdem ich ihn in Sicherheit gebracht habe, starre ich Henry fassungslos an. Da liegt er, tief und fest schlafend, die Decke nun bis ins Gesicht gezogen. In meinem Bett. Wow. Kurz überlege ich, ihn zu wecken, entscheide mich dann aber doch dagegen. Genug Platz habe ich ja, und Amy ist sowieso nicht anwesend.
Zugegeben hab ich auch ein wenig Angst hier alleine. Normalerweise macht mir Einsamkeit und Dunkelheit nichts aus, aber in diesem großen Haus mitten im Nirgendwo, ist das schon ein wenig befremdlich. Und wer weiß, was Nickelson noch für Ereignisse in das Buch eingebaut hat, Einbruch traue ich ihr auch zu. Aber dann hätte Lydia mich sicherlich gewarnt. Wobei, bei ihr weiß ich das im Moment auch nicht so genau...
Ich will mich vorsichtig zu Henry legen, als mir auffällt, dass seine Brille Bock immer schief auf seiner Nase hängt. Ganz langsam versuche ich, sie ihm abzunehmen und als gerade denke, dass es mir gelungen ist, schlägt er blitzartig die Augen auf und ich ziehe meine Hand schnell zurück, sodass die Brille zwischen uns auf die Matratze plumpst.
Vielleicht täusche ich mich, aber es sieht aus, als würde Henry die Mundwinkel zu einem leichten Schmunzeln nach oben ziehen. Das, und wie er so daliegt, verleiht ihm ein wenig das Aussehen eines kleinen Jungen, irgendwie süß.
Alles klar Olivia.
„Bin ich eingeschlafen?", murmelt er schließlich.
„Wir beide."
„Aber offensichtlich bist du zuerst aufgewacht."
„Ja, weil du so laut schnarchst wie eine Kettensäge."
„Oh. Ups.", Henry wird ein bisschen rot, zumindestens meine ich, das bei dem schwachen Licht zu erkennen.
„Wieso hast du mich nicht geweckt?"
Ich zucke die Schultern.
„Keine Ahnung, du hast so friedlich ausgesehen, da wollte ich dich einfach schlafen lassen. Mich hätte es nicht gestört, mit dir in einem Bett zu schlafen."
„Du meinst, mit mir zu schlafen.", er wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, woraufhin ich ihm einen Schlag gegen die Schulter verpasse.
„Träum weiter.", lache ich und spüre, dass meine Wangen heiß werden. Warum zum Teufel werden meine Wangen heiß?
„Willst du, dass ich gehe?", fragt er schließlich und blickt mich ernst an, als würde irgendetwas von meiner Antwort abhängen.
„Nein, also ja also nein. Es ist mir egal. Du kannst bleiben. Es... mich stört das nicht.", stottere ich mir zusammen. Warum stottere ich?
Henry lächelt breit und legt seine Brille auf den Nachtschrank.
„Wenn das so ist, dann lass uns gleich weiterschlafen, ich bin hundemüde.", damit kuschelt er sich wieder unter die Decke.
„Gute Nacht, Livvy, träum süß."
„Ja. Du auch.", antworte ich, schalte die Lichterkette aus und kuschele mich ebenfalls ein. Obwohl ich müde bin, kann ich nicht sofort schlafen. Ich wälze mich hin und her, bin irgendwie hibbelig und aufgekratzt, fühle mich gleichzeitig glücklich, kann aber nicht sagen, was mit mir los ist.
Nach einer guten halben Stunde, die ich mit leerem Blick an die Wand starrend verbracht habe, drehe ich Henry, der schon ruhig und gleichmäßig atmet, zum Glück aber nicht schnarcht, den Rücken zu und versuche still zu liegen. Wirklich ruhiger werde ich aber nicht.
Plötzlich nehme ich wahr, dass Henry sich bewegt, bis ich dann seinen Körper an meinem Rücken spüre. Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen kann, wirft er schlaftrunken seinen Arm über mich und ich spüre seinen Atem in meinem Nacken.
„Henry, was machst du da?", flüstere ich in die Dunkelheit, aber er schläft tief und fest.
Okay. Okay.
Ich habe zwei Möglichkeiten. Entweder, ich entferne ihn von mir und riskiere, ihn erneut zu wecken, oder ich lasse ihn einfach da, wo er ist und irgendwann im Laufe der Nacht wird er sich schon selbstständig drehen.
Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für Letzteres. Hauptsächlich, weil ich ihm diesen peinlichen Du-hast-mich-im-Schlaf-angemacht-Moment ersparen will, aber auch, weil ich jetzt gezwungen bin, still zu liegen. Und wenn ich nicht schlafen kann, dann kann ich ihn immer ich aufwecken.
Ich lasse also alles wie es ist und schließe die Augen. Alles ist still, nur Henrys warmen Atem in meinem Nacken nehme ich wahr, wie er fast zärtlich über meine Haut streicht. Außerdem sein Herzschlag in meinem Rücken, der mir Ruhe gibt. Fast habe ich das Gefühl, dass sich mein Herzschlag seinem anpasst, genauso ruhig und langsam wird. Sein Körper wärmt mich, gibt mir ein wohliges Gefühl, sodass ich schläfrig werde.
Als seine Finger sanft und kaum merklich über meinen Arm streicheln, bin ich schon unwiderruflich im Land der Träume gefangen.
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