Kapitel 9
Amara
Ein anstrengender Morgen liegt hinter mir. Ein Fotoshooting mag auf den ersten Blick nichts sein, was mit einem Job zu vergleichen ist, der schwere körperliche Arbeit mit sich bringt. Dennoch ist das stundenlange Posen herausfordernd. Gerade dann, wenn ein perfektionistisch veranlagter Fotograf am Set ist und auch nach vier Stunden nicht genug Bilder geschossen hat.
Irgendwann hat meine Managerin Katie glücklicherweise einen Schlussstrich gezogen. Meine Füße schmerzen von den High Heels und mein Kopf dröhnt vom ganzen Styling und den Hochsteckfrisuren, die eine Stylistin passend zum Look gesteckt hat.
Nun hängt mein Magen derartig auf dem Boden, dass ich mich auf dem Weg in mein Lieblingsrestaurant mache. Nach dem Tag habe ich mir ein spätes Mittagessen definitiv verdient. Allein essen zu gehen mag für andere vielleicht befremdlich wirken, jedoch kann ich in der Zeit meine Mails lesen und beantworten. Somit muss ich mich damit am Abend nicht weiter beschäftigen, sondern kann meine Zeit anders nutzen.
Die Straßen Londons sind wie immer gut gefüllt. Viele Touristen sind unterwegs, schauen weder auf die Straße, noch geradeaus, weil sie damit beschäftigt sind, Fotos zu knipsen, die sie nach ihrer Reise ihren Verwandten und Freunden zeigen können. Die berühmten roten Doppeldeckerbusse sind ebenfalls immer wieder zu sehen.
Ich stelle fest, dass der Verkehr heute schrecklich voll ist, und bin froh, dass ich meine Wohnung nicht allzu weit entfernt ist. Einer der Vorteile, wenn man sich eine Wohnung in Londons Stadtmitte leisten und von dort das Meiste zu Fuß erreichen kann.
Ab und an gehe ich ein paar Menschen aus dem Weg. Manchmal werde ich angerempelt. Es ist nichts Neues für mich – schließlich will jeder sein Ziel erreichen.
So geht es mir auch, denn ein weiteres Knurren meines Magens macht sich bemerkbar.
Glücklicherweise erreiche ich das Lokal in den nächsten fünf Minuten. Ich warte einen kurzen Augenblick auf einen Kellner namens Timothy, der mir bereits bekannt ist und mich sofort zu einem Tisch gibt.
Als er mich an verschiedenen Tischen vorbeiführt, entdecke ich nicht viele Menschen. Ab und an ist ein Tisch besetzt, doch die meisten achten nicht darauf, was um sie herum passiert. Ein paar Männer im Anzug sitzen am Tisch, ebenfalls vor ihren Laptops. Vermutlich handelt es sich um ein Businessmeeting, das bei gutem Essen die Wogen glätten soll.
»Amara?«
Ich fahre herum, als jemand meinen Namen ruft. Kurz blicke ich mich suchend um, als ich in einer hinteren Ecke einen Mann und eine Frau sitzen sehe, dessen Gesichter mir sehr bekannt sind.
Claudette Chevalier und Henry, das Prinzenarschloch, der ganz offensichtlich inkognito unterwegs ist. Er trägt keine formelle Kleidung, wie Anzug oder Hemd, sondern einen Hoodie, eine dunkle Jeans und zu meiner Überraschung eine Basecap. Dazu eine Brille, die offengestanden wirklich gut an ihm aussieht. Dass er ohne jeglich offensichtlichen Schutz einfach an einem der hinteren Tische sitzt, wundert mich. Vermutlich ist der nächste Bodyguard aber nicht weit, sondern versteckt sich bloß so, dass er ein halbwegs normales Mittagessen mit seiner Ex-Freundin genießen kann.
Ich seufze leise und bitte den Kellner mir schon einmal den Tisch zu zeigen. Nach einer kurzen Handbewegung seinerseits weiß ich nun, wo ich mein Mittagessen zu mir nehmen werde, bevor ich zu den beiden herüberlaufe.
Henry ist die letzte Person, die ich sehen wollte, aber ich möchte nicht unhöflich sein. Claudette und ich kennen uns bereits länger, jedoch haben wir uns nie länger unterhalten. Viel mehr haben wir durch andere etwas voneinander erfahren.
Zum Beispiel wurde mir auf einem dieser langweiligen Dinner, zu denen mein Vater mich mitgeschleppt hat, erzählt, dass sie Henry betrogen hat, nur um kurz darauf mit Jonathan Bane eine Verlobung bekanntzugeben.
»Hi«, begrüße ich die beiden, wobei mein Blick nicht eine Sekunde auf Henry liegen bleibt.
»Hey, wie geht es dir?«, fragt dieser bloß. »Hast du die Ballnacht gut überstanden?« Das schiefe Grinsen auf seinen Lippen ist beinahe nicht auszuhalten. Er ist schuld an dem Schlamassel mit Jacob und sich dessen ganz genau bewusst. Vermutlich hat er sich am nächsten Tag sämtliche Schlagzeilen reingezogen, die mich und ihn betreffen und sich ein Loch in den Bauch gefreut, dass er es doch tatsächlich geschafft hat, eine Beziehung beinahe zu zerstören.
»Die Ballnacht war tatsächlich mit sehr wenig Schlaf verbunden«, sage ich deshalb absichtlich, um ihm genau zu zeigen, dass er sein Ziel nicht erreicht hat.
»Ach, tatsächlich?«, fragt er und ein spöttischer Unterton liegt ihm auf der Zunge. Ich verdrehe die Augen und wende mich an Claudette, deren Augen zwischen uns beiden hin und her wandern, als versuche sie, der Unterhaltung zu folgen.
»Ich glaube, es ist das erste Mal, dass wir miteinander sprechen, oder?«, frage ich dann an sie gewandt. Ein Lächeln bildet sich auf ihren Lippen und sie nickt.
»Ich glaube schon. Willst du dich nicht zu uns setzen?«, bietet sie an. Sofort spüre ich Henrys brennenden Blick auf mir. Normalerweise würde ich dieses Angebot nicht ablehnen, doch seit dem Ball bin ich noch schlechter auf Henry zu sprechen, als ohnehin schon.
Für mich ist er ein arroganter, verwöhnter Kotzbrocken, der sich von zwanzig Dienern vielleicht sogar den Hintern abwischen lässt.
»Danke, aber nein. Ich muss noch etwa einen Haufen an Mails abarbeiten und das geht besser, wenn ich allein sitze. Vielleicht nächstes Mal«, sage ich, um Claudette nicht vor den Kopf zu stoßen.
»Klar, das verstehen wir. Nicht wahr, Henry?«
»Wir leisten dir aber auch gerne Gesellschaft, Amara. Das ist kein Problem. Claudette und ich sind darin wahnsinnig gut«, meint er und versucht, mich noch einmal zu überzeugen.
Doch bei mir hat selbst das charmante Lächeln, mit dem er mich überzeugen möchte, keine Chance. Mit manchen Menschen schwebe ich nicht auf einer Wellenlänge und warum Henry diesen Umstand nicht versteht, ist mir ein Rätsel.
Ein Tanz und ein Gespräch, noch dazu eines voller Angriffslust und Provokation, ändern nichts.
»Sehr nett gemeint, aber ich muss wirklich noch etwas schaffen«, erkläre ich noch einmal. Bevor sie, oder eher Henry, noch etwas erwidern können, verabschiede ich mich von ihnen. »Ich wünsche euch noch einen guten Appetit!«
»Danke«, ruft Claudette mir noch hinterher, doch ich reagiere nicht mehr darauf. Stattdessen laufe ich endlich zu meinem Tisch herüber und lasse mich auf dem gepolsterten Stuhl nieder.
Abends würde ich dieses Restaurant nicht als Alternative meines Büros nutzen, aber tagsüber bin ich bei Weitem nicht die Einzige, die dies tut, weshalb ich mir nicht komisch vorkomme, als ich meinen Laptop aus meiner Tasche hervorziehe.
Automatisch verbindet dieser sich direkt mit dem Hotspot meines Handys, sodass direkt eine Verbindung zum Internet besteht.
Während das E-Mail Programm sich synchronisiert, werfe ich einen Blick in die Karte, die der Kellner schon parat gelegt hat, vermutlich nachdem ich zu Claudette und ihrem Ex-Freund herübergelaufen bin.
Ohne es zu wollen, grübele ich darüber, wie sie schaffen, trotz ihrer Vergangenheit noch immer befreundet zu sein.
Ich schüttele den Kopf und widme mich den Gerichten in der Karte und entscheide mich schließlich für eines der Pastagerichte. Normalerweise esse ich nicht so oft Nudeln, aber heute ist mir danach.
Die Karte klappe ich zusammen, lege sie zur Seite und widme mich dann meinem Laptop.
An manchen Tagen kann ich mich vor Kooperationsanfragen kaum retten. Viele davon bestehen allerdings auch aus heißer Luft, weshalb ich nur den Firmen antworte, die seriös erscheinen und mich überzeugen.
Es ist zwar mein Job, für gewisse Firmen zu werben, aber letztlich entscheide ich allein, mit wem ich zusammenarbeiten möchte.
Niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe, und das ist etwas, worauf ich großen Wert lege.
Nicht bloß in meiner Karriere, sondern auch in allen Lebensbereichen.
• • •
Mein Teller ist noch immer gut gefüllt. Bei all dem Tippen, schaffe ich es kaum, mich dem Essen zu widmen, das ich schon vor einer halben Stunde bestellt habe.
»Es stört dich sicherlich nicht, wenn ich mich zu dir setze, oder?«
Mein Blick fährt nach oben und ich entdecke Henry, der seine Hände in die Hosentasche geschoben hat und mich mit einem Lächeln ansieht. Ich stoße entnervt die Luft heraus, als er sich in der nächsten Sekunde einen Stuhl hervorzieht und sich setzt.
»Du fragst höflich, wartest aber nicht einmal meine Antwort ab?«, frage ich und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Skeptisch blicke ich ihn an und klappe gezwungenermaßen meinen Laptop zu, damit er versteht, was ich ihm sage.
So, wie ich ihn einschätze, braucht er meine ungeteilte Aufmerksamkeit, um zu verstehen, was Sache ist.
»Ich weiß nicht, ob die folgenden Worte überhaupt deinen arroganten Prinzenverstand erreichen, aber ... könntest du mich bitte einfach in Ruhe lassen? Das letzte Mal war es allein deine Schuld, dass ich mich mit meinem Freund zerstritten habe. Außerdem wartet Claudette doch sicherlich auf dich, nicht? Also bitte – lass mich in Frieden meine Pasta essen!«
Fast glaube ich, verzweifelt zu klingen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich mir nicht ausmalen möchte, was passiert, wenn irgendwer – sei es Jacob oder die Presse davon Wind bekommt, ist mir das vollkommen egal.
»Claudette ist gerade gegangen. Außerdem bin ich gekommen, um mich zu entschuldigen. Dein Tisch ist zudem ganz hinten und das Personal wird es nicht wagen, dass irgendjemand hier hineinkommt, der es nicht soll«, erklärt er.
Ungläubig blicke ich ihn an. »Du willst dich entschuldigen?«
Henry nickt. »Offenbar habe ich dir wirklich Probleme bereitet. Das wollte ich nicht. Ehrlich gesagt ... ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat«, erklärt er und sieht mich an. Misstrauisch erwidere ich seinen Blick, bevor ich ihn abwende und einen Löffel meiner Pasta in den Mund schiebe.
Kauend, und gleichzeitig überlegend schaue ich ihn an.
Seine Lippen verziehen sich in der nächsten Sekunde zu einem belustigten Lächeln. »Du magst mich wirklich nicht, oder?«
Mir entfährt ein leises Lachen. »Das realisierst du jetzt erst?«, entgegne ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück.
Diese Situation erscheint mir merkwürdig und ich weiß nicht, ob ich ihm die Entschuldigung abkaufen soll.
»Vor diesem Ball haben wir nichts miteinander zutun gehabt«, beginne ich. »Jetzt möchtest du unbedingt, dass ich mich zu dir und deiner Ex-Freundin an den Tisch setze. Wohlbemerkt, wenn ich mit keinem von euch jemals richtig gesprochen habe.«
»Ich gebe zu, dass ich unsere Unterhaltung auf dem Ball sehr unterhaltsam fand. Zurückhaltung ist nicht meine Stärke, Amara, aber wenn es dir dann möglich ist, mit mir zu sprechen, dann werde ich mich benehmen«, meint er und sieht mich ernst an.
»Du wirst mich also nicht mehr fragen, warum ich regelmäßig mit einem heißen Anwalt ins Bett gehe?«, feuere ich zurück. Noch immer bin ich voller Skepsis und weiß nicht, ob sich das ihm gegenüber jemals ändern wird.
»Du beeindruckst mich«, gibt er zu. »Deine Haltung, dein Selbstbewusstsein und deine Arroganz wirken äußerst ... attraktiv«, meint er und räuspert sich. Fragend blicke ich ihn an. Will er mir etwa sagen, dass er auf mich steht? »Ich möchte wissen, ob es nur eine Maskerade ist, die du spielst, oder ob das wirklich du bist. Lass uns Freunde sein«, schlägt er vor.
Beinahe glaube ich, mich verhört zu haben, doch es scheint ihm wirklich ernst zu sein. »Ich glaube, Jacob wäre nicht davon begeistert«, erkläre ich ihm.
»Du bist eine erwachsene Frau, Amara. Dein Freund sollte dir vertrauen können, nicht? Schließlich findest du mich nicht attraktiv und sicherlich auch keine netten Worte für mich, oder?«
Ich lache leicht und schüttele den Kopf. »Du bist attraktiv. Diesen Umstand zu vertuschen wäre nicht meine Art, Henry. Allerdings kann ich deine Arroganz nicht leiden. Im Gegensatz zu mir weißt du nicht bloß, dass du als Kronprinz geboren bist – du führst dich auch so auf. Das, und die Art, wie du dich behandeln lässt, sind in meinen Augen keine Eigenschaften, die einladend wirken«, antworte ich.
Meine Ehrlichkeit scheint ihn zu überraschen. Ob er sich nur auf den ersten Teil des Satzes konzentriert oder tatsächlich auch die Kritik an seiner Person registriert hat, kann ich nicht einmal sagen.
»Dann lass mich dir zeigen, dass ich nicht der bin, für den du mich hältst. Denkst du nicht, dass ein Mensch eine Art Schutzmechanismus entwickeln kann, wenn er sich in einer Position befindet, wie ich es bin?«, fragt er.
»Und wie soll ich dir das glauben?«, frage ich.
»Indem du meine Einladung zu einer Party annimmst. Komm gerne mit deinem Freund oder ohne«, meint er. »Dann zeige ich dir, dass ich nicht bloß ein Thronfolger bin, sondern ein Mann, der ohne einen Butler auskommst«, schlägt er vor.
Noch immer nachdenkend, ob ich mich wirklich darauf einlassen sollte, nicke ich schließlich. »Ich werde allein kommen. Jacob wird vermutlich ohnehin nicht begeistert sein, also ist es besser, wenn er gar nicht erst davon erfährt.«
Auf Henrys Lippen breitet sich ein Lächeln aus. Eines, das meine Mundwinkel ebenfalls dazu bringt, willkürlich in die Höhe zu wandern. Als ich jedoch sehe, dass Henry mir seine Hand reicht, schaue ich ihn verwirrt an. »Was?«, frage ich.
»Wir besiegeln es mit einem Handschlag, damit du mich nicht versetzen kannst. Ich werde dir meine Nummer geben und erwarte spätestens heute Abend eine Nachricht von dir. Einverstanden?«, fragt er.
Einerseits bekomme ich schon jetzt Gewissensbisse, weil ich nicht vorhabe, Jacob in irgendeiner Weise in diesen Plan einzuweihen.
Andererseits weiß ich auch, dass ich nichts zu verlieren habe. Jacob wird mir vertrauen müssen.
Henry Winchester steht nicht einmal ansatzweise auf der Liste der Kandidaten, mit denen ich jemals ins Bett gehen würde. Außergewöhnliche Attraktivität hin oder her – er ist ein Prinz, der sicherlich auf der Suche nach der zukünftigen Königin ist. Er sucht eine Frau, die das leben führen will, was er führt.
Ein Leben, das für mich nicht einmal im Traum in Frage käme.
Ich brauche Unabhängigkeit und die bekommt man nicht, wenn man mit einem Prinzen eine Beziehung eingeht.
»Zück besser dein Handy, königliche Hoheit. Einen Rückzieher mache ich nicht«, entgegne ich schließlich und lege meine Hand in die seine.
Seine Mundwinkel zucken und als sein Blick auf unsere Hände fällt, tue ich es ihm gleich.
Ich schlucke, als ich die Wärme spüre, die mich sofort umgibt. Schnell zwinge ich mich, wieder aufzusehen und an etwas anderes zu denken.
Henry lächelt noch immer, doch jetzt sieht er mir direkt in die Augen. Ein schelmischer Ausdruck liegt in ihnen und mein Herz klopft plötzlich schneller, als ich seinem Blick weiterhin standhalte.
»Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?«, fragt er.
»Beides, mein Lieber«, antworte ich und kann nicht verhindern, dass auch meine Mundwinkel in die Höhe wandern.
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