Wasserglas
„Wie fühlst du dich hier, Violetta?", fragte die Dame vom Jugendamt und hielt ihren Stift schon einsatzbereit. Harry ließ sich derweil auf meiner anderen Seite nieder und ich legte direkt meine Hand auf seinen Oberschenkel. Er sollte spüren, dass ich bei ihm war.
Harry blickte zu mir. Sein Gesicht war aschfahl und man hörte ihm beim Atmen an, dass er leicht zitterte. Ich drückte seinen Oberschenkel etwas fester und fuhr etwas auf und ab, in der Hoffnung ich könne ihn beruhigen. Doch es änderte nichts an seiner Erscheinung. Harry sah aus, als würde er bereits auf der Anklagebank sitzen.
Seine Hand tastete nach meiner. Er hob sie von seinem Oberschenkel und verschränkte stattdessen unsere Finger. Fast schon verkrampft hielt er meine Hand in seiner. Er war nervös und verzweifelt, das spürte ich. Seine Hand war ganz schwitzig und er drückte so fest zu, dass ich sogar das Pochen seines Pulses spürte.
Ich legte meine zweite Hand auf seine und streichelte hin und her, in der Hoffnung es würde ihn beruhigen. Doch es schien wirkungslos. Harrys Atem ging schwer und ich spürte, wie sein Bein, das an meinem lehnte, zitterte.
Ich hatte auch Panik davor, Violetta zu verlieren, doch wir sollten auf Eleonors Worte vertrauen, dass Gerlinde keine Chance hatte.
„Was meinen Sie?", erkundigte sich Violetta und sah sie fragend an. „Geht es dir gut?", begann die Frau vom Jugendamt erneut. Violetta nickte schnell. „Ja, mir geht es gut." Sie schien nicht ganz zu verstehen, was die Frau von ihr wollte. „Was ist das für eine Wunde in deinem Gesicht?", stocherte Frau Fuchs weiter.
Violetta tastete mit einer Hand über ihr Gesicht und blieb mit ihren Fingerspitzen auf dem pinken Pflaster liegen. „Da hat Papa den Kühlakku nach mir geworfen."
Ich schloss die Augen und knallte mir gedanklich die Hand gegen die Stirn. Das durfte doch nicht wahr sein.
„Dein Vater hat einen Kühlakku nach dir geworfen?", wiederholte die Frau Violettas Aussage ungläubig. Violetta nickte nur und sah mit gekräuselter Stirn zu Harry. Ihr war wohl gerade bewusst geworden, dass diese Aussage ihren Vater in kein gutes Licht stellte. Harry zog meine Hand in seinen Schoss und krallte sich nun mit beiden Händen an mir fest. Er zitterte jetzt stärker als noch vor einer halben Minute.
Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, dass er blanke Panik hatte. Schon die letzten Tage hatten mir gezeigt, dass er Verlustängste hatte, vor allem in Bezug auf Violetta. Doch ihn jetzt zitternd und mit Angstschweiß auf der Stirn neben mir zu sehen, war ein schrecklicher Anblick für mich.
„Papa hat sich beim Fahrradfahren seinen Knöchel verletzt, als Louis auf ihn draufgefahren ist. Deshalb hat er einen Kühlakku gebraucht. Und am nächsten Morgen wollte er, dass wir ihn zurück in den Gefrierschrank legen, deshalb hat er ihn geworfen."
„Sie sind gegen Ihren Lebensgefährten gefahren?", fragte Silke nun an mich gewandt. Ich bewegte langsam meinen Kopf nach unten und deutete ein vorsichtiges Nicken an. „Ich war etwas abgelenkt. Ist ja jetzt nicht weiter schlimm." Die Frau gegenüber sah mich herausfordernd an. „Würden Sie sich als unkonzentriert und unverantwortlich beschreiben, Herr Tomlinson? Herr Styles humpelte beim Gehen, offensichtlich ist diese Verletzung sehr wohl schlimm."
Diese Frau drehte einem ja die Worte im Mund herum! „Nein, würde ich nicht. Tatsächlich bin ich ein sehr aufmerksamer Mensch, muss ich ja allein schon von Berufs wegen her. Und Harry hat selbst gemeint, dass es halb so wild sei." - „Er ächzt bei jedem Schritt den er tut. Nennen Sie das halb so wild? Vielleicht haben Sie ihn ja doch mehr verletzt, als er vor Ihnen zugeben möchte."
Ich wusste genau, wieso er geächzt hatte, aber an dem Unfall lag das bestimmt nicht. „Passieren solche Unfälle häufiger?", erkundigte sich Frau Fuchs weiter. Ich schüttelte schnell den Kopf. „Was hat Sie dann bei diesem Unfall so sehr abgelenkt, dass sie sogar Herrn Styles übersehen haben?"
Gab es eine Möglichkeit, mich hier wieder aus der Affäre zu ziehen? „Hören Sie, Sie sind doch wegen Violetta hier und nicht wegen meiner Fahrradfahrfähigkeiten. Was tut das dann hier zur Sache?" Frau Fuchs rümpfte die Nase, bevor sie weiterschrieb. „Ich muss wissen, ob Sie genügend Verantwortungsbewusstsein haben, um sich an der Erziehung eines Kindes zu beteiligen."
Harry führte meine Hand zu seinem Mund und küsste meinen Handrücken, bevor er unsere Hände wieder in seinen Schoss legte. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln und wandte meinen Blick zurück zu Frau Fuchs. Diese sah aus wie Clara, wenn sie an einem heißen Tag auf einem Festival ein Dixieklo aufsuchen musste, das aber schon längere Zeit nicht mehr geleert worden war. Und Frau Fuchs machte sich nicht einmal die Mühe, ihren Ekel zu verbergen.
Wütend drückte ich Harrys Hand etwas fester und versuchte kontrolliert zu atmen, um mich zu beruhigen. „Louis hat sechs jüngere Geschwister, um die er sich mit viel Liebe und Fürsorge schon sein ganzes Leben lang kümmert. Er ist praktisch in die Rolle des Vaters hineingewachsen." Ich sah Harry gerührt an. Es war schön, wie er hinter mir stand.
„Ja, Louis ist ein toller Papa", bekräftigte jetzt auch Violetta. Frau Fuchs legte ein falsches Lächeln auf, bevor sie nickte und weiter auf ihrem Zettel herumkritzelte. So langsam fragte ich mich, ob sie sich dort wirklich Notizen machte, oder einfach nur wahllos Strichmännchen zeichnete.
„Wie lange sind Sie schon in einer... Beziehung?", fragte Frau Fuchs und kräuselte ihre ohnehin schon faltige Stirn. Sie war wohl Mitte fünfzig, doch die Falten auf ihrer Haut ließen sie deutlich älter wirken.
„Seit Mitte Februar", antwortete Harry, woraufhin ich mir versuchte nicht anmerken zu lassen, dass ich etwas anderes geantwortet hätte. Mitte Februar haben wir uns zwar das erste Mal getroffen, doch offiziell ein Paar waren wir erst seit Ende Mai.
Frau Fuchs nickte, schrieb und erhob sich dann. „Würden Sie mich bitte durch die Wohnung führen?" Harry und ich erhoben uns auch gleich. „Möchten Sie die Küche auch sehen?", fragte mein Freund mit einem falschen Lächeln im Gesicht. Meine Hand hatte er noch nicht losgelassen. Aber ich war froh drum, ich brauchte diesen Halt genauso wie er.
Die Dame nickte, woraufhin Harry mit seinem Arm einladend in Richtung Küche deutete. Es war penibel aufgeräumt, wie ich es von Harry gewohnt war. Frau Fuchs lief durch die Küche, betrachtete manche Ecken genauer und machte sich weiter kräftig Notizen. Sie war mittlerweile schon zu Seite fünf übergegangen und ich war mir sicher, dass das ein Roman werden würde.
„Ich habe sogar meine eigenen Backutensilien", meinte Violetta stolz und öffnete den Küchenschrank, der ihr ganz allein gehörte. Frau Fuchs inspiziert diesen genau, wofür sie sogar in die Hocke gehen musste, was mit den hohen Schuhen ziemlich dämlich aussah.
„Du kannst backen?", fragte sie an Violetta gewandt. „Ja, Papa ist ja aber auch Bäcker." - „Dann darfst du schon ganz alleine backen?" Violetta nickte, aber sie sah ziemlich genervt aus. „Na klar. Ich weiß ja schließlich wie's geht."
Frau Fuchs erhob sich und sah uns an. „Wird das Mädchen beaufsichtigt, wenn sie in der Küche hantiert?" Harry zuckte mit den Schultern. Oh nein, falsche Antwort, mein Schatz. „Also nein." Der mürrische Ausdruck des ponyverhangenen Gesichts wurde nur noch mürrischer.
„Wohnzimmer", sagte sie und deutete uns, voranzugehen. Violetta rannte los und als wir dann das Wohnzimmer betraten, saß sie schon am Klavier und spielte eifrig. Immer wenn wir Besuch hatten, was bisher noch nicht oft vorgekommen war, hatte sich Violetta ans Klavier gesetzt und ihr Können unter Beweis gestellt. Sie war einfach noch immer so glücklich über ihr Geschenk, dass sie ihre Freude darüber mit anderen teilen möchte.
„Hat sie noch weitere Hobbies?", erkundigte sich Frau Fuchs, als Violetta ihr kurzes Stück beendet hatte. „Sie spielt Gitarre, backt und kocht und sie ist gerne draußen mit Freundinnen." Die Frau vom Jugendamt nickte und machte sich weitere Notizen.
„Wie...", begann sie und räusperte sich ein paar Mal. „Könnte ich vielleicht etwas zu Trinken bekommen?", fragte sie dann mit krächzender Stimme. Ich drückte Harrys Hand kurz, dann ging ich ins Esszimmer und schenkte ihr ein Glas Wasser ein.
Mit dem Glas in der Hand lief ich in den Flur. Als die drei durch die offene Tür in meinem Blickfeld erschienen, rief ich nach Frau Fuchs. „Ist Ihnen Wasser recht?", fragte ich, während ich besorgt meinen blassen Freund musterte.
„Ja, Wasser ist in Ordnung", riss die Frau meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Völlig aus dem Konzept gebracht, übersah ich die kleine Schwelle, stolperte und rudert mit meinen Armen, um mein Gleichgewicht zurückzuerlangen.
Mit offenem Mund starrte ich erschrocken auf den riesengroßen Wasserfleck auf ihrer weißen Bluse, die langsam aber sicher durchsichtig wurde.
Scheiße. „Es tut mir so leid. Frau Fuchs, Sie müssen mir glauben, das war ein Versehen. Es tut mir so leid."
Die Dame sah mit großen Augen an sich hinab, bevor sie sich das Klemmbrett vor die Brust hielt.
Wenn Harry vorhin schon bleich war, dann glich er jetzt meiner Hose, nachdem sie einen ganzen Tag lang mit Tafelkreide vollgeschmiert wurde.
„Kommen... Kommen Sie bitte", stotterte er völlig überfordert. Harry deutete den Weg in den Flur, dann folgte er ihr ins obere Stockwerk.
„Verdammt, Violetta, es tut mir so leid", entschuldigte ich mich bei ihr, obwohl sie wahrscheinlich nicht einmal verstand, was die Missgunst dieser Frau bedeuten würde. „Schon in Ordnung, Lou", sagte sie mit einem traurigen Lächeln und umarmte mich.
Dann schnappte sie sich meine Hand und zog mich hinter sich her die Treppe nach oben. Dort stand Harry im Flur, die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Harry, es tut mir so leid. Es war doch keine Absicht." Harry presste die Lippen zusammen und nickte.
„Du darfst ihm nicht böse sein, Papa", setzte sich Violetta für mich ein. Harry musterte seine Tochter und legte seine Hand an ihre Wange. Dann sah er zu mir. „Ich weiß, dass es keine Absicht war, Lou. Aber du weißt auch, dass wir uns vor dieser Frau keinen Fehler erlauben dürfen." Ich zog meine Augenbrauen schuldbewusst zusammen. Harry seufzte.
„Ich habe ihr jetzt ein Shirt von mir gegeben, sie zieht sich gerade um." Harry zog seine Tochter zu sich und umarmte sie mit einem Arm, während er ihr mit der freien Hand über die Haare streichelte. „Ich liebe dich, Violetta. Ich lasse nicht zu, dass deine Oma dich zu sich holt." Flüsterte er mehr zu sich selbst als zu ihr.
„Ich will doch auch nicht zu Oma", sagte Violetta, die sichtlich genoss, in den Armen ihres Vaters zu liegen. „Wieso kann Oma Gerlinde nicht wie meine anderen Omas sein?", fragte sie dramatisch und sah neugierig zu ihrem Vater hoch.
„Andere Omas?", fragte Harry. Der Plural schien ihn ziemlich zu verwirren. „Na, so wie Anne oder Jay." Harry sah mit offenem Mund zu seiner Tochter hinab, bevor er ungläubig zu mir sah. Ich versuchte mich an einem vorsichtigen Lächeln, was er erwiderte.
„Du siehst Jay als deine Oma?", hakte Harry nach. Violetta nickte und lehnte sich etwas zurück, sodass sie ihrem Vater ernst in die Augen sehen konnte. „Lou hat gesagt, es ist okay, wenn ich sie als meine Oma sehe, denn das wird sie ja sowieso, wenn ihr zwei irgendwann heiratet."
Harrys Augenbrauen schossen in die Höhe und er blinzelte, als könne er nicht begreifen, was er gerade gehört hatte.
„Du denkst ans Heiraten?", flüsterte er ungläubig in meine Richtung.
-------------------
Was haltet ihr von Frau Fuchs und ihrem Besuch?
Und was meint ihr, wie Harry es findet, dass Louis Violetta von einer möglichen Hochzeit erzählt hat?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro