Menschenkenntnis
Man konnte schon dabei zusehen, wie Gerlindes Finger förmlich in Richtung Jutebeutel zuckten, bevor sie ihre Lippen zusammenpresste und ihren Blick arrogant zu der Richterin schweifen ließ.
„Ich weiß, dass die beiden gegenüber dem Mädchen öfter mal handgreiflich werden", sagte Gerlinde mit einer solchen Überzeugung, dass ich es ihr sogar abgekauft hätte, hätte ich nicht die Wahrheit gekannt.
Aber jetzt wusste ich nicht, ob ich aufgrund ihrer Aussage die Augen verdrehen, höhnisch lachen oder einfach nur verzweifeln sollte.
Würde die Frau denn niemals aufhören, derartige Anschuldigungen zu machen? Aber es wunderte mich schon, dass sie jetzt von der Missbrauchsanschuldigung gegen mich abgewichen war und mich genau wie Harry zum schlägernden Elternteil erklärt hatte.
„Das sind haltlose Anschuldigungen, denen auch schon die Gutachterin vom Jugendamt auf den Grund gegangen ist. Es handelt sich hierbei schlicht um üble Nachrede, die wir auch in naher Zukunft zur Anzeige bringen werden", riss Eleonor die Aufmerksamkeit auf sich, während sie leicht in Kinn in die Höhe reckte, um Gerlinde von oben herab ansehen zu können.
Ich kannte diese Seite an Eleonor, doch sie zeigte mir einmal wieder, dass ich sie nicht zum Feind haben wollte. Sie kannte ihre Rechte und sie wusste auch genau, wie sie diese durchsetzen konnte. Hätten wir uns scheiden lassen müssen, so hätte ich wahrscheinlich mein ganzes Hab und Gut verloren. Denn Eleonor wusste genau, welche Hebel sie in Bewegung setzen musste, um zu erreichen, was sie wollte.
„Genau", bestätigte Frau Fuchs Eleonors Aussage. „Ich bin den Anschuldigungen nachgegangen, jedoch sind weder Herr Styles noch Herr Tomlinson dem Mädchen gegenüber jemals handgreiflich geworden. Die Bilder, die vorliegen, sind das Resultat einer Auseinandersetzung mit einem Schüler ihrer Schule. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, dass diese Verletzungen Herrn Styles zugeordnet werden, doch auch die anderen Lehrer dieser Schule haben mir alle bestätigt, dass ein Junge namens Jeremy ihr diese Verletzungen zugefügt hat."
Momentan war ich so dankbar, dass mein erster Eindruck von Frau Fuchs ein falscher war und sie tatsächlich nur ihren Job machte. Zum Wohl des Kindes. Zum Wohl unseres Kindes.
„Das habe ich auch der Stellungnahme von Ihnen, Herr Styles, entnommen", sagte die Richterin, während sie ein paar Blätter vor sich ausbreitete.
Ich blickte zu Gerlinde, von der ich annahm, dass sie durch diese Feststellungen etwas entmutigt wäre, doch dem war nicht so. Sie hatte nach wie vor ein siegessicheres Lächeln aufgesetzt, während ihre Augenbrauen spöttisch in die Höhe ragten.
Ich atmete tief durch und legte meine Hand auf Harrys, die noch immer auf meinem Oberschenkel verweilte und dort nach Halt suchte.
Wenn Gerlinde sich durch die Aussage der Jugendamtmitarbeiterin nicht aus der Ruhe bringen ließ, dann würde sie entweder etwas gegen Frau Fuchs oder gegen Harry und mich in der Hand haben. Oder gegen uns alle. Was aber eigentlich unmöglich war.
„Wie kommen Sie darauf, solche Anschuldigungen gegen Herrn Styles und Herrn Tomlinson aufzubringen, wenn sie doch offenbar unbegründet sind, Frau Brandner?", fragte Frau Schröder in einem herausfordernden Tonfall.
„Weil diese Anschuldigungen sehr wohl begründet sind. Sowieso ist auch Frau Fuchs nicht die beste Wahl als Gutachterin für einen solchen Fall." Gerlinde nickte einmal bestimmt und unterstrich so ihre eigene Aussage.
„Warum sollte dem nicht so sein, Frau Brandner? Frau Fuchs ist eine angesehene Mitarbeiterin in ihrer Abteilung. Des Weiteren hat sie mir ein tadelloses Gutachten vorgelegt, welches nicht nur objektiv die Sachlage darlegt, sondern auch in der Ausführlichkeit keine Wünsche offen lässt."
Gerlinde räusperte sich etwas mit der Hand vor dem Mund, bevor sie ein falsches Lächeln auflegte und sich an Frau Fuchs wandte. „Wenn Sie doch so angesehen sind, Frau Fuchs, dann erzählen Sie uns doch bitte, warum Sie das Jugendamt gewechselt haben. Soweit ich informiert bin, haben Sie sich ein halbes Jahr lang beurlauben lassen, bevor Sie hier angefangen haben. Was war denn los an Ihrem letzten Arbeitsplatz?"
Gerlindes Stimme klang zuckersüß, während man Frau Fuchs dabei zusehen konnte, wie sie immer blasser wurde. Letztere presste ihre Lippen zusammen, während sie ihren ungläubigen Blick von Gerlinde zu der Richterin wandern ließ.
Das, was Gerlinde gesagt hatte und wie sie es gesagt hatte, jagte mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinab. Sie wollte diese Sache hier wirklich gewinnen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ihr wirklich bewusst war, dass es hier um das Leben eines kleinen Mädchens ging. Doch der Blick, den sie Harry und mir zuwarf sagte alles. Sie würde keine Niederlage dulden.
Während ich Frau Fuchs musterte, die angestrengt nach Worten suchte, wurde mir auch klar, dass da eine Taktik dahinter stand. Gerlinde wusste, dass Harry und ich keinen schädlichen Einfluss auf Violetta hatten. Doch sie wusste auch, dass sie die Tatsachen nur zu ihren Gunsten verdrehen konnte, wenn diejenigen, die uns Glauben schenkten, unglaubwürdig gemacht würden.
Ich wusste zwar nicht, was sie gegen Frau Fuchs in der Hand hatte, doch Gerlindes überheblicher Blick zeigte, dass sie gerade dabei war, den ersten Punkt auf ihrer Liste abzuhaken: Frau Fuchs zu diskreditieren.
„Das Privatleben von Frau Fuchs ist hier nicht von Belang. Lediglich das Ergebnis ihrer Arbeit ist das, was hier zählt", sagte Frau Schröder kühl, bevor sie eine Augenbraue nach oben zog und ihren Kopf leicht schief legte, während sie Gerlinde wachsam ansah.
Ich hoffte darauf, dass Frau Schröder genügend Berufserfahrung und Menschenkenntnis hatte, um Gerlindes Charakter zu erkennen. Und die Tatsache, dass Harry, Violetta und ich eine richtige Familie waren, bei denen Liebe und Wohlbefinden im Vordergrund standen. Selbst wenn hier alles schiefgehen würde, musste ich darauf vertrauen, dass das abschließende Gespräch mit Violetta die Richterin gegen Gerlinde ausspielen würde. Oder zumindest zu unseren Gunsten.
„Da muss ich Ihnen Recht geben, Frau Richterin, aber ich finde es sollte trotzdem gesagt sein, dass die werte Frau Fuchs ihren alten Job nur an den Nagel gehängt hat, weil sie eine Fehlentscheidung getroffen hat. Sie hat einen kleinen Jungen auf dem Gewissen. "
Dieser abfällige Ton, gepaart mit diesem zuckersüßen Lächeln rief augenblicklich Übelkeit in mir hervor. Schnell sah ich zu Harry, der gerade dabei war, mit seinen Blicken seine ehemalige Schwiegermutter zu erdolchen.
„Ich wurde über diesen Vorfall unterrichtet und bitte Sie nun alle, dies nicht weiter zu erwähnen. Bitte fokussieren Sie sich auf fallrelevante Fakten, Frau Brandner."
Diese Richterin wurde mir immer sympathischer, obwohl ich glaube, dass Gerlinde noch lange nicht ihren letzten Schuss abgefeuert hatte. Dennoch sah sie jetzt etwas irritiert aus und man sah ihr an, dass sie ihre letzte Bemerkung gerne weiter ausgearbeitet hätte.
„Na schön", sagte Gerlinde nun und klang dabei wie ein kleines Kind. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Diese Person war mental wirklich noch lange nicht erwachsen. „Wissen Sie, Frau Schröder, meine geliebte Tochter ist letztes Jahr im Oktober gestorben. Das Mädchen hatte kaum Zeit, ihren Tod zu verarbeiten, da hat Harry diesen... diesen... Mann in ihr Leben gebracht."
Gerlinde wollte ganz offensichtlich eine andere Beschreibung für mich verwenden, doch Danielles mahnender Blick hatte sie noch davon abgehalten. Ich wusste, dass Danielle vulgäre Ausdrücke hasste, doch im Moment spielte uns alles in die Karten, was Gerlinde in ein schlechtes Licht rückten ließ. Von mir aus konnte Gerlinde in diesem Raum also so viele abfällige Bemerkungen machen, wie sie wollte. Solange nur die Richterin erkannte, dass Gerlinde aus reiner Boshaftigkeit so handelte.
Frau Schröder atmete einmal tief ein und rückte ihre Brille zurecht. Dann blickte sie zu Harry und mir. „Möchten Sie sich vielleicht dazu äußern, bevor das Ganze hier zu einseitig wird? Ich möchte mir gerne ein objektives Bild machen können."
Harry sah kurz zu mir und schenkte mir ein warmes Lächeln, bevor er sich räusperte und sich der Richterin zuwandte. „Louis und ich, wir haben Violetta Ende Mai gesagt, dass wir ein Paar sind. Sie müssen wissen, dass ich schon davor häufig mit Violetta das Gespräch gesucht habe. Ich wollte nicht, dass sie ihre Trauer in sich hineinfrisst. Wir haben immer offen darüber geredet. Und die Tatsache, dass ich einen neuen Partner hatte, hat dem keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, Louis hat immer ein offenes Ohr für Violetta. Die beiden sitzen oft nächtelang auf dem Balkon und reden über Emilia."
Frau Schröder hob etwas ihr Kinn an, während ein Mundwinkel in die Höhe zuckte. Sie hatte sich aber schnell wieder gefangen und ein neutrales Gesicht aufgesetzt. „Und Sie, Herr Tomlinson, haben Sie kein Problem damit, über die verstorbene Frau Ihres Partners zu reden?"
Ich schüttelte schnell den Kopf und drückte Harrys Hand etwas fester. Ich hatte sie noch keine Sekunde losgelassen, denn ich brauchte seine Nähe. Seinen Halt.
„Nein, gar nicht. Ich habe Mia..." - „Emilia!", wetterte Gerlinde. Ich seufzte, bevor ich mit meiner Antwort fortfuhr. „Ich habe Emilia ja gar nicht gekannt. Aber sie ist ein großer und wichtiger Teil von Violettas und Harrys Leben. Das muss ich einfach akzeptieren. Violetta und ich reden oft über sie."
Die Richterin warf einen kurzen Seitenblick zu Gerlinde, die sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurückgelehnt hatte. „Wie schätzen Sie Violettas Trauerarbeit ein, Herr Tomlinson? Sie sind als Pädagoge doch mit der Thematik vertraut, oder nicht?" Einen kurzen Augenblick wunderte ich mich, woher sie wusste, dass ich Lehrer war, doch dann fiel mir ein, dass sie ja Frau Fuchs' Bericht gelesen hatte, in welchem das auch vermerkt war.
„Ja, ich kenne mich mit Trauerarbeit aus. Mittlerweile würde ich sagen, dass Violetta die Phase der Akzeptanz erreicht hat." Ich schluckte einmal, denn dieses Wissen hatte ich mir nach Fizzys Tod angeeignet und würde mich auch immer wieder daran erinnern. „Sie weiß, dass ihre Mutter nicht wieder kommt, doch sie hat sich damit abgefunden und kann auch wieder mit einem Lächeln in die Zukunft blicken. Ich kenne Violetta ja schon seit Februar. Beim ersten Aufeinandertreffen hätte ich nie geglaubt, dass sie gerade trauert, denn sie war ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen. Als ich dann das erste Mal bei Harry übernachtet habe, da kam Violetta nachts ins Schlafzimmer und hat nach ihrer Mutter gefragt. Ich habe ihr dann erklärt dass ihre Mutter nicht mehr da sei, dann sind wir das erste Mal zusammen auf den Balkon und haben über Mia und Fizzy geredet."
„Wer ist Fizzy?", fragte die Richterin und warf einen mahnenden Blick in Richtung Gerlinde, die sich schon wieder zu Wort melden wollte. „Fizzy ist meine verstorbene Schwester." - „Fizzy ist tot?", rief Eleonor aus und schlug sich eine Hand auf den Mund.
Vorsichtig nickte ich, woraufhin Eleonor aufsprang und förmlich aus dem Raum rannte. Ich blickte ihr hinterher. Dann atmete ich tief ein und aus, während ich mit meiner Hand über meine Augen rieb. Harry legte einen Arm um mich und zog mich zu sich. „Mein Beileid, Louis", hörte ich Danielle sagen. Ich rang mir ein dankendes Lächeln für sie ab, bevor ich meinen Kopf wieder an Harry lehnte und seinen beruhigenden Duft einatmete.
„Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle eine kurze Pause einlegen", schlug Frau Schröder vor und erhob sich. Wir standen auch schnell auf und verließen mit ihr den Saal.
Im Flur setzte Gerlinde sich zurück auf die Bank, auf der sie vorhin schon gesessen hatte. Harry legte seinen Arm um mich und zog mich in die Richtung, aus der wir vorhin gekommen waren. Dort, mitten auf der Treppe, saß Eleonor und tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen trocken.
Ich ließ mich neben Eleonor nieder und suchte direkt wieder Harrys Hand, als er sich neben mich setzte. Eleonor schluchzte immer weiter und an dem Taschentuch waren mittlerweile die Rückstände ihrer Wimperntusche zu sehen. Vorsichtig legte ich meine freie Hand auf ihren Rücken und streichelte langsam auf und ab.
„Louis, es tut mir leid. Mein aufrichtiges Beileid", flüsterte Eleonor irgendwann. Ein Nicken musste ihr als Antwort genügen. „Wann... Also wann ist sie denn gestorben? Und wie? Hatte sie einen Unfall?" Ich schüttelte den Kopf. „Am einundzwanzigsten Februar ist sie gestorben. Sie hatte einen Herzinfarkt."
Eleonor nickte und wischte sich weiter Tränen weg. Dann atmete sie tief durch und stand dann auf. „Tut mir leid, dass wegen mir die Verhandlung unterbrochen werden musste", sagte sie, während Harry und ich uns ebenfalls erhoben. Harry lehnte sich etwas ans Treppengeländer und beobachtete besorgt, wie Eleonor sich mit einer Hand etwas Luft zufächelte.
Dann schenkte mein Freund mir ein liebevolles Lächeln, bevor er seinen Blick über die Eingangshalle schweifen ließ, die von diesem Punkt auf der Treppe aus gut ersichtlich war.
Auf einmal hörte ich, wie er scharf die Luft einzog und mit seinen Blicken einen Punkt fixierte, während er sich langsam über das Treppengeländer beugte.
„Das... Das ist nicht ihr ernst?", stotterte Harry. „Was ist nicht wessen ernst?", fragte ich, während ich mich neben ihn stellte und den Raum nach irgendetwas Verdächtigem absuchte.
„Da ist Armin." - „Dein Exfreund?", fragte ich, denn ich hatte keinen blassen Schimmer, was so schlimm an seiner Anwesenheit wäre. „Ja, mein Ex." - „Und warum ist es jetzt schlimm, dass er da ist? Und wieso sollte Gerlinde etwas damit zu tun haben?" Harry seufzte und legte verzweifelt seine Stirn in Falten.
„Er hat immer miterlebt, wie bei Mia und mir die Fetzen geflogen sind, bevor wir ein Paar wurden. Und über unsere Trennung war er dann auch nicht besonders glücklich. Ich habe ihn für Mia verlassen." Er seufzte einmal und sah verzweifelt zu Eleonor. „Was, wenn Gerlinde ihn angerufen hat? Was, wenn er da drin gleich davon erzählt, wie Mia und ich uns immer gestritten haben? Da sind teilweise Stühle durch die Luft geflogen, wenn wir diskutiert haben."
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Tja, da gab es doch ein kleines Erfolgserlebnis für Harry und Louis als die Richterin Gerlindes Versuche, Frau Fuchs unglaubwürdig zu machen, direkt unterbunden hat.
Was denkt ihr, wäre die gute Gerlinde so skrupellos, Harrys Exfreund zum Gericht zu bestellen?
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