Definition Von Glück
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich noch immer meine Kickschuhe an. Ich zog sie aus und schmetterte sie gegen die Wand. Dann schlich ich mich aus meinem Zimmer.
Vielleicht war ja alles nur ein schlechter Traum. Vielleicht war Fizzy noch da.
Ich öffnete ihre Zimmertür und wollte schon erleichtert aufatmen, als ich eine Gestalt in ihrem Bett erkennen konnte.
Doch die Freude verflog schnell.
Dort lag Lottie und hatte ihr Gesicht in Fizzys Kopfkissen vergraben.
Ich schloss die Tür wieder und atmete tief durch. Atmete ein, atmete aus. Presste die Augenlider zusammen. Doch die Tränen konnte nichts zurückhalten.
Fizzy war nicht mehr da.
Ich lief ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Mit Fußballtrikot. Mit Schienbeinschonern.
Es war mir egal. Alles war mir egal. Ich stelle mich unter das eiskalte Nass, das sich in meinem Gesicht mit meinen Tränen vermischte.
Ich lehnte mich an die Wand. Ich hatte keine Kraft mehr.
Erschöpft ließ ich mich an der Duschwand hinabgleiten, bis ich auf dem Boden saß.
Fizzy war nicht mehr da.
Sie würde nie mehr wiederkommen.
Meine Fizzy. Meine kleine Schwester.
Weg. Einfach weg.
Ich konnte mich nicht einmal von ihr verabschieden.
Warum sie? Sie war doch noch so jung....
Sie hatte das Leben noch vor sich. Sie wäre eine tolle Anwältin geworden. Und Mutter. Sie wollte immer Kinder haben. Am besten eine ganze Fußballmannschaft.
Ich stellte mir vor, wie ihre Kinder ausgesehen hätten. Bestimmt wunderhübsch, genau wie sie.
Die Welt würde sich weiterdrehen. Aber ohne sie. Als wäre da plötzlich ein großes Loch in meinem Leben.
Mein Herz schmerzte. Wie konnte ich nur ohne meine kleine Schwester weiterleben? Sie war ein Teil von mir. Genau wie Ernest, Doris, Daisy, Phoebe und Lottie.
Ich nahm alle Kraft zusammen und stand auf. Ich befreite mich aus meinen nassen Klamotten und duschte mich ab.
In meinem Zimmer griff ich nach meiner abgewetzten Jogginghose und einem schwarzen Kapuzenpullover.
Als könnte ich jetzt eine andere Farbe als schwarz tragen...
Ich riss alle bunten Klamotten aus meinem Schrank und stopfte sie unter mein Bett.
Als ob ich je wieder fröhliche Farben an meinem Körper tragen könnte. Wie sollte das gehen, wenn meine kleine Schwester nicht mehr da war? Tot war...
Ich ging die Treppen nach unten, als es klingelte. Die Kapuze hatte ich auf.
Es fühlte sich an, als würde sie mir Schutz vor der Außenwelt bieten.
Ich öffnete die Tür und sah, dass Harry davor stand.
Ich schloss meine Augen und atmete tief durch.
„Lou. Patrick hat mir erzählt, was passiert ist. Mein tiefstes und aufrichtiges Beileid."
Ich krallte mich an seiner Jacke fest und heulte gegen seine Brust.
„Harry. Fizzy... Ist tot."
Harry sagte nichts. Er streichelte mir nur beruhigend über die Haare.
Ich zog ihn ins Haus herein und schloss die Tür.
„Ich will, dass sie wiederkommt. Dass alles nur ein Traum war. Einer meiner Albträume..."
„Ich weiß, Lou. Ich weiß", murmelte Harry leise.
Es vergingen Sekunden, Minuten, vielleicht sogar Stunden. Ich stand einfach nur an Harry gelehnt in seinen Armen und versuchte mit dem gestrigen Tag klarzukommen.
Dabei war mir bewusst, dass das nie passieren würde.
„Es tut mir so leid, Lou. Ich wünschte, diese Erfahrung wäre dir erspart geblieben."
Ich nickte. Ich wünschte mir nichts lieber als das.
„Ich habe dir dein Zeug mitgebracht. Dein Handy hat ständig geklingelt, also bin ich irgendwann rangegangen. Zayn war dran und hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, was passiert ist. Ich wollte nicht, dass du ihn anrufen musst, um zu erklären, was passiert ist."
Ich nickte. Ich wusste gar nichts.
„Danke, Harry. Hast du Violetta etwas erzählt?"
„Noch nicht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll. Sie hat doch gerade erst den Tod ihrer Mutter verkraftet."
Ich nickte.
„Oh Lou. Mein Lou." Harry legte beide Hände auf meine Wangen und strich mir mit seinen Daumen die Tränen weg. Dann küsste er meine Stirn.
„Mein Lou."
„Mein Harry."
Ich presste meine Augen zusammen, aus denen unaufhaltsam die Tränen quollen.
Ich schluchzte auf, wandte mich von Harry ab und strich mir über die Augen.
„Harry... Kannst du mir Zeit lassen?"
Er nahm meine Hände in seine und küsste meine Handgelenke.
„Natürlich, Lou. Alle Zeit der Welt. Aber bitte vergiss mich nicht. Denn ich werde auf dich warten."
Ich krallte mich erneut an seiner Brust fest und ließ meinen Tränen freien Lauf.
„Danke, Harry. Ich verspreche es dir. Ich will das mit dir noch immer. Nur kann ich das nicht jetzt. Ich kann nicht glücklich sein, wenn meine Schwester tot ist. Und du bist meine persönliche Definition von Glück."
Harry drückte mich noch einmal fest an sich, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und ging dann mit Tränen in den Augen aus dem Haus.
Am Nachmittag saßen wir, wie am Abend zuvor schon, alle um den großen Esstisch. Wobei 'alle' 'alle ohne Fizzy' bedeutete.
Ein Bestatter war da, um mit uns den Ablauf der nächsten Tage zu besprechen.
Ob es eine kirchliche Beerdigung werden sollte. - Ja.
Ob wir wüssten, ob Fizzy in einem Sarg bestattet werden wollte, oder ihre Asche in einer Urne beigesetzt werden sollte. Natürlich hatten wir noch nie mit ihr über diese Eventualitäten gesprochen. - Also Sarg
Ob wir eine Annonce in der Zeitung drucken wollten. - Ja
Wie der Sarg aussehen sollte. - Wir entschieden uns für ein weißes Modell mit rosaroten Verzierungen. Fizzy hätte es sicher gefallen
Nachdem der Bestatter am Abend unser Haus verließ waren wir alle mehr als erschöpft.
Dan bestellte Pizza, von der aber kaum jemand etwas anrührte.
Am Abend krabbelte Phoebe in mein Bett. Sie wollte genauso wenig alleine sein, wie ich. Ich zog sie eng an mich.
Sie schlief schon lange, da lauschte ich ihrem gleichmäßigen Atem und dachte nach.
Dachte an Fizzy. Wie sollte es auch anders sein?
Das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war Dienstagabend. Mittwochmorgen, um genau zu sein. Aber als ich mich da aus ihrem Bett geschlichen und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, hatte sie noch geschlafen. Tief und fest.
Die letzten Worte, die ich mit ihr gewechselt habe, waren Ich-liebe-dich's.
Immerhin hatte ich ihr das noch gesagt. Hätte ich noch einmal die Wahl für letzte Worte, die ich ihr sagen durfte, dann wäre es genau das.
Wir waren nicht im Streit auseinandergegangen. Sondern in Liebe. Sie wusste bis zum letzten Moment, dass ich sie liebte.
Der nächste Tag bestand aus besuchen von Nachbarn, Freunden und Verwandtschaft.
Es fühlte sich an, als würde ich einen Film im Schnelldurchlauf ansehen. Ich war zwar Part des Films, aber eigentlich nur der Zuschauer, der im Kinosessel saß und alles von außen ansah.
Dazwischen die Leinwand. Wie ein riesen Schutzwall stand sie zwischen mir und dem Geschehen.
Mittwoch war dann die Beerdigung. Ich trug einen schwarzen Anzug.
Es fühlte sich falsch an, genau diesen Anzug zu tragen, doch es war der einzige, den ich hatte, der noch passte.
Ich hatte ihn für die Hochzeit von Mama und Dan gekauft.
Jetzt trug ich ihn auf der Beerdigung meiner Schwester.
Ich hätte zwar einen neuen kaufen können, doch eigentlich konnte ich nicht.
Ich schaffte es gerade einmal, das Haus zu verlassen, um mir beim Arzt eine Krankschreibung zu holen. Die nächsten zwei Wochen würde ich daheim bleiben.
Meine Mutter rief, dass wir endlich losgehen sollten. Ich ging zu meinem Nachttisch und schnappte mir die Packung mit den Pralinen. Normalerweise aß ich immer nur abends eine. Aber jetzt bräuchte ich Nervennahrung. Ich hatte die letzten Tage kaum etwas gegessen, doch mein Körper verzehrte sich im Moment nach einer dieser köstlichen Pralinen.
Und mein Herz verzehrte sich nach Harry.
Ich nahm mir eine hellblaue Praline aus der Tüte. Das war Fizzys Lieblingsfarbe.
Ich biss ab, dachte an Harry, dachte an Fizzy und heulte los.
Verzweifelt versuchte ich wenig später mit einem Taschentuch alle Tränen aufzufangen. Doch das war schneller durchnässt, als ich blinzeln konnte.
Ich aß die zweite Hälfte der Praline, beschloss, dass an meinem Gesicht jetzt sowieso nichts mehr gerettet werden konnte und ging die Treppen hinab.
Der Gottesdienst war richtig schön. Zumindest das, was ich davon mitbekam. Denn den Großteil davon hatte ich Tränen vergossen und nichts mehr wahrgenommen.
Eine Kommilitonin von Fizzy sang 'So wie du warst' von Unheilig und eine abgewandelt Version von Ed Sheerans 'Supermarket Flowers'. Der Pfarrer erzählte danach von Fizzy. Wie ihr Leben abgelaufen war, wie sie sich ihre Zukunft erträumt hatte. Dass sie von ihrer Familie sehr geliebt wurde.
Jannis stand bei uns in der ersten Reihe. So sehr ich mich darauf gefreut hatte, ihn kennenzulernen, so sehr verabscheute ich jetzt, wie ich ihn kennengelernt hatte.
Als wir auf dem Friedhof waren, ließ ich meinen Blick durch die Menge schweifen. All unsere Nachbarn waren da, Fizzys Kommilitonen, ihre Freunde von der Schule. Ich erkannte sogar ein paar ihrer alten Lehrer wieder.
Weiter hinten sah ich Harry, der Violetta an der Hand hielt. Er hatte es ihr wirklich erzählt.
Außerdem sah ich noch meine Freunde, die als Gruppe am Rande der Trauergemeinde standen. Zayn, Niall, Liam, Clara, Toni. Sogar Paddy und ein paar andere aus dem Verein waren da.
Dann wurde Fizzys Sarg niedergelassen...
Ich konnte gar nicht hinsehen. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Lottie, die neben mir stand, sank zu Boden. Ich kniete mich neben sie und zog sie in meine Arme. Mein Gesicht vergrub ich in ihren Haaren.
Es wurde mit einer Schaufel, etwas Erde auf ihrem Sarg verteilt, Blumen wurden hineingeworfen, dann standen die Leute auch schon Schlange, um sich von Fizzy zu verabschieden, und uns ihr Beileid zu bekunden.
Ich schüttelte vielen Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, die Hände und verfluchte diesen ganzen Brauch.
Nur weil diese Leute mir sagten, dass es ihnen leidtat, würde Fizzy auch nicht wieder lebendig.
Als meine Freunde bei mir ankamen, nahmen sie mich alle fest in die Arme. Die meisten streichelten mir noch sanft über den Rücken und flüsterten mir beruhigende Worte ins Ohr.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Harry und Violetta vor dem Grab standen. Violetta schien zu reden. Ich fragte mich, was sie Fizzy noch erzählen wollte...
Dann stand Harry plötzlich vor mir. Er und Violetta waren die letzten in der Schlange. Er lächelte sanft. „Mein tiefstes Beileid, Louis. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mit dir trauere."
Ich griff nach seinen Händen. „Danke, Harry. Es bedeutet mir viel, dass du heute hier bist. Kannst du... Kannst du mich in den Arm nehmen? Bitte?"
Harry erfüllte meinen Wunsch augenblicklich und zog mich in seine Arme.
Sein Duft, war wie eine Droge für mich, die kurzzeitig den Schmerz über Fizzys Tod dämpfte.
Harry strich mir liebevoll über die Haare. „Ich bin für dich da, Lou. Du kannst jederzeit mit mir reden. Ruf mich einfach an, ich hör dir zu. Ich weiß, wie schlimm es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren."
Ich nickte und schluchzte. Meine Tränen perlten an seinem Mantel ab und kullerten daran hinab.
Dann trat er einen Schritt zur Seite, um Platz für Violetta zu machen. Ich hörte, wie er Lottie sein Beileid bekundet und sie ihm dankte. Außerdem hörte ich noch "Du bist also Harry. Der Harry."
Violetta, die vor mir stand, reichte mir ihre Hand. „Papa hat gesagt, dass Fizzy jetzt bei den Engeln oben ist. Ich weiß, dass sie tot ist. Aber ich glaube daran, dass sie jetzt mit meiner Mama zusammen auf einer Wolke sitzt und uns beschützt. Jetzt hast du auch deinen eigenen Schutzengel, Louis."
Ich schniefte. Fizzy als mein persönlicher Schutzengel. Ich sollte wohl auch daran festhalten. Ich blickte nach oben zu dem bewölkten Himmel. Vielleicht saß sie ja wirklich da oben und behielt mich im Auge. Ich stellte mir vor, wie sie mit einem Lächeln im Gesicht beobachtete, wie ich wieder einmal die Treppen runter purzelte, oder gegen eine Tür lief.
Sie würde sich schlapp lachen, da oben.
„Danke, Violetta. Das hilft mir wirklich sehr. Hast du Fizzy vorhin eigentlich noch was erzählt?"
Sie nickte traurig. „Ich habe ihr von Mama erzählt. Vielleicht werden sie da oben ja jetzt beste Freundinnen. Und ich habe ihr gesagt, dass sie auf dich aufpassen soll. Weil ich dich lieb habe, Louis. Und weil Papa mir erzählt hat, dass er dich auch lieb hat. Also soll sie dich beschützen."
„Ihr habt mich lieb?" Ich kniff meine Augen zusammen. Tränen quollen in Strömen daraus hervor.
Sie nickte. Ich konnte nicht anders. Ich fiel auf meine Knie und schloss sie in meine Arme. „Ich habe euch beide auch lieb, Violetta. Du glaubst gar nicht wie sehr."
Als ich aufblickte, sah ich wie Harry wieder zu uns trat. Er legte seine Hand auf meinen Oberarm. Kommentarlos. Er ließ mich einfach seine Nähe spüren.
Ich stand wieder auf, strich Violetta einmal über die Haare und lehnte mich gegen Harry. Er legte sofort einen Arm um meine Taille. Mit der anderen Hand hielt er Violetta.
Seine Nähe brauchte ich augenblicklich wie die Luft zum Atmen.
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