XLI
× 2,5 Hours ×
× Aya ×
Es war kalt – verdammt kalt. Aber das spielte jetzt keine Rolle, denn ich hatte ein klares Ziel vor Augen. Ich wollte nicht, dass Morris sich Sorgen macht, weshalb ich ihm das mit der Abtreibung und dem länger Bleiben geschrieben hatte, aber in Wirklichkeit ging ich zu Ryou.
Ich muss einfach Antworten bekommen. Alle, es darf keine vergessen gehen. Sein Tod ist unvermeidbar und das war mir nun mittlerweile mehr als bewusst. Trotzdem wollte ich ihn erst mit dem Wissen, wie er zu dieser Person geworden ist, loslassen. Vorher werde ich ihn nicht gehen lassen. Auf gar keinen Fall.
Mir war klar, dass er mich wahrscheinlich gar nicht sehen möchte, aber er würde keine Chance haben, mich abzuwimmeln und da musste er jetzt durch. Schließlich hatte ich das Recht dazu, alles zu erfahren.
Der Handwärmer lag immer noch an derselben Stelle, wo er mir aus der Hand gefallen war und ich drückte die Klingel. Ich wusste, dass er zu Hause war. Mittlerweile versuchte er es gar nicht mehr zu verstecken, denn das Licht brannte im Wohnzimmer.
«Ich bin's.» Ich wusste, dass er mich hören konnte, außerdem spürte ich seine Präsenz. Er stand mir gegenüber, nur die Tür zwischen uns. «Warum bist du hier?» «Ich will es wissen.» Am Türknopf rüttelnd schluckte ich mein letztes Zögern herunter.
Angst hatte ich keine, jedenfalls nicht mehr. Kian wollte mich töten, doch Ryou hatte es verhindert. So viel wusste ich bereits. Ich, wir alle kannten Kian Walker und seinen Werdegang. Jetzt möchte oder muss ich aber wissen, wer Ryou Mercier ist und warum er so geworden war, wie er heute ist.
«Wir beide wissen, dass du wahrscheinlich nicht mehr lange leben wirst. Also bitte lass mich rein - in dein Haus und in deinen Kopf. Ich will dich verstehen. Bitte erkläre es mir, Ryou.» Er blieb stumm. Dachte er darüber nach oder plante er, mich hier draußen stehenzulassen?
Ich würde es ihm zutrauen. Mir war klar, dass es für keinen einfach ist, über sich selbst zu sprechen, vor allem, wenn man es nicht einfach oder gar miserabel hatte. Das, was ich von ihm verlangte, war viel zu viel, aber er schuldete es mir. Und wenn er nicht über seinen Leben sprechen möchte oder kann, so will ich wenigstens wissen, ob seine Gefühle genauso falsch wie Kian waren.
Die Stille, der wir ausgesetzt waren, wurde immer bedrückender und ich verstand langsam, dass er sich mir nicht öffnen würde. Ein Seufzen entkam meinen Lippen, als ich meine linke Handfläche gegen die Tür presste.
«Okay, ich akzeptiere es. Aber du musst wissen, dass ich dich nicht hasse. Du denkst das vielleicht, weil du mir etwas vorgespielt hast, aber ich weiß – schließlich habe ich den Unterschied deutlich gesehen – dass du eigentlich kein Mörder bist. Ja, du hast Leute getötet und dafür wirst du bestraft werden, aber ich bin mir sicher, dass Ryou Mercier nicht Kian Walker ist. Ihr seid nicht dieselben. Was auch immer dir widerfahren ist: Es hat dich gezwungen, eine Mauer um dich aufzubauen und diese hast du Kian genannt. So viel habe ich verstanden und wenn du wirklich nicht mit mir reden willst, kann ich mich mit dieser Tatsache zufriedengeben. Es ist okay.»
Meine Hand erschlaffte und erst jetzt bemerkte ich Tränen, welche meinen Augen entflohen. Es tat weh und ich wollte es eigentlich gar nicht wahrhaben, aber manchmal geht es einfach nicht anders.
Kian gab es nicht und Ryou wollte nicht mehr. Es hatte ihn einmal gegeben, aber irgendetwas hat ihn so sehr zerstört, dass er sich selbst vergraben hat. So tief, dass man ihm und den Taten, die seine Maske vollbracht hat, nicht mehr verzeihen kann, doch mir ging es hier nicht darum.
Ich hatte Hoffnung, man würde ihm noch helfen können. Ryou befand sich auf der Zielgeraden zum Tod, doch das hieß doch nicht, dass er die letzten paar Meter alleine hinter sich bringen musste.
So wie ich alles verstehe, war dieser Mann sein ganzes Leben lang allein gewesen. Er verdiente es nicht auch noch, alleine zu sterben. Und vielleicht sprach meine Liebe für ihn in mir, doch ich würde an dieser Ansichtsweise festhalten, bis es ihm gut gehen wird und er in Frieden ruhen kann.
Meinen Kopf senkend blickte ich auf meine Schuhe, doch im Augenwinkel konnte ich trotz der vielen Tränen erkennen, wie sich der Türknopf zu drehen begann. Ich vergaß für kurze Zeit zu atmen, als er vor mich trat und mich mit Blut unterlaufenden Augen ansah.
Seine Wangen waren von unzähligen Tränen bedeckt. Ich zögerte: Sollte, oder konnte ich ihn in die Arme nehmen? Würde er das überhaupt zulassen? Doch mir wurde schnell klar, dass dies jetzt keine Rolle spielte.
Meine Hände bewegten sich von alleine, als sie ihm die Tränen unter den Augen wegstrichen und ich sah zu ihm auf in seine hellblauen, aber doch dumpfen Augen. Ich zuckte leicht zusammen, als er bei mir dasselbe tat und mich aus seinen doch so laut schreienden Augen ansah. Sie schrien lauter, als ich oder jeder andere es könnte.
Er zitterte und seine Hände fühlten sich eiskalt an. Dennoch ließ ich sie auf meinen Wangen weilen. Ich ließ ihn mich berühren und spüren. Ich war mir sicher, dass er das gerade brauchte. «Ich bin hier, okay? Du musst nicht alleine sein. Niemand hat das gesagt.» Ich legte meine Hände auf seine und schloss meine Augen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich wusste, dass es das nicht aus Angst tat. Nein, es freute sich, dass der Fremde vor ihm sich ihm einen winzigen Spalt geöffnet hatte. «Ich bin nicht hier, um dich zu verurteilen. Ich bin nicht als Polizeibeamte hier. Ich bin hier als Aya, verstanden?»
Er nickte langsam und senkte seinen Blick. «Und ich bin hier als Ryou», murmelte er. Mich erschütterte, wie sehr ein Murmeln doch mit Schmerz und Reue gefüllt sein kann. Ich löste seine Hände von meinen Wangen und hielt sie noch fester als vorhin in meinen.
Es kostete mich Mut, da ich nicht wusste, wie weit der Mann vor mir wirklich bereit war zu gehen, aber ich wagte es, einen Schritt an ihn heranzutreten, sodass ich nah an seiner Brust stand und ihm direkt in seine Augen schauen konnte.
«Sag mir, Ryou. Was ist passiert?» Er schluckte, da ich ihn meinem Blick nicht entkommen ließ, aber blieb ruhig stehen. Er wusste insgemein, dass ich ihm nichts Böses wollte.
Ich fragte mich, ob er sich auch im Klaren darüber war, dass ich ihn liebte. Wusste er das auch oder denkt er immer noch, dass ich ihn verabscheue, weil er sich als jemand anders ausgegeben hat?
«Meine Eltern», startete er, aber er stoppte abrupt, so, als hätte man ihn mit einer Peitsche geschlagen. «Sie leben nicht mehr, nicht wahr?» Ich versuchte ihm entgegenzukommen, da er offensichtlicher Weise nicht wusste, was er sagen sollte.
Meinem Instinkt zu Folge wagte ich es sogar zu behaupten, dass er eine Menge zu erzählen hatte, er aber nicht wusste, wie und wo er beginnen sollte. Bestimmt, weil ihm noch nie jemand zugehört hat. Aber das waren nur Vermutungen. Ich weiß natürlich nicht, was Tatsache ist.
«Suizid?» Als ich dieses Wort vorsichtig über meine Lippen schleichen ließ, konnte ich es nicht vermeiden auf seine verbundenen Arme zu schauen. Langsam, da ich ihm nicht zu nahekommen wollte, langte ich nach seinen Unterarmen und fühlte die Verbände.
«Meine Mutter, ja. Mein Vater-» Er stockte und presste seine Augenlider fest aufeinander. «Ich habe ihn getötet.» Dann lag ich also richtig. Ryou hat den Suizid seines Vaters gefälscht, um selbst davonzukommen. «E-er-»
Es tat mir weh, zuzusehen, wie er vor mir zerbröckelte – wie eine steinalte Mauer - aber ich wusste, dass es ihm schlussendlich nur helfen wird, mit mir darüber zu reden. «Er hat meine Mutter- und er hat mich- und-» Ich ließ seine Arme los, als ich merkte, dass er selbst mit den ganzen Emotionen, die er mir zeigen wollte, überfordert war.
Sanft, aber bestimmt, umgriff ich seine Wangen und holte ihn aus dieser Spirale, in die er vorlauter Erinnerungen gefallen war, wieder heraus. «Hey.» Ich suchte seinen Blick und als ich diesen gefunden hatte, streichelte ich ihm mit meinem Daumen über seine Wange.
«Langsam, okay. Wir haben alle Zeit der Welt. Du musst das nicht alles ganz schnell rausrattern.» Er nickte, aber so schwach, dass selbst ich, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt stand, es kaum erkennen konnte. «Er hat meine Mutter misshandelt und in den Tod getrieben. Er hat es jeden verdammten Tag gemacht. Er hat sie geschlagen, getreten, geschubst und für seine Lust benutzt. Er-»
Ich schloss meine Augen, als ich mich an etwas erinnerte. An den Tag, an dem wir das Mädchen vor dem alten Herrn gerettet hatten. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt bereits hiervon gewusst, hätte ich Ryou ansehen können, dass sich in ihm ein Trauma von Vergewaltigung und Misshandlung versteckt hielt.
Seine Augen hatten denselben Blick, wie sie ihn jetzt gerade zeigten. Der Blick eines kleinen, verlorenen Jungen, der zusehen musste, wie seine Mutter zerstört wurde. Der, der zusehen musste, wie ein Mensch gegen seinen Willen betrogen und gehasst wurde.
Morris war der Erste, der aus seiner Starre ausbrechen konnte, und er packte Kians Oberarm, um ihm zu zeigen, dass er seine Hilfe brauchen könnte. Ich weiß nicht, ob er es merkte, aber er hatte sich an meinem Mantel vergriffen. So, als würde er mich vor dem Mann vor uns beschützen wollen.
Mir ging ein Licht auf, als ich mich an seine Worte, die er mir gesagt hatte, nachdem der Krankenwagen mit dem Mädchen davongefahren war. Er hat nie gelogen. Ryou brach immer wieder durch die Maske. Er versuchte um Hilfe zu bitten, aber Kian ließ es nicht zu.
«Nein, so etwas ist mir noch nie passiert, aber zählt es auch, wenn ein Mörder bei dir zu Hause auftaucht und deine Mutter gegen ihren Willen verletzt?»
Ich musste schlucken. Meine Kehle schnürte sich langsam zu. Warum war ich nicht aufmerksamer gewesen? Ich hätte es viel früher bemerken können. Aber hätte das denn überhaupt einen Unterschied gemacht? Wahrscheinlich eher weniger.
Ich wollte Ryou nicht mit meinen Worten und Gedanken unterbrechen, weshalb ich still blieb und ihn eng umarmte. Ich zeigte ihm so, dass ich ihm zuhörte. Jetzt, in diesem Zeitpunkt, spielte es keine Rolle, was er getan hatte und wie schlimm alles war.
Jetzt möchte ich ihm einfach die Möglichkeit geben, sich geborgen und geliebt zu fühlen, denn basierend auf seinem Zustand war klar erkennbar, dass Zuneigung ein Fremdwort für Ryou Mercier war.
Er würde seine Strafe schon noch bekommen. Da musste ich ihm nicht alles noch schlimmer machen. Ich möchte helfen und ihm zeigen, dass ich ihn verstehen will.
So habe ich es ihm gesagt, als ich dachte, er wäre Kian und so würde ich es ihm auch jetzt immer noch sagen. Ich stand zu meinen Worten. Es ist wichtig, beide Seiten zu kennen und zu verstehen, bevor ich ein Urteil fälle.
«Meine Mutter hat mich immer beschützt und vor ihm versteckt. Sie hätte immer wegrennen können, aber sie ist geblieben. Ich weiß nicht, wieso. Sie hätte mich mitnehmen können, aber nein. Sie blieb und ließ das alles über sich ergehen. Ich verstehe nicht, warum und was sie mit ihrem Bleiben erreichen wollte, aber vielleicht liebte sie meinen Vater doch auf irgendeine komische Art und Weise.»
Ich ging einen Schritt zurück, um dem Gefallenen in die Augen sehen zu können. «Aber das würde keinen Sinn ergeben. Schließlich sprachen ihre Schreie, die sie seinetwegen von sich gab, für sie. Er hat sie gequält und wie Dreck behandelt.» Weitere Tränen stahlen sich ihren Weg über seine Wangen und mit zusammengepressten Lippen konzentrierte ich mich auf sie, um sie anschließend sanft wegzustreichen.
«U-und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, waren ihre Hilfeschreie und ihr Flehen das Einzige, was ich in meinem Kopf hören konnte. Selbst wenn sie es nicht tat. Es hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Selbst jetzt-», er deutete auf seinen Kopf und presste seine Augenlider fest aufeinander, als würde ihm tatsächlich jemand laut ins Ohr kreischen, «Auch jetzt. Ich höre sie laut und deutlich. Ich höre, wie er sie ins Bett drückt und ihr ihre letzte Hoffnung oder Freude am Leben nimmt. Ich höre die Schläge. Jeden verdammten Hieb und jedes verdammte Mal fühlt es sich so an, als würde er mich schlagen.»
Ich erschrak, als Ryou meine Oberarme packte und mir starr in meine Augen sah. So, als wäre es ihm äußerst wichtig, dass ich seine nächsten Worte glasklar wahrnehme und nie mehr vergesse. «So konnte ich nicht leben. Ich versuchte diesen Schreien zu entkommen, aber es ging nicht. Auch nach ihrem Tod. Sie wurden immer lauter und schriller. Ihre Schreie sind das, was anstelle toller Kindheitserinnerungen oder Erlebnissen in meinem Kopf herumschwirrt. Es gibt keine ruhige Minute in meinem Kopf. Aber-»
Er neigte sich langsam zu mir herunter und blickte zu Boden. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig und ich begann langsam zu verstehen, aber ich wollte ihm nicht zuvorkommen. Ich war mir sicher, dass er es gleich selbst sagen würde. Der Grund. Sein Grund fürs Töten.
«Aber an dem Tag, an dem ich meinen Vater getötet habe - Dieser Rausch. Dieses laute Rauschen meines Blutes. Es hat ihre Schreie übertönt. Es hat mich entspannt. Ich konnte loslassen. Es ist wie eine Droge, weißt du?» Eine Droge. Mein Kopf nickte wie von allein. Ich weiß, Ryou.
Ich konnte ihn verstehen. Er hat das High, das ihm das Töten verabreicht hat, regelrecht gejagt, weil es ihm half, selbst klarzukommen. Aber anscheinend verlor es mit der Zeit an Wirkung.
«Aber dann kamst du. Auch Morris und Val. Ich hatte Freunde. Das hatte ich mein ganzes Leben lang nicht. Jedenfalls keine richtigen. Ich hatte nie jemanden, der sich für mich interessiert hat.» Ich zog die Haustür hinter mir zu, als mir bewusst wurde, dass wir uns noch eine Weile unterhalten würden und ehrlich gesagt war froh darüber.
«Aus Angst wieder verletzt zu werden, wollte ich dich töten. Diese Gefühle, die du von Anfang an in mir ausgelöst hast, taten so sehr weh. Es war so, als hätte man mir glühendes Eisen auf die Brust gedrückt. Und in der Nacht, in der wir aufeinandergetroffen sind, hast du mir solche Angst gemacht. Ein Teil in mir wollte die Lichter anmachen und dir alles beichten, aber der Drang nach dem High war größer.»
Meine Augen begannen zu tränen, als ich zusah, wie der Mann vor mir offen und klar zeigte, dass er seinen Werdegang bereute. «Weißt du, ich will sterben, aber deinetwegen auch wieder nicht. Vor allem jetzt auch, weil-» Er stoppte in seinen Worten und seine Augen wanderten runter zu meinem Bauch. Ich atmete leise aus und mir wurde ganz warm.
«Bevor ich dich kannte, habe ich es so oft versucht. Ich habe Tabletten geschluckt, ich habe sogar versucht, mir die Kehle durchzutrennen, aber es hat nie geklappt. Ich bin immer wieder aufgewacht.» Mein Blick fiel auf die riesige Narbe in seiner Halsbeuge und ich schluckte.
Ich habe erwähnt, dass mein Vater Polizist war, oder?» Auf seine Worte fixiert, nickte ich und befeuchtete meine Lippen. «Er war es, bis bei uns zu Hause jemand eingebrochen ist und meinen Vater töten wollte.» Die Luft in meiner Lunge raste aus ihr heraus, als ich begann zu verstehen. «Ja, genau dieser jemand. Und ich habe es mitbekommen. Und nein, mein Vater starb nicht. Stattdessen hat dieses Monster versucht, mir das Leben zu nehmen, weil ich es gesehen habe. Weil ich helfen wollte und dagegen ankämpfte. Wäre meine Mom nicht so schlau gewesen und hätte die Polizei gerufen, würde es mich vielleicht nicht mehr geben.» Kian kam mir betrübt vor, als er davon erzählte und mir ging ein Licht auf.
Das Wort Monster hatte eine Doppelbedeutung und er hat es in einer glaubwürdigen Lüge versteckt. Ich hätte das nie erraten können, aber jetzt, wo ich alles erfahre und er mir alles erzählt, konnte ich mich immer mehr an Hinweise erinnern, die er mir und den anderen gegeben hat.
Hinweise, die Ryou hinterließ und Kian elegant verdeckte.
*seufz*
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