Zweiter Versuch
Meine Mutter rief mich. Eigentlich sollte ich jetzt aufstehen um zur Schule zu gehen, aber dazu war ich einfach noch nicht bereit dazu. Es war so schön hier im Bett. Stöhnend drehte ich mich auf die andere Seite und zog mir die Decke bis zur Nasenspitze. Nur noch fünf Minuten.
Plötzlich wurde mir die Decke weggerissen und eine Welle der Kälte überrollte mich. Empört riss ich die Augen auf. Das würde Mia nicht noch einmal wagen.
"Jetzt kannst du was ERLEBEN!", schrie ich, als ich aus dem Bett sprang. Angriffslustig sah ich mich in meinem Zimmer um und bemerkte, dass ich mich nicht in meinem Zimmer befand. Nicht mal in unserer Wohnung oder in sonst irgendeinem Raum, den ich kannte. Ich stand in einem kahlen Zimmer, dessen Wände aus nacktem Beton bestanden und dessen einziger Ausgang eine massive Stahltür war.
Und was noch schlimmer war: Vor mir, zwischen der Tür und mir, standen zwei Leute: Niklas, der schuldbewusst auf den Boden starrte, als würde er mein Geschrei grade persönlich nehmen. Neben ihm stand der großer hellhäutiger Mann mit schwarzer Kleidung, außerdem schwarzen Handschuhen und schwarzer Mütze, der Niklas mit hochgezogenen Augenbrauen ansah und meine Decke in den Händen hielt.
"Ist die immer so?", fragte er gehässig in Niklas Richtung.
Im hintersten Winkel meines Gehirns regte sich eine Erinnerung. Ein schwarz gekleideter Mann der auf Niklas zuging und wie der kurz darauf einfach umkippte. Ängstlich machte ich einen Schritt zurück und prompt flackerten die beiden in hellem Licht auf. Super, jetzt konnte ich die beiden kaum noch erkennen.
"Niklas, du kannst jetzt wieder aus deinem Schneckenhaus herauskommen. Sie hat nicht dich gemeint.", sagte der große Mann spöttisch. Niklas hob seinen Kopf, oder besser seinen Schädel.
"Geht's mit dem Licht?", fragte er vorsichtig.
Ich nickte und sagte dann leise, "Aber ich würde gerne wissen wo ich bin." Vorsichtig sah ich den Mann an. Auf keinen Fall wollte ich eine zweite Ladung Gift verpasst bekommen.
"Du bist an einem Zufluchtsort für Mutanten.", antwortete der Mann stolz, als wäre es etwas Gutes ein Mutant zu sein. "Ich bin Jelly und arbeite gewissermaßen hier."
Ich nickte und sah Niklas fragend an, "Und was soll ich jetzt hier?" Ich wusste die Antwort zwar schon, aber ich wollte es einfach nicht glauben.
"Streng mal dein hübsches Köpfchen an, meine Kleine. Warum könnte Changer dich zu einem Treffpunkt für Mutanten gebracht haben?", antwortete wieder dieser 'Jelly'.
Ich schüttelte den Kopf. "Ihr verarscht mich doch alle! Wo ist die versteckte Kamera?", rief ich und lachte hysterisch. Besser durchgedreht rüberkommen als komplett die Fassung verlieren
"Du bist ein Mutant.", sagte Niklas beinahe niedergeschlagen, "daran lässt sich nichts ändern. Ob du es nun glauben willst oder nicht."
"Nein, bin ich nicht. Ich hatte noch nie seltsame Kräfte. Und diese Kräfte sind angeboren, also ich bin kein ...", begann ich.
"Bis vor kurzem.", sagte Niklas und schaute mich unglücklich an, als wäre es seine Schuld, das ich plötzlich Sachen sah, die nicht da waren.
Ich schüttelte energisch den Kopf, wie ein kleines stures Mädchen, als mich der große Mann plötzlich angriff. Es begann mit einem Impulsausbruch im Gehirn, der in den linken Arm hinabraste. Der hob sich nun langsam. Wie in Zeitlupe sah ich die Faust auf mein Gesicht zurasen. Erschrocken hob ich meine Hände und versuchte die Wucht des Schlages abzufangen. Gleichzeitig zog ich die Energie der Muskeln aus dem Arm, um den Angriff weiter abzubremsen. Kurz vor meinem Gesicht stoppte die Hand. Offensichtlich hatte ich es damit etwas zu gut gemeint, denn der große Mann ging keuchend in die Knie. Sofort ließ ich seinen Arm los und wich bis in die Ecke des Raumes zurück. Vorsichtig schielte ich auf meine Hände. Soweit ich das sehen konnte sahen sie aus wie immer. Oder besser sie sahen aus wie immer, wenn ich Leuchtgestalten sah.
"Glaubst du es nun?", fragte Jelly, der sich grade wieder auf die Beine kämpfte und dabei seinen Arm ausschüttelte. "Wie viele normale Menschen und Nicht-Mutanten sind wohl dazu in der Lage?"
"A-Aber das ist nur vorübergehend. Das geht ja a-auch wieder weg.", sagte ich fest überzeugt.
"Nein, meine Liebe. Das geht nicht weg.", sagte dieser Jelly belustigt.
Halt suchend lehnte ich mich an die Wand. Aber das verhinderte nicht, dass meine Welt in sich zusammen fiel wie ein Kartenhaus. Für Mutanten gab es kein normales Leben. Keine Zukunft. Sie waren da, sollten aber eigentlich nicht existieren. Und so wurden sie auch behandelt. Auf einmal erinnerte ich mich an all die Fernsehbeiträge über Mutanten die amokgelaufen waren, die an ihren Kräften gestorben waren und die in geheimen Laboren als Versuchskaninchen benutzt wurden. Ich war keine von denen ... bestimmt nicht! ... Aber was, wenn doch . . . ?
Ich schloss die Augen und ließ mich an der Wand hinuntergleiten. Mein Leben war ein Scherbenhaufen.
Ich saß eine unbestimmbare Zeit in der Ecke des Raumes und starrte bewegungslos an die gegenüberliegende Wand. Schließlich verließen Niklas und Jelly ratlos den Raum, nachdem sie eine Zeit lang versucht hatten mit mir zu reden. Danach kam ein anderer Mann hinein und redete auf mich ein. Doch ihn beachtete ich ebenso wenig. Nichts davon interessierte mich oder war von Bedeutung. Selbst wenn ich die Tatsache verstecken konnte, dass ich ein Mutant war, so würde ich doch niemals ein normales Leben führen können. Niemals.
Immer mehr Gedanken und Vorstellungen stürzten auf mich ein und malten immer dunklere Bilder von meiner Zukunft. Der Untergrund, Gefängnisse, Labore. Mein Kopf schien zu bersten unter der Last der Bilder. Ein Strudel aus Bildern, Tönen und Verzweiflung.
Plötzlich blitzte ein helle Licht in meinem Kopf auf und ich dachte an nichts mehr. Alles war wie weggeblasen. Ich blinzelte verwirrt und sah den Mann an, der sich vor mir im Schneidersitz niedergelassen hatte. Bis jetzt hatte ich ihn kaum wahrgenommen. Ich schätzte ihn auf ungefähr 30. Er war eher klein als groß und schien sonst ein völliger Durchschnittstyp zu sein. Er hatte kurze braune Haare und grün-braune freundliche Augen. Alles in allem sah er ganz normal aus. Allerdings schien er sich grade ziemlich angestrengt zu haben, denn auf seiner Stirn standen Schweißperlen und er atmete schwer.
"Du hast es mir aber nicht grade einfach gemacht. Puh ... Geht's wieder?", fragte er und lächelte freundlich.
"Wer zum Teufel bist du!?", fragte ich gehetzt. Fast augenblicklich war ich auf den Füßen.
"Das nehme ich jetzt mal als ein Ja. Ich bin Psycho (englisch ausgesprochen). Hier bin ich vor allem für Probleme zuständig, die etwas Gefühl brauchen. Du hast sicher gemerkt, dass das nicht grade Jellys Stärke ist."
Ich nickte langsam, während ich schnell Ordnung in meinem Kopf schaffte. Mit Panik würde ich nicht weiterkommen.
"Ich soll dich mit den Regeln hier vertraut machen. Jelly hat dir schon erzählt wo wir hier sind?" Ich nickt leicht. "Irgendwas mit Mutanten ...", sagte ich leise.
"Äh ja ... so ungefähr stimmt das schon. Gut. Ist nicht viel. Bereit?", sagte Psycho und sah mich aufmunternd an. Irgendwie beruhigte ich mich und ich nickte, wenn auch zögernd.
"Also Regel 1: Keine Fremden. Ist zu unserem Schutz, damit kein Agent, IM oder wie sie alle heißen uns findet. Verstanden? Damit versteht Jelly gar keinen Spaß. Hast du ja oben schon gesehen. Niklas hat dich mitgebracht ohne es vorher anzumelden. Also es ist sehr wichtig, dass ...", sagte Psycho. Was für ein seltsamer Name das war fiel mir jetzt auf.
"Heißt du wirklich 'Psycho'?", fragte ich neugierig.
Psycho lachte belustigt. "Nein, aber das wäre mein nächster Punkt gewesen. Wir benutzen Codenamen, damit keiner unsere wirklichen Name verraten kann, wenn er gefangen wird."
Ich nickte wieder. Das machte Sinn. Die schienen das ja alle sehr ernst zu nehmen.
"Und Ni... der, der mich hergebracht heißt hier Changer?", fragte ich dann.
"Genau. Kluges Kind.", lobte Psycho mich.
Irgendwie war es angenehm mit ihm zu reden. Er war sehr freundlich und es herrschte eine angenehme Atmosphäre. Ich spürte wie ich mich von Sekunde zu Sekunde mehr beruhigte. Langsam setzte ich mich wieder.
"Und wie kommt ihr auf die Codenamen?", fragte ich weiter.
"Meistens haben sie etwas mit unseren Fähigkeiten zu tun. Rate mal was ich kann.", sagte Psycho und grinste schief.
"Gedanken lesen?", riet ich.
"So in etwa. Ich kann Gefühle erkennen und teilweise sogar ein paar Gedankenfetzen aufschnappen. Aber ich bin kein so starker Mutant wie Jelly oder Changer.", sagte sich Psycho.
"Changer ...", grübelte ich weiter. Dieser Name war nicht so einfach. "Kann er sich an die Umgebung anpassen oder so?", fragte ich unsicher.
"Ne. Aber das ist auch kein einfacher Name.", verneinte Psycho. "Versuch es mal mit Jelly.", sagte er dann.
"Klingt nach Gelee.", sagte ich und grinste. Ich stellte mir den großen hageren Mann grade als einen grünen Wackelpudding vor. Irgendwie war Jelly plötzlich gar nicht mehr so furchteinflössend.
Psycho brach in schallendes Gelächter aus. "Dieses Bild ... Gott nein ...", keuchte er. "Ich werde ihn nie wieder ansehen können, ohne an Götterspeise zu denken.", kicherte er weiter. Ich grinste auch ein bisschen. Psycho war voll ok.
Erst nach ein paar Sekunden hatte er sich wieder etwas beruhigt. "Gut das Jelly das nicht gesehen hat.", sagte er, immer noch keuchend und außer Atem vom Lachen.
"Aber leider falsch. Der Name kommt von 'Jellyfish'.", sagte er.
"Qualle?!", fragte ich verdutzt.
"Besonders Jellys Hände, aber auch andere Körperteile, sind im Prinzip wie die Tentakeln einer Qualle. Bei Berührung spritzen sie Gift unter die Haut. Deshalb ist er immer so eingepackt. Er will keinen unnötig vergiften.", erklärte Psycho. Ich grinste. Wenn man ein schon Mutant war wollte man ja wirklich nicht die "Superkräfte" einer Qualle bekommen. Armer Wackelpudding.
"Aber wenn wer seine Regeln bricht, dann setzt er das gerne ein um einen wieder auf seinen Platz zu verweisen.", warnte mich Psycho mit ironischem Unterton.
"Und was kann Changer ...", begann ich wieder zu fragen.
Aber in diesem Moment ging die Tür auf und Jelly kam herein.
"Genug geredet. Ich muss dir noch die Anlage zeigen, wir haben nicht ewig Zeit. Psycho, danke für die Hilfe.", sagte er kühl und blickte Psycho genervt an. Dann verließ er den Raum so schnell es ging. Irgendwas stimmte zwischen den beiden nicht.
"Jaja, unser Jelly. Immer im Stress.", witzelte Psycho. "Lass dir die anderen Regeln von Niklas erklären. Er sollte sie mittlerweile alle können. Er hat eigentlich für jede Regel schon einmal Gift kassiert.", überlegte Psycho.
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