Kapitel 14: Sicht Tessa
-drei Tage zuvor-
Mein Ziel war die Psychiatrie.
Das klang verrückt, aber ich hatte Rache geschworen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich musste, schließlich wusste ich nicht, wo ich mich zurzeit befand.
Doch ich würde sie finden.
Und falls es dort noch Überlebende gab, würde ich sie alle, jeden einzelnen, töten. Ihr warmes Blut würde durch meine Finger laufen.
Es wäre ein perfektes Massaker.
Doch zuerst musste ich aus diesem verfluchten Garten herausfinden.
Ich bog immer wieder um, lief durch weitere hohe Bögen, drehte wieder um, umrundete es.
Überall waren Büsche, höher als ich selbst.
Meine Füße wurden zunehmend schwerer. Mein Kopf schwirrte. Von der vorherigen Euphorie war nichts mehr übrig.
Ich setzte mich auf das Gras am Rand des grauen Pfades aus Kieselsteinen.
Erschöpft lehnte ich mich an den Busch hinter mir.
Es gab keinen Ausweg. Das musste ich einsehen.
Doch mein Kopf wollte nicht. Irgendwie waren Cam und ich hierher gekommen. Irgendwie kam ich hier auch wieder raus.
Jedoch nicht jetzt. Mein Körper war zu erschöpft.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und so war mir nicht bewusst, wie lange ich nach einem Ausweg gesucht hatte, aber es fühlte sich an, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
Meine Seiten pochten, ich keuchte nach Luft ringend.
Jetzt brauchte ich zuerst eine Pause.
Also holte ich das kleine Büchlein heraus und begann die ersten Wörter zu lesen und erschrak.
Grob blätterte ich durch das Heft. Es war durchgehend in kleinen unordentlichen Buchstaben beschrieben. Meiner Schrift.
Hatte ich das geschrieben?
Bis jetzt hatte ich nur das Datum in der Ecke angesehen. Dabei handelte es sich um einen Tag, etwa eine Woche, bevor meine Erinnerungen begannen. Also etwa eine Woche, bevor ich in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
Ich wusste nichts davon, dieses Buch geschrieben zu haben. Es könnte sein, wenn ich jenes getan hatte, vor der Zeit, von der ich noch wusste.
Ohne es zu bemerken hatte ich das Buch zugeschlagen. Doch jetzt öffnete ich es erneut und las die ersten Sätze:
Das geht an das Mädchen, dass gut ist, aber nie gut genug. Das hübsch ist, aber nie hübsch genug. Das schlau ist, aber nie schlau genug. Das Bett ist, aber nie nett genug. Aber vor allem geht es an das Mädchen, dass verliebt, aber nie verliebt genug.
Hi Tess!
Ja, das war definitiv meine Schrift.
Aber was sollte das bedeuten?
Nie genug.
Es hörte sich an, wie jemand, der aß, aber nicht satt wurde. Der sich alles abverlangt, aber denkt, er könne mehr.
Ich setzte mich anders hin und dabei fiel etwas aus den Seiten des Heftes.
Es war eine Haarlocke.
Auf der einen Seite war sie schwarz, doch auf der anderen grau. Die beiden Farben gingen übereinander, vermischten sich, verschwimmen und wurden eins.
Waren das Haare von jemandem, bei dem sich jene verfärbten?
Aber weshalb hätte sich sie hineinlegen sollen?
Meine konnten es nicht sein.
Sie waren zwar schwarz, aber das durchgehend.
Cam? Nein, er war braunhaarig.
Vielleicht jemand aus meiner früheren Familie.
Weshalb dachte ich so? Meine Familie von damals war es noch immer. Vielleicht sollte ich sie finden. Doch ich hatte keine Ahnung, wo ich herkam.
Ich blätterte ein paar Seiten um und las an einer anderen Stelle weiter:
Alle reden immer darüber, perfekt zu sein. Aber ich möchte aus Fehlern bestehen. Davon habe ich schon so viele gemacht.
An viele daran erinnerst du dich. An viele auch nicht. Weil ich sie gelöscht habe, oder weil es sich dabei nur um die kleinen handelt, die man selber gar nicht die bemerkt und einem allerhöchstens auffallen, wenn andere einen darauf hinweisen.
Dabei handelt es sich dann immer um diejenigen, die vorgeben, perfekt zu sein.
Ich verstand diese Texte nicht.
Und plötzlich verschoben sich die Buchstaben. Sie verschwommen ineinander und stellten sich als eine Fratze dar.
Spitze Zähne, unheimliche Gesichtszüge, rote Augen.
Wieder verschwommen die Linien und setzten sich zu etwas anderem zusammen.
Es waren zwei Menschen auf einer Schaukel sitzend. Eine der Personen hatte lange Haare, die im Wind wehte. Unter ihnen steckte eine Reihe von Schwertern in der Erde, mit der Klinge nach oben.
Ich sah, dass die Schaukel vor- und zurückschwang.
Plötzlich fiel die eine Person mit den langen Haaren von der Schaukel und landete direkt auf der Klinge. Die andere Person sprang hinunter, doch kümmerte sich nicht um die Gestürzte, sondern benutzte sie als Brücke, um sicher an den Schwertern vorbeizukommen, wodurch er den Körper noch tiefer in das Stahl hineindrückte.
Und dann erinnerte ich mich.
Aus einem anderen Blickwinkel hätte man mich sehen können.
Ich hockte damals mit sechs Jahren in dem Baum, der die Schaukel hielt.
Ich hatte mit meinem Bruder verstecken gespielt doch war nie zurückgekehrt.
Mich hatte dieser Junge so fasziniert. Die ganze Zeit über hatte er fröhlich mit seiner Freundin geredet, aber dann stoß er sie unauffällig hinunter.
Ich war ihm gefolgt in eine große Höhle mit einem Eingang in Form der Fratze. Dort waren noch andere Menschen. Sie hatten mich entdeckt, ihre Gesichter waren voller Blut und fragten mich, ob ich auch zum Ring gehörte. Ich verstand damals nichts von dem, was sie sprachen. Aber ich wollte gerne teilhaben. Also gab ich einem Jungen meinen rosa Schmetterlingsring. Es war Cam.
Die anderen stritten sich. Sie meinten, eigentlich hätte ich die Höhle gar nicht betreten können. Sie wollten mich rausschicken. Einige wollten mich töten. Andere meinten, mir würde sowieso niemand glauben, schließlich war ich ein Kind.
Aber einer setzte sich dafür ein, dass ich bleiben durfte. Es war Cam.
Er beugte sich zu mir hinunter und flüsterte mir ins Ohr: „Das sind Spielverderber, wenn sie dich nicht mitspielen lassen. Komm, wir spielen etwas zu zweit."
Es war Cam.
Es war immer Cam gewesen.
Wir kehrten gemeinsam zu dem Spielplatz zurück, doch mein Bruder war einfach gegangen.
Zwei Tage lang saß ich in der Sandgrube, wartete darauf, dass er zurückkam. Ich schlief sogar dort. Doch er kam nicht.
Cam durchsuchte die gesamte Stadt und die Akten. Nirgendwo hatte jemand seine kleine Tochter als vermisst gemeldet. Nirgendwo hing ein Zettel an einer Laterne.
Am dritten Tag verkündete Cam mir, ich müsse wohl vorübergehend in ein Kinderheim. Doch ich wehrte mich mit all meiner Kraft.
Natürlich war er stärker als ich. Er war damals schon 19 gewesen. So wie jetzt.
Doch er hatte mich trotzdem nicht dort mit Gewalt hingebracht. Stattdessen nahm er mich vorübergehend mit zu sich.
Es war nicht das große Haus von jetzt sondern eine kleine Wohnung inmitten einer Großstadt. Er erklärte mir, dass er kein festes Zuhause hatte, sondern dorthin ging, wo gerade etwas frei war. Erst später realisierte ich, dass jenes hieß, dass er ein Einbrecher war, der in Häusern wohnte, deren Besitzer zurzeit im Urlaub waren.
Nach kurzer Zeit musste Cam dort weg, da die wahren Besitzer zurückkehrten.
Eigentlich suchte er sich dann eine neue Stadt, jedoch wollte er mich nicht allein lassen, also fand er etwas in der gleichen Stadt.
Doch alle seine Freunde aus der Höhle verschwanden.
Ich redete auf ihn ein, dass er unbedingt die Stadt wechseln müsste, um seine Freunde nicht zu verlieren. Ich wollte mitkommen.
Doch Cam konnte es nicht verantworten, mich aus der Stadt mitzunehmen. Dann würde ich meine Familie nie wieder sehen.
„Aber du bist meine Familie! Die alte Familie war gar nicht so nett wie du.", meinte ich. Dann zog ich mein T-Shirt hoch und zeigte ihm etliche blaue Flecken.
Das war der Moment, in dem Cam entschloss, dass er wirklich das beste für mich war. In ein Heim wollte ich nicht, doch er konnte mich auch nicht nach Hause schicken.
Also kam ich mit ihm.
Und dann begann die beste Zeit meines Lebens.
Er unterrichtete mich zuhause, aber nur das, was er für wichtig hielt. Den Rest könne er selber nicht, meinte er.
Ich wuchs. Cam blieb gleich alt.
Ich hatte Geburtstag. Cam nie.
Er erklärte mir, er könne nicht älter werden. Doch warum eröffnete er mir erst an meinem zwölften Geburtstag.
Es war immer Cam gewesen. Er hatte mich immer beschützt. Damals, als ich über den Zaun zum Nachbar geklettert war und fast von dem Kampfhund zerfetzt wurde.
Als ich von dem komischen Mann verfolgt worden war.
Oder als ich mir heimlich im Obstgeschäft einen Apfel geklaut hatte.
Er war immer für mich da gewesen.
Seine Freunde hatten wir nicht gefunden, wegen mir hatte er sie verloren. Doch er hatte sich nie beschwert. Er habe doch mich, meinte er.
Und jetzt hatte ich ihn getötet.
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