T70.2. Das war in Heiðars Bauchdecke gestochen worden, wie Kíra am Montagnachmittag im Landspítali erfuhr. Abgesehen von zwei Stichen, die zuerst ihr Herz trafen, um sie mit einer innerhalb von wenigen Sekunden eintreten Ohnmacht ruhig zu stellen, bildeten die übrigen ein Muster, das an ein Von-Punkt-zu-Punkt-Bild erinnerte.
Als ihre Eltern Helga und Pétur sie abholten, sprach sie nicht über das, was passiert war. Ihre Mutter hatte feuchte Augen und ihr Vater einen nichtssagenden Gesichtsausdruck. Dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten, schmerzte mehr als jeder unsensible Kommentar.
Den restlichen Tag und die Tage darauf verbrachte Kíra unter einer Bettdecke, ohne zu essen oder zu sprechen. Auch nicht mit der Polizei. Sie hätte ihnen so viel zu sagen, aber sie konnte es nicht. Die meiste Zeit schlief sie. Ihre Mutter schaute tagsüber alle dreißig Minuten nach ihr und stellte regelmäßig Tabletts mit Tee und anderen Getränken, geschnittenem Obst und warmen Mahlzeiten auf ihren Schreibtisch, irgendwann auch direkt vor ihr Bett, weil Kíra in ihrer Liegeposition am ehesten noch den Fußboden erreichen konnte. Als wäre sie wieder zwölf Jahre alt, mit Pfeifferschem Drüsenfieber, nur dass sich ihr großes helles, mit Postern tapeziertes Kinderzimmer seitdem in eine gemütliche Ein-Zimmer-Wohnung mit neuem dunklen Holzboden, einem eigenen Bad und Einbauküche verwandelt hatte. Es tat ihr weh, dass ihre Eltern so verzweifelt waren, jedoch konnte sich Kíra trotz dessen nicht dazu ermutigen, etwas zu sich zu nehmen.
Einmal brachte Pétur ihr sogar einen Eisbecher und saß so lange bei ihr, bis der Inhalt vollständig geschmolzen war. Dann klingelte es an der Tür. »Erwartest du jemanden?«, fragte er, beinahe hoffnungsvoll, dass seine Tochter mit irgendwem interagierte. Kíra deutete ein Kopfschütteln an. Eine Minute später drang ein zaghaftes Klopfen von ihrer Zimmertür.
»Soll ich?« Kíra nickte langsam. Ihr Vater stand auf und öffnete die Tür.
Sie erhaschte ein vertrautes Gesicht hinter einem üppigen, ziemlich teuer aussehenden Blumenstrauß. »Oh, hallo Eric. Ich – Ich lass euch mal allein«, murmelte Pétur und schob sich an Kíras Kollegen vorbei.
»Hi.«
»Hi.« Kíra sprach.
»Wie, äh, wie geht's dir?«
Ein Seufzen. Dann wieder Tränen in den Augen.
Eric reichte ihr die Blumen. »Der ist von uns allen. Also, hauptsächlich von Ólafur und Friðrika, ehrlich gesagt.«
»Danke.« Sie nahm den Strauß langsam entgegen und legte ihn behutsam auf ihrem Nachttisch ab. »Wie geht es euch? Und dir?«
»Den Umständen entsprechend, denke ich. Es ist nur scheiße gruselig zu wissen, dass jemand von deinem PC aus etwas vertuschen wollte, der sich nicht eingehackt hat, also das Passwort kannte, und weder eingebrochen noch sonst was ist. Es würde ja auf der Hand liegen, dass du es selbst warst, aber im Ernst – wer wären wir schon, dich zu verdächtigen? Außerdem würde Fjallaloft dann ja erst recht mit einbezogen werden.« Er lächelte gequält.
»Ihr habt der Polizei also nichts gesagt?«
»Was glaubst du denn?«
Plötzlich durchfuhr Kíra ein Adrenalinschwall. »Aber es muss jemand von uns gewesen sein, Eric! Wir müssen Heiðars Mörder finden, sonst sind wir vielleicht die Nächsten! Ich meine, jetzt mal ehrlich, was bitte schön kann sie denn schon gewusst oder getan haben, dass sie dafür sterben musste?«
In Erics dunkelgrünen Augen blitze etwas auf, das Kíra auf eine alarmierende Art beunruhigte. Seine Mundwinkel zuckten nervös, so als hätte er sich nicht anmerken lassen dürfen, was sein Blick da preisgab. Ihm schien aufzufallen, dass Kíra ebenfalls wahrnahm, wie die Stimmung schlagartig kippte; im selben Atemzug waren sich beide der Situation bewusst, dass Eric sich verraten hatte – und Kíra das in genau diesem Augenblick registrierte. Ihr Puls schnellte in die Höhe, Erics Lippen wurden schmal, Kíra zuckte zusammen, als er ihr ruckartig näher kam, biss sich mit voller Wucht auf die Zunge und bekam einen metallenen Geschmack im Mund. »Warum?«, fragte sie, erstaunt über die plötzliche Ruhe in ihrer Stimme.
»Ich habe sie nicht getötet, falls du das jetzt denkst«, flüsterte Eric. Sein Unterton passte jedoch gar nicht ins Bild. War das etwa Spott? Kíras Blick wanderte panisch durch den Raum und suchte nach einem Fixpunkt, damit sie nicht erneut wegdriftete. Eric beugte sich nun direkt über sie. »Brimir war das, um genau zu sein. Fjallaloft heißt Bergluft. T70.2 ist die Höhenkrankheit.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro