
II
Nach einiger Zeit hörte Kíra jemanden ihren Namen sagen und schnappte zurück in ihren Körper. Erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr sie in verschiedensten Horrorszenarien versunken war. Die Geräusche echoten noch weiterhin in ihrem Kopf; sie fühlte sich wie in einem Film, beinahe so, als würde sie die Szene aus einer fremden Perspektive heraus wahrnehmen.
»Erde an Kíra, hallo?«
Sie kniff die Augen zusammen und begann, langsam wieder ihren Blick zu fokussieren. »He?«
»Alles klar bei dir?«
Es war Eric, der sie vorsichtig grinsend anschaute, während er seine Jacke auszog und an einen der ihm zugeteilten Haken an der Wand hing. Kíra lächelte schief, und ihr Kollege zog eine Augenbraue hoch. »Ich, äh –«, krächzte sie, brach dann aber ab. Ihre Stimmbänder schienen spontan ein Eigenleben entwickelt zu haben und weigerten sich, ihrer Funktion gerecht zu werden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie würgte es wieder herunter. »Wo bist du gewesen?«
Eric nickte mit dem Kopf in Richtung Uhr. »Mittagessen. Ist irgendwas passiert, oder wieso starrst du so apathisch? Wieder zu viel Kaffee?« Er lachte. »Mensch, das haben wir doch schon geklärt.«
Kíra lief ein Schauer über Rücken und Kopfhaut, ein abscheuliches Gefühl. Sie musste hier mindestens fünfundvierzig Minuten so gesessen haben, wie erstarrt, bevor Eric sie aus den Situationen vor ihrem inneren Auge befreite. Sie antwortete nicht, aber Eric ging auch nicht näher darauf ein.
»Ach so, Brimir kommt etwas später wieder, seine Tochter hat Magen-Darm oder so und er holt sie gerade noch von der Schule ab. Von mir aus kann der gleich zu Hause bleiben, eine Pandemie reicht mir fürs Erste.«
Kíra hörte ihm schon nicht mehr zu. »Weißt du, wo Heiðar abgeblieben ist?«
»Die hat doch Urlaub.«
»Echt?«
»Ja.«
»Fuck.«
»Wieso fragst du?«
Eine unsichtbare Faust schlug Kíra in die Magengrube. Zum Glück hatte sie heute Mittag nichts gegessen, andernfalls hätte sie just auf ihre Tastatur erbrochen. »Ich muss mit Ólafur reden, oder Friðrika, oder beiden.«
»Warum das denn jetzt? Sicher, das alles gut ist?«
»Das hab ich nie behauptet, aber ich erzähl's dir noch. Später.«
***
»Du hast was?«
Kurze Zeit darauf starrte Friðrika Kíra mit ihren großen, grünen Glubschaugen an. Erst, als sie der CEO in ihrem hellen, freundlichen Büro den Mitschnitt vorspielte, verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck von Unglauben in Unbehagen. »Das klingt echt richtig übel.«
»Wir sollten die Polizei einschalten«, forderte Kíra. Sie sprach leise, aber bestimmt. »Es ist doch eindeutig, was da passiert ist. Irgendjemand hat da irgendjemanden geknebelt und abgestochen.«
»Das können wir auf keinen Fall tun.«
Kíra schaute auf den Boden und schwieg. So einladend Friðrikas riesige Fenster waren, so ausladend schien Kíra der dunkelgraue Teppich.
»Ich meine, denk doch mal nach! Wie willst du der Polizei erklären, woher wir diese Aufnahme haben? Durch unsere Mitschnitte brechen wir das Gesetz, wir sind dann alle richtig am Arsch, inklusive dir.« Die Vorgesetzte strich sich eine weißblonde Strähne hinters Ohr.
»Dreiundzwanzig Stiche. Ich hab mitgezählt.« Wieder und wieder. Kíra glaubte inzwischen, tanzende Flecken auf dem Läufer erkennen zu können.
»Du darfst mit niemandem darüber sprechen. Das meine ich ernst. Das ist wirklich alles ganz große Scheiße, was dann hier abgeht. Die finden die Leiche schon ohne uns, oder es waren irgendwelche Amis, die murksen sich doch ständig gegenseitig ab, ist doch auch scheißegal, aus welchem Land der Mitschnitt überhaupt kommt.« Friðrika zog den Stick aus dem USB-Port des Computers und warf ihn in ihren Mülleimer. »Richtige Hinweise gibt es darauf eh nicht.«
»Und Ólafur?« Friðrika und Ólafur teilten sich die Geschäftsleitung. Sollte er nicht wenigstens auch Bescheid wissen?
Die CEO atmete tief durch, wirkte fast ein wenig genervt von Kíra, aber dann lächelte sie wieder ihr zahnweißes Friðrika-Lächeln und kam Kíra dabei fast ein wenig zu nahe. »Ich werd's ihm sagen.«
***
Kíra weinte wieder, als sie an diesem Abend auf ihr Fahrrad schwang, um nach Hause zu fahren. Ihre Eltern ließen sie hoffentlich in Ruhe, wenn sie sich mit den Resten von heute Mittag in ihr Zimmer zurückzog.
»Warte mal! Hey!« Eric rief ihr vom Parkplatz aus zu, aber sie schaute nicht zurück, tat so, als hätte sie ihn nicht gehört und trat kräftig in die Pedale.
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